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Günter Rinke schrieb uns am 04.09.2024
Thema: Gertrud Nunner-Winkler: Weltverlust oder Realitätsgewinn? In ihrem Band „Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung“ präsentiert Alexandra Schauer eine komplexe Integration zeitgenössischer Gesellschaftsanalysen
Diese höchst informative, fundierte, zu eigenem Nach- und Weiterdenken anregende Rezension habe ich mit Gewinn gelesen.
Herzlichen Dank dafür!
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Rolf Löchel schrieb uns am 02.07.2024
Thema: Kein Platz für Antisemitismus an Hochschulen!
Heute wurde auf der Seite https://profs-against-antisemitism.de die von deutschen ProfessorInnen verfasste Erklärung "Kein Platz für Antisemitismus an Hochschulen!" veröffentlicht. Für den Fall, dass sich jemand aus dem Kreis professoraler AutorInnen und LeserInnen von literaturkritik.de anschließen möchte, sei darauf hingewiesen, dass die Seite die Möglichkeit dazu bietet.
Rolf Löchel
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Klaus Müller-Salget schrieb uns am 19.06.2024
Thema: Manfred Orlick: Auf den Spuren von Heinrich von Kleist in Berlin Milena Rolka widmet sich in dem neuen Heft 74 der „Frankfurter Buntbücher“ den Berlin-Aufenthalten des Dichters
Selten habe ich eine so fehlerhafte und oberflächliche "Rezension" gelesen.
Dass Kleist erstmals im August 1800 nach Berlin gekommen sei, ist schlicht falsch. Er war dort bereits von Januar bis Mai 1788. Falsch ist auch die Behauptung, zu seinen Berlin-Aufenthalten 1800/1801 gebe es "nur vage Hinweise und wenige Quellen". Bei Wieland wohnte Kleist erst ab Januar 1803, und zwar in Oßmannstedt. Er wurde 1807 nicht in Besancon inhaftiert, sondern auf dem Fort Joux. Der "Phöbus" ist zwar nominell von Januar bis Dezember 1808 erschienen, tatsächlich aber, mit Unterbrechungen, von Januar 1808 bis März 1809. "in Österreich und Prag" klingt ja putzig: Prag gehörte damals zu Österreich.-
Wenn das Büchlein von Frau Rolka dem entspricht, was diese "Rezension" vermuten lässt, dann kann man es wohl vergessen. Ich empfehle eine Lektüre des fundierten Buchs "Kleists Berliner Aufenthalte" von Horst Häker (Berlin 1989).
Ps. am 2.7.2024: Nachdem ich das Büchlein von Milena Rolka durchgesehen habe, ergibt sich: Alles, was ich kritisiert habe, geht NICHT auf das Konto von Frau Rolka, sondern auf das des Rezensenten. Das ist gegenüber einer jungen Autorin denn doch einigermaßen verantwortungslos.
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Petra Pleschinger schrieb uns am 04.06.2024
Thema: Manfred Orlick: Auf den Spuren von Heinrich von Kleist in Berlin Milena Rolka widmet sich in dem neuen Heft 74 der „Frankfurter Buntbücher“ den Berlin-Aufenthalten des Dichters
Ist das eine Rezension?
Ich bitte um Entschuldigung für diese, meine simple Frage.
Petra Pleschinger
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Christian Kohlross schrieb uns am 15.05.2024
Thema: Jan Süselbeck: Der dröhnende Klang der Abrissbirne Über die globale Krise der Germanistik und die Frage, was das Fach in Deutschland von den German Studies in Nordamerika lernen könnte
Totgesagte leben länger – Eine Replik auf Jan Süselbeck
Die Germanistik, also die Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur ist ein eigentlich unmögliches Unterfangen. Davon künden hierzulande nicht erst sinkende Studierendenzahlen und im Ausland die grassierende Abwicklung teils etablierter German Departments, nein, davon kündet auch ein Genre, das so nur die Germanistik kennt, nennen wir es die Germanistische Dystopie. Exemplare dieser Gattung sind von Germanisten und Germanistinnen verfasste Texte, Reden, Essays, in denen sie sich fortwährend der Unmöglichkeit des eigenen Tuns bezichtigen. Ins Leben gerufen – erfunden wurde dieses wissenschaftliche Genre im 19. Jahrhundert, als – Stichwort: Nibelungenstreit – die Auseinandersetzung um eine historisierend esoterische oder eine zeitgemäß-exoterische philologische Praxis die gerade erst im Entstehen begriffene Wissenschaft in einen tiefen, schnell chronifizierten Zweifel am eigenen Tun stürzte. Zu diesem Genre, das gerade angelegentlich germanistischer Großveranstaltungen wie dem Deutschen Germanistinnentag oder der jährlichen Konferenz der German Studies Association in den USA sich wiederkehrender Beliebtheit erfreut, hat nun auch der in Trondheim lehrende Germanist Jan Süselbeck mit gebotener Verve auf literaturkritik.de einen höchst lesenswerten Beitrag geleistet – unter dem dysphemistischen und hierin dem Ernst der Lage durchaus angemessenen Titel Der dröhnende Klang der Abrissbirne. Über die globale Krise der Germanistik und die Frage, was das Fach in Deutschland von den German Studies in Nordamerika lernen könnte. Süselbecks Diagnose: Nicht zu wenig, zu viel Germanistik sei das Problem, zumal im Ausland, wo nicht nur immer weniger Goethe und Celan, sondern überhaupt immer weniger auf Deutsch gelehrt oder auch nur Deutsch gelesen werde – und wenn, dann auch eher immer weniger Goethe oder Celan. Der Abrissbirne, soll heißen der Entlassung der Lehrenden, dem Schließen von Departments, dem zunehmenden Desinteresse der Studentinnen entgegenzuwirken, so Süselbecks Fazit, lasse sich nicht mit einer esoterischen – sagen wir: auf Goethe und Celan setzenden Germanistik, wie sie in Deutschland immer noch praktiziert werde, sondern nur mit einer konsequent exoterischen, kulturwissenschaftlich interdisziplinär ausgerichteten Germanistik, deren Diskurse anschließbar seien an die Race-Class-Gender-Perspektiven anderer Disziplinen, die, wo es darauf ankommt, bereitwillig fröhliche Hochzeiten mit den Jewish Studies feiert, wenn sie sich nicht gar die Freiheit nimmt und kurzerhand zu den Black German Studies mutiert, um so den exoterischen, nicht selten exzentrischen Interessen einer Studentenschaft Rechnung zu tragen, die (wie die Wissenschaftsmanager in Politik und Hochschule) mit den heiligen Texten der traditionellen Germanistik immer weniger anzufangen weiß.
