Leserbriefe zur Rezension

Aktualität? Geschichtlichkeit? Neu gelesen?

Oliver Sill über Theodor Fontanes „Romanwelt“

Von Klaus-Peter Möller


Oliver Sill schrieb uns am 08.10.2019
Thema: Klaus-Peter Möller: Aktualität? Geschichtlichkeit? Neu gelesen?

In eigener Sache

"[...] wo dem einen Disteln blühn, blühn dem andern Rosen.”
Theodor Fontane

Wenn das Fontane-Jahr 2019 mit seiner Fülle von Veranstaltungen eines unter Beweis stellt, dann dies: Die Popularität Theodor Fontanes ist ungebrochen. Einerseits können ‘Kreuzfahrten mit Fontane’ auf der Havel gebucht und ‘Birnenfeste auf Schloss Ribbeck’ mit der ganzen Familie besucht werden, andererseits finden Fontane-Akademien in Neuruppin und internationale Kongresse an der Universität Potsdam statt. Das Spektrum von Veranstaltungen aus Anlass seines 200. Geburtstags ist in der Tat weit. Und dabei verdankt sich dieses Nebeneinander höchst unterschiedlicher Veranstaltungen einer Popularität, die eben nicht nur Leser, sondern auch Urlauber anzieht; einer Popularität, die nicht nur Philologen auf den Plan ruft, sondern auch Marketingstrategen und Eventmanager.
Durchstreift man unter dem Stichwort ‘Fontane’ darüber hinaus das weite Spektrum der Neuerscheinungen zum Fontane-Jahr, dann zeigt sich eine ähnliche Tendenz zur Polarisierung. Auf der einen Seite lässt sich mit Fontane reisen, kochen, plaudern & genießen, auf der anderen Seite wächst unaufhörlich die Zahl wissenschaftlicher Aufsätze, Dissertationen, Monographien und Tagungsbände. Unübersehbar ist die große Kluft zwischen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihren Publikationsforen einerseits und den populären Sachbüchern andererseits, denen Fontane allein als Stichwortgeber und Zitatschatz genügt. Während die Beiträge zur Fontane-Forschung allerdings nur von einer überschaubaren Anzahl interessierter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen rezipiert werden, erreichen die populären Sachbücher eine oft erstaunlich große Zahl passionierter Fontane-Anhängerinnen und -Anhänger. Wechselseitig aber nimmt man sich nicht oder kaum zur Kenntnis, zu groß ist die Kluft zwischen den wenigen Spezialisten und den vielen Laien. Eine Brückenfunktion gewinnen in diesem Zusammenhang allenfalls Fontane-Biographien, deren Zahl sich zum Fontane-Jahr um weitere vier erhöht hat. Die gewichtigen Werke von Hans-Dieter Rutsch, Regina Dieterle, Iwan-Michelangelo D’Aprile und Hans Dieter Zimmermann dürften sowohl von der Fontane-Forschung als auch von interessierten Fontane-Leserinnen und -Lesern zur Kenntnis genommen werden. Allerdings gilt dieses Interesse dem Leben Fontanes und der Geschichte des 19. Jahrhunderts. Zum literarischen Werk Fontanes selbst in seiner ästhetischen Komplexität bieten diese Biographien nur wenige Hinweise.
Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten: So vielfältig das Spektrum der Neuerscheinungen rund um Fontane auch erscheinen mag, es existieren nur wenige Arbeiten, die sich gezielt richten an die große Zahl engagierter Fontane-Leserinnen und -Leser, denen es nicht genügt, mit Fontane zu reisen oder zu kochen, die aber auch kein Interesse haben an wissenschaftlichen Diskursen und Kontroversen. Ich spreche von der großen Zahl Lesender, die oftmals in privaten oder öffentlichen Lesekreisen organisiert sind, die sich wiederfinden in Volkshochschulkursen und Vorlesungen im Rahmen des Studiums im Alter, die durchaus interessiert sind an einer vertieften Textkenntnis, die sich offen zeigen für literaturwissenschaftlich gelenkte Verfahren etwa zur Erzähltextanalyse, die allerdings nicht gewillt sind oder sich überfordert sehen durch methodisch und methodologisch fundierte Forschungskontroversen mit ihrem oftmals abschreckend wirkenden terminologischen Aufwand. Es sind die literarischen Texte selbst, die für diese Leserinnen und Leser von Interesse sind, und nicht methodische Vorentscheidungen bzw. methodologische Grundsatzentscheidungen im Horizont von Funktionalismus, Strukturalismus und Hermeneutik, von Dekonstruktion und Konstruktivismus, von Diskursanalyse, Systemtheorie und Gender Studies mit ihren oft gegeneinander abgegrenzten Fachbegriffen.
