Leserbriefe zur Rezension

Georg Büchners dramatische Lehre vom ganzen Menschen

„Woyzeck“ als ästhetischer Kommentar zu Entwicklungen in Psychiatrie, Medizin, Wissenschaft, Militär und Justiz

Von Marion Schmaus


Christian Milz schrieb uns am 11.08.2025
Thema: Marion Schmaus: Georg Büchners dramatische Lehre vom ganzen Menschen

Georg Büchners nachgelassene Handschriftenentwürfe sind ursprünglich Fragmente. Und zwar nicht nur infolge des Ableben des Autors, sondern zwei Handschriftenentwürfe werden während des Schreibprozesses abgebrochen, zwei weitere Szenen stehen isoliert im Raum, nur den letzten Entwurf wird dem Autor durch den Tod aus den Händen genommen. Würde man, wie in der Kunstgeschichte üblich, den Status des Werkes als Fragment respektieren, also nach den inneren Gründen für den schöpferischen Akt und dessen Probleme fragen, dann bekäme man schnell heraus, dass Büchner keine "Lehre von dem ganzen Menschen entwirft", sondern allenfalls danach sucht - und das ästhetisch über den zutiefst in sich zerrissenen und fragwürdigen Menschen. Nichts, aber auch gar nichts in den Handschriftenentwürfen ist "ganz", Figurennamen sind unvollständig und wechseln, Handlungsimpulse nicht motiviert, Szenerien in sich widersprüchlich, Personen treten aus dem Nichts auf, Bruchstücke allenthalben. Deswegen empfinden wir den "Woyzeck" übrigens als außerordentlich modern und nicht zuletzt deswegen, wegen dieser durchbrochenen Form die höchst kunstvoll auf höherer Ebene kompensiert wird, hat das Werk Weltrang.
Die (gängige) Lesart des Woyzeck-Dramas als "ästhetischer Kommentar zu den Entwicklungen in Psychiatrie, Medizin, Wissenschaft, Militär und Justiz" widerspricht jeglicher Logik der Gattung Drama als unmittelbar eindrückliches Bühnenstück und bezieht sich ausschließlich auf einen historisch-stofflichen Aspekt, der aus ästhetisch-formalem Blickwinkel freilich nebensächlich ist - und nicht nur das, sondern ihn auch noch konterkariert. Denn Büchner dramatisiert die Hinrichtung des weiblichen Opfers, nicht die Entlastung des männlichen Täters. Bzw. erfolgt die Entlastung genau genommen gerade durch diese Hinrichtung, und das erfordert die Form der Hinrichtung zu analysieren d.h. die verborgene Beziehung zwischen Opfer und Täter zu klären. Das führt indessen in Richtung des zeitgenössischen Inzestdiskurses, den die Literaturwissenschaft systematisch ausblendet.