“Die Germanistik ist tot”, so Süselbecks Fazit: “Es lebe die Vielfalt der German Studies.”
Lesenswert und anregend ist Süselbecks Beitrag nun natürlich nicht, weil er zustimmungspflichtig wäre, sondern weil er zum Widerspruch provoziert. Leider! Denn wenn Süselbeck Recht hätte und die Vielfalt der amerikanischen German Studies auch der deutschen Inlandsgermanistik zum Vorbild gereichen würde, dann gäbe es zuletzt so etwas wie einen Ausweg aus der nicht enden wollenden Krise der Germanistik. Die Gattung der germanistischen Dystopie hätte sich endlich überlebt. – Und wie schön wäre das?
Indes, der Umstand, dass auch in den USA die sich zu Geschichtswissenschaften, Soziologie, Politik-, Film- und Medienwissenschaften sowie den Gender Studies öffnenden German Studies vor der in den Humanities wütenden Abrissbirne keineswegs geschützt sind, obwohl gerade in den USA die Öffnung des Faches, die Transformation der Germanistik zur Kulturwissenschaft bereits vor zwanzig Jahren ihren Anfang nahm, lässt, die zahlreichen von Süselbeck selbst namhaften gemachten Institutsschließungen in den USA, Kanada und Großbritannien sprechen da ihre ganz eigene Sprache, nichts Gutes hoffen. Und die Gründe dafür liegen auf der Hand:
(1.) Die Wissenschaft von der deutschen Literatur – und Sprache verdankte lange Zeit einen Gutteil ihrer akademischen Daseinsberechtigung dem Umstand, dass das Deutsche, und sei es auch nur dem eigenen Anspruch nach, neben dem Englischen, Französischen und Spanischen eine Welt-, und wo in den letzten Jahrzehnten schon keine Welt-, so doch noch eine bedeutende Wissenschaftssprache war. Dies aber hat sich, seitdem das Englische alle ehedem an das Esperanto geknüpften Hoffnungen erfüllt und sich als Lingua Franca etabliert hat, grundlegend geändert. In der globalisierten Welt muss einer nicht mehr viele Sprachen beherrschen, es genügt das Englische zu beherrschen, um sich über geographische, kulturelle wie auch wissenschaftlich- disziplinäre Grenzen hinweg verständigen zu können. Wie auf allen anderen Philologien – mit Ausnahme von Anglistik und Amerikanistik – lastet auch auf der Germanistik der Umstand, dass ihr Gegenstand eine Sprache ist, die im Zeitalter der Globalisierung zu beherrschen für Hochschul- abgängerinnenen ein immer entbehrlicherer Wettbewerbsvorteil ist.
(2.) Bislang aber half der Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur dabei noch der, sagen wir: zivilreligiöse Glaube an die Literatur, der auch, wenn er den Ungläubigen immer schon als eine Kunstreligion erschien, der sie mit Unverständnis begegneten, doch die Aura und Anziehungskraft des literarischen Kanons unberührt ließ, dem anders als mit Ehrfurcht zu begegnen sich auch die Ungläubigen nicht leisten konnten .
Genau das aber hat sich geändert! Heute muss keiner, der Goethe nie gelesen hat und Celan nicht kennt, ernsthafte Einbußen des Sozialprestiges mehr befürchten, nicht einmal unter Germanistinnen. Und niemand, der German Studies im Ausland studiert hat, muss in der Lage sein, Kant, Marx oder Freud auf Deutsch zu lesen oder auch nur in seine Muttersprache übersetzen zu können. Wie das Latein Ovids oder das klassische Griechisch des Sophokles verwandelt sich auch das Deutsch Goethes oder Celans jenseits des akademischen Betriebs folgerichtig in eine tote Sprache, die nur den Wenigsten noch geläufig ist. Wie die Klassiker der antiken, so rücken auch die Klassiker der neueren deutschen Literatur allmählich in eine Ferne, die nur die Wenigsten zu überbrücken noch in der Lage oder auch nur willens sind. Diesen Unwillen mag man beklagen und einer nachwachsenden Generation als opportune Anpassungsleistung an einen pragmatisierten, durchökonomisierten und profanisierten Zeitgeist zur Last legen, indes, der Verdacht liegt nahe, dass die Jüngeren von der Vergangenheit nun nicht einmal mehr erwarten, was die Älteren in ihr nicht gefunden haben: ein auch heute noch belastbares Wissen, eine Weisheit, die den Wandel der Zeiten überdauert. Diesen Verdacht gegenüber dem historischen Bewusstsein, das sich einst im 19. Jahrhundert mit dem Versprechen Gehör und Geltung verschaffte, die Gegenwart mit Hilfe des Vergangenen zu verstehen, sei es den Millenials, der Generation Z oder den Universitätsmanagerinnen und Bildungspolitikern unserer Tage als Ignoranz und Opportunismus vorzuhalten ist, um das Mindeste zu sagen, selbstgerecht und unhistorisch. Man will nur nicht wahrhaben, dass das historische Bewusstsein selbst in die Jahre gekommen ist und einem grundstürzenden Wandel unterliegt. Begriffe wie kollektives Gedächtnis oder Erinnerungskultur sind eben schon nicht mehr die Leitbegriffe einer Zeit, der die Zukunft mehr zählt als die Vergangenheit und die nicht mehr Gegenwärtiges vorrangig an dem bemisst, was es einmal war, sondern an dem, was es seiner Möglichkeit nach in der Zukunft sein könnte. Aber nicht nur das Gegenwärtige, auch das in der Erinnerungskultur Erinnerte – das Vergangene wird heute nicht als Vergangenes, um seiner selbst willen, sondern als Vorbote eines Zukünftigen, wenn nicht gar als etwas, aus dem für die Zukunft Lehren zu ziehen seien, genommen. Der Verlust der Strahlkraft des literarischen Kanons, die Auflösung seiner Aura ist so nahezu unausweichlich – die Folge der Veränderung des historischen Bewusstseins, die eine zu weiten Teilen historische Wissenschaft, wie es die Germanistik ist, wie selbstverständlich in Mitleidenschaft ziehen muss.