Versuche, das legitime Interesse dieser Leserinnen und Leser zu bedienen, sind mit Blick auf Fontane beinahe an einer Hand abzuzählen. Von akademisch-wissenschaftlicher Seite aus versucht Katharina Grätz, Professorin in Freiburg, dieses Vakuum zu füllen: mit ihrer als Reclam Taschenbuch erschienenen Einführung Alles kommt auf die Beleuchtung an: Theodor Fontane - Leben und Werk (2015). Mit Erleichterung nimmt ein Rezensent bei Amazon zur Kenntnis, dass Grätz in ihrer “Übersichtsdarstellung” darauf verzichtet, “terminologische Schwerathletik” zu betreiben oder den Leser mit “fachlichen Kontroversen zu behelligen”. Auf der anderen Seite wäre etwa Burkhard Spinnen zu nennen, der sich Fontanes Prosawerk aus literarisch-essayistischer Seite anzunähern versucht. Spinnen verzichtet vollständig darauf, aus den Werken Fontanes wörtlich zu zitieren. Er erzählt statt dessen nach und präsentiert unter dem Titel Und alles ohne Liebe. Theodor Fontanes zeitlose Heldinnen (2019) seine Lesart der Romane Theodor Fontanes - stets in dem Bemühen, dem Werk des großen Klassikers eine Aktualität abzugewinnen, die es - seiner Ansicht nach - auch dringend benötigt, wenn es überhaupt noch gelingen soll, das Interesse heutiger Schüler für Theodor Fontane zu wecken.
Mit meinem Buch Theodor Fontane - neu gelesen. Aktualität und Geschichtlichkeit eines Klassikers (2019) habe ich versucht, einen mittleren Weg zwischen wissenschaftlicher Abhandlung und Essayistik einzuschlagen. Im Bemühen um größere Textnähe, als dies bei Burkhard Spinnen der Fall ist, zitiere ich aus den Romanen, Erzählungen und Novellen Theodor Fontanes, knüpfe daran meine Beobachtungen zu verschiedenen Themenkomplexen, zur Leitmotivik und zur Erzählstruktur, um auf diese Weise den Fontane-Lesern den einen oder anderen Schlüssel zu liefern für ein besseres Verständnis dessen, was man die Romanwelt Theodor Fontanes nennen könnte. Üblicherweise werden die Fontane-Texte je einzeln abgehandelt. Mir hingegen ging es darum, den Blick primär zu richten auf die textübergreifenden Korrespondenzen zwischen den Werken, um sie letztlich als ein großes Textganzes zu begreifen. Was im wissenschaftlichen Diskurs seit langem unter dem Stichwort ‘Intertextualität’ bekannt ist, erfordert eine genaue Parallellektüre, die allerdings für die meisten Leserinnen und Leser Theodor Fontanes ein doch eher ungewöhnliches, auch anspruchsvolles Verfahren bedeutet. Denn es kommt darauf an, im Ähnlichen die Unterschiede zu erkennen. Dass es mir mit diesem Buch nicht darum ging, die Fontane-Forschung mit neuen Erkenntnissen zu bereichern, zeigt bereits mein Verzicht auf sämtliche wissenschaftlichen Gepflogenheiten und Verfahrensweisen. Wohl wissend, dass die Fontane-Forschung in ihrer langen Geschichte mit ihren wechselnden methodologischen Paradigmen eine kaum mehr überschaubare Fülle wertvoller Beiträge bereithält, sollte - für diesmal - nicht sie im Vordergrund stehen, sondern die Fontane-Texte selbst. Lediglich die von Helmuth Nürnberger verantworteten Anhänge in den dtv-Taschenbuchausgaben wurden von mir als Orientierungshilfe herangezogen - nicht zuletzt deshalb, weil sie mit ihren verständlich geschriebenen Hinweisen zur Entstehung, ihrer Auswahl an Briefzeugnissen, ihren Anmerkungen und ihrem jeweiligen Nachwort auch den Laien unter den Fontane-Lesern eine erste Tuchfühlung mit dem erlauben, was ‘Philologie’ bedeutet.
In einem Brief vom 3. April 1879 berichtet Theodor Fontane dem Herausgeber von Westermanns Monatesheften, Gustav Karpeles, von seinen Plänen für einen neuen “Zeitroman”, der den Titel Allerlei Glück erhalten sollte. Den Grundgedanken dieses letztlich Fragment gebliebenen Projekts fasst Fontane folgendermaßen in Worte: “es gibt vielerlei Glück, und wo dem einen Disteln blühn, blühn dem andern Rosen.” Mit ‘Rosen und Disteln’ lassen sich auch die ersten Reaktionen auf mein Fontane-Buch charakterisieren.