Die Krise der Germanistik, heißt das, ist heute immer auch Symptom und Folge einer anderen Krise – der des historischen Bewusstseins. Dessen Aufgabe war es einmal, Gegegenwärtiges durch den Blick auf Vergangenes zu relativieren. Doch um Gegenwärtiges zu relativieren ist die historische Perspektive heute ebenso entbehrlich geworden wie der literarische Kanon; an deren Stelle halten nun Internet und soziale Medien eine schier endlose Vielheit von Perspektiven verfügbar und beschränken eben dadurch die Geltung einer jeden einzelnen von ihnen.
(3.) Das Gegenwärtige wie eben auch das Vergangene im Lichte eines zukünftig Möglichen zu sehen heißt dabei heute bekanntlich vor allem, es im Horizont von Machbarkeit und Nützlichkeit zu sehen. Und auch hier stößt das Interesse an einer Literatur, die gerade nicht nützlich, sondern, wo nicht “Sand ... im Getriebe der Welt” (G. Eich), so doch entschieden eigensinnig sein und ihren eigenen Sinn setzen und verfolgen möchte, schnell an seine Grenzen. Fragen wie >Was sagt Celan zum Klimawandel? < oder >Thematisiert Goethe im Faust nicht bereits Globalisierung und künstliche Intelligenz?< lassen sich zwar stellen, aber wesentlich Neues zu Klimawandel, Globalisierung und künstlicher Intelligenz sollte man sich dabei lieber nicht erwarten. Wie auch? Um solches Sachwissen war und ist es der Literatur kaum je zu tun. Erkenntnis – ohne Interesse aber war für das in Bildungs- und Forschungsstätten institutionalisierte historische Bewusstsein niemals eine wirkliche Option. Erkenntnis musste und sollte stets Sinn machen, das heißt Zwecken dienen, die sich über Funktionszusammenhänge legitimieren ließen. Ein Wissen, das dies nicht erlaubte, wurde schnell und ist heute längst obsolet. Das Vergangene um des Vergangenen willen zu studieren, das Zweckmäßige von Zwecken zu befreien, wem käme das heute noch in den Sinn? In einer Zeit der Krisen, der beständigen Bedrohung scheint das Sich-Versenken in ein Vergangenes wie ein Luxus, den sich niemand mehr zu leisten wagt.
Um diese Frage nach dem Nutzen der Beschäftigung mit deutscher Literatur und Sprache gerade nicht stellen zu müssen, kann man ihr, sekundiert vom allenfalls noch oberflächlichen Interesse einer breiten Mehrheit an esoterischer Höhenkammliteratur ausweichen und, wie das die German Studies in den USA tun, immer mehr Gegenstände mit teils nur noch vagem Bezug zu deutscher Literatur und Sprache zum Gegenstand von Forschung und Lehre machen. Dass dieses, nennen wir es: auslandsgermanistische oder amerikanische Modell der German Studies gerade kein Vorbild einer deutschen Inlandsgermanistik sein kann, hängt zuerst damit zusammen, dass es keines der genannten Probleme – Marginalisierung des Deutschen als Weltsprache, Relevanzverlust des Kanons als Symptom der Krise des historischen Bewusstseins sowie die Irrelevanz philologischen Wissens im Funktions- und Kommunikationszusammenhang kapitalistisch effizienzorientierter Gesellschaften – zu lösen vermag. Sodann aber taugt die Integration immer weiterer Disziplinen und Forschungsgegenstände der Inlandsgermanistik hierzulande auch deshalb nicht zum Vorbild, weil etwa deutsche Geschichte, Kunst, Philosophie und Sozialwissenschaften an deutschen Hochschulen schlicht unter andere, nicht-germanistische Zuständigkeiten fallen und z.B. von Historikern, Kunsthistorikerinnen, Philosophen oder Soziologinnen beforscht und unterrichtet werden. Es ist die institutionell bedingte Spezialisierung, die fachliche Zuständigkeit, die hier ein Unterschied ist, der einen Unterschied macht. Natürlich lassen sich gleichwohl auch an deutschen Hochschulen Forschungsgegenstände finden, die – wie im Falle von Antisemitismus, Kolonialisierung oder Genderfragestellungen – wie natürlich in den Zuständigkeitsbereich mehrerer Wissenschaften fallen – nur sind sie gerade deshalb auch keine Gegenstände, an denen die Germanistik ihr Profil schärfen könnte. Ihre philologische Perspektive bleibt im interdisziplinären Zusammenhang nur eine unter mehreren, prinzipiell gleichberechtigten Perspektiven und gerade keine ausgezeichnete.
(4.) Die Inlandsgermanistik hat aus all diesen Gründen hierzulande auch nicht an der Universität, sondern an der Schule ihren pragmatisch-institutionellen Halt. Der Beruf, den Germanistinnen typischerweise ergreifen und für den sie an den Universitäten ausgebildet werden, ist derjenige der Deutschlehrerin.
Doch unterliegt auch das Fach Deutsch an Schulen in Deutschland seit der ersten Pisastudie vor rund zwanzig Jahren einem grundlegenden Wandel. Nicht mehr die Vermittlung von Wissen über die klassischen Gegenstände der Germanistik: deutsche Literatur und Sprache stehen seither im Zentrum des Deutschunterrichts, sondern der handelnde, produktions- und projektorientierte Umgang – das Schreiben, Umschreiben und Inszenieren von Texten – kurz, die Vermittlung von Lese-, Schreib- und Redekompetenzen.
Pragmatisiert und legitimiert sich also die amerikanische Germanistik durch die Öffnung und Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs, in der Hoffnung an andere Diskurse anschließbar zu sein, sucht die Inlandsgermanistik ihre Daseinsberechtigung in ihrer Didaktisierung – darin, dass sie zum Propädeutikum eines Deutschunterrichts wird, in dem das Wissen um Deutsche
(Höhenkamm-)Literatur und das Wissen um die deutsche Sprache und ihre Geschichte nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Man kann diese Entwicklung unterschiedlich bewerten, doch dabei kaum noch einer sich mit ihr aufdrängenden Frage ausweichen, nämlich der, ob wirklich Germanistik studiert haben muss, wer in der in Primar- oder Sekundarstufe Deutsch unterrichtet – und nicht ebenso gut, sagen wir: Vergleichende Literatur- oder Allgemeine Sprachwissenschaft, Medienwissenschaften, Publizistik, Theaterwissenschaften oder Altphilologie studiert haben könnte. Schließlich geht es ja nicht mehr, wie im Horizont der Nationalphilologie, um die Vermittlung eines spezifischen gemeinschaftsbildenden literaturhistorischen oder linguistischen Wissens, sondern um die Vermittlung von Lese-, Schreib- und Diskurskompetenzen an eine zunehmend multilinguale Schülerschaft, deren Muttersprache vielfach schon gar nicht mehr das Deutsche ist. Hier kündigt sich eine Entwicklung an, die die Natur- und Technikwissenschaften längst erreicht hat: Der traditionelle Schulfächerkanon spiegelt die disziplinäre Struktur des Wissenschaftssystems des 19. Jahrhunderts in Zuschnitt und Aufteilung seiner Fächer noch heute wieder; an deutschen Gymnasien des 21. Jahrhunderts wird unterrichtet, was sich an Universitäten des 19. Jahrhunderts als Disziplin etablieren konnte. Innerhalb des naturwissenschaftlich- technischen Fachbereichs hat man sich daher längst gefragt: Wie zeitgemäß ist das noch? – Und in der Konsequenz damit begonnen, mathematisch, naturwissenschaftliche und technische Lehrinhalte im Fachbereich MINT zusammenzufassen. Sobald auch der Deutschunterricht von dieser Entwicklung erfasst wird, wird Deutsch zusammen mit anderen philologischen, geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern zusammen unterrichtet werden – vielleicht unter dem Label: Humanities. Spätestens dann, so steht zu vermuten, wird das Fach Deutsch seine Sonderstellung auch an deutschen Schulen verlieren – und mit ihm auch die Inlandsgermanistik ihre besondere Daseinsberechtigung an Universitäten hierzulande.
Machen wir uns deshalb nichts vor: das Schicksal der Germanistik als Orchideenwissenschaft ist längst besiegelt. So sinnlos es ist, gegen das Schwinden der Anziehungskraft des literarischen Kanons oder die Marginalisierung des Deutschen aufzubegehren, so vergeblich ist es, dem historischen Augenblick, in dem die Germanistik Massenfach war, nachzutrauern. Sie wird in nicht allzu ferner Zukunft auch im Inland mit Orchideenfächern wie der Niederlandistik, Biophysik, Judaistik oder Ägyptologie konkurrieren. Doch muss das ein Nachteil sein? Nicht, wenn man endlich aufhört, die Relevanz eines Faches an der Zahl seiner Studierenden zu messen. – Aber woran sonst sollte man sie messen, die Relevanz eines Faches? Nun, ein Orchideenfach wie die Ägyptologie, das Werk des jüngst verstorbenen Ägyptologen Jan Assman mag auch der Germanistik zum Vorbild gereichen – nämlich dafür, was es heißt, mit einem Mal Stichwortgeber gesellschaftlicher Debatten zu sein und aus einer eher randständigen Wissenschaft heraus Leitbegriffe und Paradigmen (wie kollektives Gedächtnis, Erinnerungskultur, Mono- versus Polytheismus) zu entwickeln, die sich andere Fachgebiete zu eigen machen, um nunmehr ihre eigenen Forschung daran zu überprüfen. Wichtig dabei ist: Assmans Öffnung der Ägyptologie geschah nicht auf Kosten des ägyptologischen Kerngeschäfts. Seine Ausgrabungen in Theben, seine Arbeiten zur altägyptischen Hymnik, zu Zeit und Ewigkeit im alten Ägypten sind bis heute nicht massentauglich – aber sie bilden die Voraussetzung für die Breitenwirkung, die er mit seiner Arbeit entfalten konnte. Es ist gerade die Versenkung ins Besondere, die Verallgemeinerung erlaubt.