In seinem bei Amazon eingestellten Kommentar hebt Wolfgang Wabersky vom Bocholter Fontane-Kreis hervor, die ungewöhnliche Vorgehensweise führe “zu mehr als interessanten Erkenntnissen” - gerade für Leser, die sich nicht professionell mit Fontane beschäftigten, sondern “immer nur sporadisch und über lange Zeiträume verteilt mit Fontanes Werk befassen” könnten. Allerdings gibt Wabersky auch zu bedenken, dass “die sehr detailliert ausgeleuchteten Textbeispiele” doch eher jene Leserinnen und Leser anspreche, “die sich bereits etwas in Fontanes Romanwelt eingelesen haben”.
Klaus-Peter Möller, Archivar im Potsdamer Fontane-Archiv, vermag dagegen in seiner Besprechung meines Buches im Rezensionsforum literaturkritik.de keinerlei Rosen zu erblicken. Er sieht nichts anderes als Disteln. Die durch den Titel ausgelöste Erwartungshaltung werde “enttäuscht”; über “die Aktualität von Fontanes Werk” erfahre man “nichts”. “Insgesamt”, so das Fazit, sei das Buch “unbrauchbar”. - Mich erstaunt die Vehemenz, mit der sich Möller dazu aufgerufen fühlt, meine Annäherung an Fontanes Prosawerk zu diskreditieren. Da werden Aussagen von mir, angelehnt auch an Wolfgang Hädeckes Fontane-Biographie (1998), als “barer Unsinn” abgetan. An anderer Stelle werden Sätze aus ihrer argumentativen Verankerung herausgelöst und in der Absicht zitiert, sie als naiv-rührseligen Quatsch bloßzustellen. Und selbst vor eher geschmacklosen Spekulationen schreckt Klaus-Peter Möller in seinem Eifer nicht zurück: “Sills Buch ist eine Hommage an Helmuth Nürnberger, der 2017 verstorben ist und der sich diese Vereinnahmung vielleicht verbeten hätte.”
In einem Punkt pflichte ich dem Rezensenten allerdings ausdrücklich bei. “Eine wissenschaftliche Studie”, so Möller, sei “diese Abhandlung [...] nicht.” Wissenschaftlichkeit aber scheint das einzige Kriterium zu sein, das Möller bei der Beschäftigung mit Fontane gelten lassen kann. Auf einem Blatt mit der Überschrift Die Brüder Brose finden sich bereits ausgeführte Dialogsequenzen, die Fontane in den geplanten Roman Allerlei Glück zu integrieren gedachte. Dort heißt es: “Ich bitte dich, Eduard! Ziehe nicht die großen Register, besteige nicht dein Turnierpferd höherer Wissenschaftlichkeit und Erkenntnis.” Von solch hohem Ross aus zieht nun auch Möller zu Felde - und vermisst so ziemlich alles. Das literarische Prosawerk Fontanes als Bezugsrahmen meiner Ausführungen genügt ihm jedenfalls nicht. Er vermisst den Einbezug der “kleineren Prosa-Arbeiten” Fontanes ebenso wie “die Fragment gebliebenen Entwürfe”; er vermisst “Reflexe auf zeitgenössische Diskurse oder wissenschaftliche Diskurs-Analysen”. Und schließlich vermisst er auch den Einbezug zweifellos relevanter “Bezugsgrößen” wie Henrik Ibsen, August Strindberg, Frank Wedekind, Gustave Flaubert oder Émile Zola. Um noch einmal Fontanes Blatt Die Brüder Brose zu zitieren: Es ist “der reine Gelehrten-Hochmut”, der nicht einmal ansatzweise begreifen kann, dass es neben der Forschung zahlreiche Fontane-Leserinnen und -Leser gibt, die sich von einer solchen Lektüre keine neuen Forschungsergebnisse erhoffen, sondern lediglich Impulse für die eigene Beschäftigung mit dem Werk Theodor Fontanes.
Und noch eine letzte Anmerkung: Gerade ein Archivar sollte wenigstens in der Lage sein, Namen richtig wiederzugeben. Bei Möller aber heißt Zola mit Vornamen Èmile und nicht Émile. Ich wiederum heiße mal Sill, dann Still und schließlich wieder Sill. Die korrekte Wiedergabe von Namen ist für mich nicht nur Ausdruck gebotener Sorgfalt, sondern auch eine Frage des Respekts und der Höflichkeit. Aber auf solche ‘Kleinigkeiten’ kommt es offenbar nicht an, wenn es gilt, sich als ‘Verteidiger der Wissenschaft’ zu profilieren.


Redaktion literaturkritik.de schrieb uns am 08.10.2019 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Klaus-Peter Möller: Aktualität? Geschichtlichkeit? Neu gelesen?

Die beim Redigieren des Beitrags von Klaus-Peter Möller übersehenen Fehler bei den beiden Namen, die der Leserbrief von Oliver Sill moniert, hat die Redaktion inzwischen korrigiert. Wir sind für solche Hinweise immer dankbar.