Und so bleibt am Ende, da wir gerade erleben, wie aus dem Massenfach Germanistik ein Orchideenfach wird, nicht weniger als der feste Glaube daran, dass – Totgesagte leben länger – auch der Germanistik gelingen kann, was bisweilen Orchideenfächern gelingt, nämlich die Erneuerung des Faches aus diesem selbst heraus und so in der Zukunft die wegweisenden germanistischen Arbeiten aus der Versenkung in die Geschichte der deutschen Literatur und Sprache hervorgehen werden – und also nicht die Germanistik am Ende ist, sondern nur das Genre, das ihr Ende immerzu herbeiredet.
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Günther M. Doliwa schrieb uns am 08.05.2024
Thema: Redaktion literaturkritik.de: Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant: Hinweise auch aus dem Archiv von literaturkritik.de
Eine längere Ergänzung zu den Hinweisen der Redaktion literaturkritik.de zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant
KANT, IMMANUEL (1724-1804) - Verliebt in Metaphysik
© Essay von Günther M. Doliwa, 5. Mai 2024
Was kann ich wissen?
Ich bin gespannt auf Kant. War er nun ein Pedant? Er war pünktlich, gewissenhaft. Ein Uhrwerk. Um fünf Uhr lässt er sich aufwecken; um zehn Uhr abends geht er schlafen. Zum Frühstück zwei Tassen Tee und eine Tabakspfeife. Weil er wähnt, Licht würde die Wanzen vermehren, lässt er die Fensterläden schließen. Er besteht auf seine „vom Verhängnis zugemessene Portion Schlaf“. Sein Diener heißt nicht zufällig Lampe. Weil ihn ein Hahn vom Nachbarn stört, wechselt er die Wohnung; kaum umgezogen, nervt ihn das Absingen geistlicher Lieder im Gefängnis nebenan. Zufriedenheit ist unerreichbar! Rätselhaft ironisch seine Physiognomie: klein und dürr mit großer Seele. Verkrümmt mit aufrechtem Gang, zwanghaft hypochondrisch, doch gesellig, leise herzlich im Humor. „Allein zu essen ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund.“ Er schraubt sein Hirn in lichte Höhen, lässt sich nicht hinhalten durch „Missverstand“. Mit der Kritik, wie ist überhaupt Erkenntnis möglich, setzt der 57-Jährige 1781 einen Meilenstein der Philosophie; später (1788), wie Entscheidung, danach (1790) wie ein ästhetisches Urteil möglich ist. Nach Kopernikus ereignet sich die Kant‘sche Wende in der Philosophie. Es geht radikal um menschliche transzendentale Kräfte oder Vermögen, nicht um Transzendenz. Eine Absage ans Übersinnliche. Kant denkt radikal vom endlichen Subjekt aus. Ohne Mut, sich seines Verstandes zu bedienen, klart nichts auf. Notwendig zur Erkenntnis sind allgemeine Begriffe, Kategorien, aus denen Urteile abgeleitet werden: Quantität, Qualität, Relation, Modalität. Sinnliche Phänomene unterliegen den Formen von Raum und Zeit. Dogmatismus ist für ihn „wurmstichig“ und „despotisch“. Er rehabilitiert die Königin aller Wissenschaften. Vernunft wird durch Fragen „belästigt“. Vernunft gebiert Ideen - ihr Schlaf schlimmstenfalls „Ungeheuer“ (Goya, Capricho 43, 1799). Unvermeidlich aufgegeben sind die Großthemen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Nicht aufzugeben, weil die Mittel beschränkt sind, trotz dem „ewigen Zirkel von Zweideutigkeiten und Widersprüchen“. Kants Sätze sind mehrstöckig, arbeitsteilig, ausgewuchtet mit Nebensatzerläuterungen. Jedes Detail vervollständigt das Endprodukt. Er ist im Differenzieren Welt-Meister. Seine Sprache ist ein wundersam geflochtener Teppich. Wir begreifen selbst die Unbegreiflichkeit. „Verliebt“ ist er – statt in Frauen - „schicksalshaft in Metaphysik“, sein „Kampfplatz“. Denken ist ihm „ein Nahrungsmittel.“ Die Stirn „ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit“ (Herder). Der Philosoph als Seefahrer. Abenteuer „verflechten“ in endlose Odysseen. Illusionen täuschen. Was uns erscheint, ist nicht das wahre Ding. Erfahrung tappt im (Halb-)Dunkel, beschränkt, doch unbedingt „kategorisch“ ist die Maxime des Handelns. So und nicht anders musst du handeln, wenn dir (noch) ein Gesetz lieb und gut ist. Wir, der Glückseligkeit bedürftig, ihrer würdig, sollen das höchste Gut befördern wollen. Die oberste Ursache der Natur sei gleichzeitig ihr Endzweck, das moralische Gesetz müsse Gott und Unsterblichkeit postulieren (voraus-setzen), da es „nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewalttätig verhalten habe“. Kant führt einen moralischen Beweis: gemäß der praktischen Vernunft sei Gott „Gesetzgeber“, „Regent und Versorger“ und „gerechter Richter“. Die postulierte idealische, allverpflichtende Person, Gott, „muß ein Herzenskündiger sein“. Er, Kant, sei unbesorgt, das moralische Gesetz, das Achtung fordert, einzubüßen; es sei so mit seinem Glauben an Gott „verwebt“, dass der ihm nie „jemals entrissen werden könne“. Was uns versagt oder gewährt wird, stammt aus unerforschlicher Weisheit. Bei aller Anstrengung der Vernunft stößt sie an Grenzen, „da der Weltregierer uns sein Dasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken oder klar beweisen läßt.“
Was soll ich tun?
Das Kind soll spielen, lerne denken, lerne arbeiten, kultiviere die Freiheit. Blicke heiter, freue sich am Guten. Man gönne ihm „Erholungsstunden“. „Sich selbst besser machen, das soll der Mensch.“ Sich „herzenskundig“ entwickeln und entfalten, und zwar „proportionierlich“. Ein moralisches Wesen hat eine Pflicht gegen sich selbst. Kant wird Hauslehrer bei Adelsfamilien auf dem Land. Lehrt fünfzehn Jahre als Privatdozent. Mit 46 Jahren wird er endlich Professor. Er soll für den König „tüchtige Subjekta machen und mit gutem Exempel vorangehen“. Reine Vernunft muss praktisch werden, und als praktische kreativ, ihrer Freiheit gemäß. So seine drei Kritiken. Kant liebt „Dinge nicht, die bloß für das Angaffen gemacht sind.“ Die böse „Kunst zu scheinen“ sollte man „beseufzen“. Schöne Kunst dagegen, geschliffen, verfeinert, „bietet die Kräfte der Seele auf, steigert und stählt“ sie, um zu bewältigen, was sie heimsucht, seien es Übel oder eigene Lasterhaftigkeit und Selbstsucht. Das Erhabene trägt den Erhobenen über die lustlosen Tage.
Ein Besucher der Peterskirche etwa spüre das Erhabene. Einbildungskraft resigniert vor der Größe, dem Unfassbaren. Im Vergleich zu einer Idee wiegt Einbildungskraft nichts. Die Natur als (Schreckens-) Macht (Vulkan, Orkan, Ozean) ist in ihrer Dynamik „erhaben“, löst physische Ohnmacht aus, aber tangiert nicht unsere Würde als eigene Erhabenheit. Physische Ohnmacht, Scheitern kann uns unsere Würde nicht rauben, weil diese die Natur übersteigt. In der Gebrochenheit der Existenz erfährt der Mensch sich als Ganzer. „Das Erhabene rührt, das Schöne reizt. Die Nacht ist erhaben, der Tag ist schön. Verstand ist erhaben, Witz ist schön. Kühnheit ist erhaben und groß, List ist klein aber schön. Erhabene Eigenschaften flößen Hochachtung, schöne aber Liebe ein.“ Das Genie „glänzt“ durch exemplarische Originalität, schreibt der Kunst die Regel vor, weiß selbst nicht wie ihm geschieht. Dichtkunst lässt was zum Nachdenken übrig; Tonkunst spricht inniglicher, bewegt „durch lauter Empfindungen ohne Begriffe“. Vermutlich klingt der Kopf wie „eine Trommel“ nur „weil sie leer ist.“ So witzig kann Kant sein. Mit ernsthaften Heiratsanträgen zögert der Denker, bleibt lieber Junggeselle. Er wolle länger „jugendlich“ aussehen. Ob in der Liebe Deutsche und Engländer „derb“ sind, Italiener „grüblerisch“, Spanier „phantastisch“, Franzosen „vernascht“ – entzieht sich meiner Kenntnis. Liebe entzückt phantastisch. Sich gegenseitig genießen hebt alle beide ins Recht. „Ohne Achtung gibt es keine wahre Liebe.“ „Frauenzimmer“ sieht er in Stil und Sitte seiner Zeit, und doch anders. Frauen haben viel teilnehmende Empfindungen, ziehen das Schöne dem Nützlichen vor, verfeinern das männliche Geschlecht, dank feinerem Geschmack. Kant bemerkt neben edler Bescheidenheit ihre geheime „Zauberkraft“. Gewisse hohe Einsichten, Büchergelehrsamkeit, sieht er bei ihnen nicht. „Das schöne Geschlecht hat eben so wohl Verstand als das männliche, nur ist es ein schöner Verstand, der unsrige soll ein tiefer Verstand sein.“ Er hofft ausdrücklich, mit seiner Wahrnehmung nicht zu beleidigen. Die Frau ist „schön und nimmt ein und das ist genug.“ „Ihre Weltweisheit ist nicht Vernünfteln, sondern Empfinden.“ „Man fordere ja nicht Aufopferung und großmütigen Selbstzwang.“ Ihr Anspruch auf Freiheit ist „nicht ohne Grund zur Rechtfertigung.“
Was darf ich hoffen?
Geschichte sei gewoben aus Torheit, Eitelkeit, Bosheit, Zerstörungssucht. „Natur will Zwietracht, Mensch will Eintracht.“ Vernunft ruft nach Republik, die das Volk repräsentiert. Als bürgerliche Werte gelten Freiheit Gleichheit, Selbständigkeit. Krieg auf Bürger-Kosten, „aus bloßer Vergrößerungsbegierde“, samt Verwüstung und verbitternder Schuldenlast, kann das moralische Subjekt nicht wollen. Eis, Nebelbänke, politische Zwecke „lügen neue Länder“. Mensch bringt es nie zum Turm, Wohnhaus genügt, „geräumig und hoch genug zu unseren Geschäften.“ „Aufklärung und Angriffskrieg – das passt nicht zusammen.“ So nimmt Bundeskanzler Scholz im Gedenkjahr 2024 Kant vor Putins dreister Okkupation in Schutz. Ein amoralisches Subjekt (wie Putin) ignoriert vehement das moralische Gesetz, nach dem Angriffskrieg verboten ist; selbst bei der Verteidigung verbieten sich antibürgerliche Mittel wie Spionage, Meuchelmord, Giftmischerei (Kant nennt ausdrücklich „Scharfschützen“). „Die Natur will unwiderstehlich, daß das Recht zuletzt die Oberhand behalte.“ „Beides, die Menschenliebe und die Achtung fürs Recht der Menschen, ist Pflicht, jene aber nur bedingte, diese dagegen unbedingte, schlechthin gebietende Pflicht.“ Autokraten wollen das nicht lesen, und schon gar nicht verstehen. Aufklärung ist eine Art Aufmarsch der Vernunft. Verpflichtet zu Menschenliebe und Achtung fürs Recht. „Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden.“ Verteidigungsmittel sind legitim, außer völkerrechtswidrige. Stehende Heere seien selbst Ursache von Angriffskriegen. „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen“. Man beachte die diplomatisch wichtige Einschränkung: „gewalttätig“. „Ein Ausrottungskrieg muß schlechterdings unerlaubt sein.“ „Die moralisch-praktische Vernunft spricht ihr unwiderstehliches Ve Es soll kein Krieg sein.“ Kant bringt die Idee eines Weltbürgerrechts und eines Völkerbunds ins Spiel, um sich einem ewigen Frieden (Schrift von 1795) anzunähern, um die natürliche „Unvertragsamkeit“ einzudämmen. Kant rechtfertigt die (Französische) Revolution, wenn die Rechte des Volkes gekränkt sind. Gibt aber zu bedenken: „Durch eine Revolution wird … niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen…“
Kants „Credo der praktischen Vernunft“ in drei Artikeln: Ich glaube an einen einzigen Gott, Urquell alles Guten und Endzweck. Ich glaube an die Möglichkeit, Mensch und Endzweck können „zusammenstimmen“. Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben als Bedingung „einer immerwährenden Annäherung.“ „Die wahre Gottesverehrung besteht darin, daß man nach Gottes Willen handelt.“
Allein die folgende Unterscheidung könnte das Gespräch der „Weltreligionen“ beleben: „Es ist nur eine (wahre) Religion, aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben.“ „Es gibt nicht verschiedene Religionen, aber wohl verschiedene Glaubensarten…“ Glaubensabsolutismus ist suspendiert. Kants Ausgangspunkt, die „moralische Anlage“ in uns, ist „Grundlage und zugleich Auslegerin der Religion.“
Er fordert, „dass diese endlich von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen… allmählich losgemacht werde. Das Leitband der heiligen Überlieferung, mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel“, wenn der Glaube erwachsen wird. Geradezu prophetisch kirchenkritisch schreibt er: „Der erniedrigende Unterschied zwischen Laien und Klerikern hört auf, und Gleichheit entspringt aus der wahren Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein jeder zwar dem (nicht statuarischen) Gesetz gehorcht, das er sich selbst vorschreibt, das er aber auch zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen des Weltherrschers ansehen muß, der alle unter einer gemeinschaftlichen Regierung unsichtbarer Weise in einem Staat verbindet, welcher durch die sichtbare Kirche vorher dürftig vorgestellt und vorbereitet war.“ So verbinden sich nach Immanuel Kant moralisches Gesetz und Weltwille. (Kant-Brevier, Hrsg. Wilhelm Weischedel 1975, S.132)
Was ist der Mensch?
„Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Wenn man nur bezahlen kann. Es fordert Mut, sich seines Verstandes „ohne Anleitung eines andern zu bedienen.“ Aufschieben könne man Aufklärung, doch nicht darauf verzichten. „Zu dieser Aufklärung wird nichts erfordert als Freiheit“; auch wenn der Befehl heißt: Räsoniert nicht, sondern exerziert! Bezahlt! Glaubt! Gehorcht! Als aufgeklärter Gelehrter nimmt Kant sich „volle Freiheit“ und beackert wahrlich weltbürgerlich „das Feld der Philosophie“. Als „Selbstdenker“ und „Weisheitsforscher“ stellt er sich den Kernfragen: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch?“ Schopenhauer urteilt, vor ihm habe die Philosophie „eigentlich immer wie im Traume geredet.“ Kant habe sie hart aufgeweckt. Hier beginnt das Kant-Brevier. Das Stundenbuch der Nicht-Kleriker. Als Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, als Einführung in die Mündigkeit eines Gattungswesens, das der Vernunft verpflichtet ist. Freiheit ist „angeboren, ursprünglich, jedem Menschen zustehendes Recht“, kraft seines Menschseins; ist „Unabhängigkeit von nötigender Willkür“ anderer. Samt dem Recht auf Auswanderung. „Freiheit ist das Vermögen, das allen anderen Vermögen zur vollen Entfaltung verhilft.“ Werde Meister über das böse Prinzip in dir! Denn jedes Übel, was du antust, tust du dir selbst an: Tötest du, so tötest du dich selbst. Kants Art zu argumentieren hat etwas Unwiderstehliches.
Existenz verknüpft Kant mit zwei Dingen, mit einem aus der Sinnenwelt, einem aus der Verstandeswelt: „Der bestirnte Himmel über mir“ - Weltenmenge vernichtet eigene Wichtigkeit; zweitens „das moralische Gesetz in mir“ – als Gesetz der Freiheit erhebt es den Wert, „als eine Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit.“ Die zwei Brennpunkte sollten sein Grabspruch werden. Souveräne Selbstdenker, unzensiert, nicht überwacht, nicht manipuliert durch Zwecke und Interessen, weisen als Weisheitsforscher den Weg zum Frieden. Kant weiß, der ewige ist unausführbar, aber die Grundsätze sind als Aufgabe ausführbar.
Bis zur Kritik der zynisch gewordenen Vernunft des Herrenzynismus (Klassiker von Peter Sloterdijk 1983) sollte es zwei Jahrhunderte dauern. Darin nimmt sich der sprachgeniale Sphärenphilosoph sechs Kardinalzynismen vor: Militär; Staats- und Vormacht; Sexualität; Medizin; Religion; Wissen; dazu sekundäre Zynismen wie Geständnis, Information, Presse, Tauschgeschäft. Gute Illusionslosigkeit gehöre zur Moderne der fortwährenden Desillusionierungen. Die Schwerverwundeten einer Kultur können sich nicht einfach arrangieren. Da wir „den lebendigen Körper als Weltfühler entdecken.“ „Jede Kritik ist Mitarbeit im Zeitschmerz und ein Stück exemplarischer Heilung.“ (Ebd.20.26) Unter jeder Kritik klaffen Wunden. Es geht nicht darum, gegen alles, was Macht hat, eine Vorwurfshaltung einzunehmen. Sensible Selbstbesinnung und Selbstbestimmung hüten sich davor, gewisse Gegner überzeugen zu wollen, die sich ein Alibi der Verständnislosigkeit zugelegt haben. Wahrheit, die man begriffen hat, will sich vermitteln und verkörpern, sich einmischen in die Verhältnisse, die vor Ungerechtigkeit, Schwindel, Machtgeilheit und Gier strotzen. Wer schlägt Brücken in die vom Klimawandel geschockte Gegenwart, die uns herausfordert, ihr gewachsen zu sein? Kant, der weise, gewaltige Denker aus Königsberg gibt der Menschheit einen konzilianten und vernünftigen Rat mit auf den langen Weg im „Zeitalter der Gelangung des Menschen zum vollständigen Gebrauch seiner Vernunft“. Sein Gebot weltbürgerlicher Toleranz lautet: „Wir dürfen uns nicht einander lästig werden; die Welt ist groß genug für uns alle.“
Quellen:
Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe 1975
Kant-Brevier, Hrsg. Von Wilhelm Weischedel 1975
Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft 1983, 21. Auflage 2018
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Karl-Josef Müller schrieb uns am 19.04.2024
Thema: Petra Brixel: Keine Patentlösung in Sicht, doch eine spannende Lektüre Zum Sachbuch von Jörn Leonhard „Über Kriege und wie man sie beendet. Zehn Thesen“
Einige wenige Anmerkungen:
"Als am 20. Februar 2022 der Angriff Russlands auf die Ukraine einen Großteil der Menschen Europas zum Nachdenken über „Krieg und Frieden“ zwang, als die deutsche und internationale Friedensbewegung Diffamierungen erleben musste und Bertha von Suttners Aufruf „Die Waffen nieder“ der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, als „wir in einer anderen Welt aufgewacht sind“, als der Widerstand der Ukraine durch europäische und amerikanische Waffenlieferungen unterstützt wurde und die Waffenindustrie zur Höchstform auflief, wurde allen klar: Es ist Krieg in Europa. (Auch wenn dies zunächst nicht so verbalisiert wurde und in Russland als „militärische Spezialoperation“ galt.) "
Was genau ist gemeint, dass "die Waffenindustrie zur Höchstform auflief"? Haben wir in Europa/Deutschland mittlerweile eine Kriegswirtschaft, oder ist es nicht eher so, dass die militärischen Kapazitäten nicht ausreichen, um die von einem übermächtigen Gegner ohne Grund und Anlass seit 2014 überfallene Ukraine in die Lage zu versetzen, ihre Bevölkerung wirkungsvoll zu verteidigen und militärischen Druck auf ein verbrecherisches System auszuüben? Der Aufschrei war, wenn ich mich recht erinnere, laut, als Habeck noch vor dem Feburar 2022 Waffenlieferungen an die Ukraine vorschlug.
"So ist das Buch eine Botschaft an diejenigen, die meinen, ein Krieg ließe sich „einfrieren“, um während der Tiefkühlphase diplomatische Lösungen zu finden. Voraussetzung ist, dass beide Kriegsparteien – und die hinter ihnen stehenden Bundesgenossen mit ihren ganz eigenen Interessen – die Notwendigkeit von Verhandlungen einsehen und anstreben."
Nachts sind alle Katzen grau. Wer ist gemeint mit den "Bundesgenossen" der Ukraine "mit ihren ganz eigenen Interessen"? Wer möchte nicht verhandeln in diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, begleitet von unvorstellbaren Massakern, Stichwort Butscha?
"So z.B. seinen Satz „Wer noch Chancen auf dem Schlachtfeld sieht, wird den Kampf fortsetzen, solange es geht.“ Wie wahr und gleichzeitig brutal das für die kämpfenden Soldat:innen ist, wird derzeit auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben der Ukraine bewiesen. Sowohl Putin als auch Selensky sehen noch „Chancen, solange es geht“. Es wird lange gehen."
Erneut werden der Potentat aus Russland und Selensky auf eine Stufe gestellt und dabei wird übersehen, dass die Ukraine keine Alternative zum weiteren Kampf gegen einen verbrecherischen Angreifer hat. Wie oft muss man das Beispiel Butscha, entführte Kinder, bewusste Angriffe auf zivile Ziele, auf die Infrastruktur noch nennen, um begreiflich zu machen, womit wir es in diesem Gemetzel zu tun haben? Was wäre wohl geschehen, hätte der Westen und Deutschland sich damit begnügt, einige Tausend Helme zu liefern?
"Ein weiteres Hemmnis für einen schnellen Waffenstillstand sind die „unvereinbaren Erwartungen, die beide Seiten mit den Friedensbestimmungen verknüpften“. Auch wenn Leonhard sich mit dieser Aussage auf einen Krieg Anfang des 19. Jahrhunderts bezieht, so ist die These brandaktuell. Solange die eine Seite nicht ein Zipfelchen des Landes hergeben will und die andere Seite „alles“ haben will, gibt es kein Pardon, und der Krieg geht weiter."
Und wieder: "beide Seiten". Blood, sweat and tears versprach Churchill seinen Landsleuten 1940, nicht weil er Spaß daran hatte, sein Volk leiden zu sehen, sondern weil er gegen einen gnadenlosen Diktator wie Hitler und seine Spießgesellen keine Alternative erkennen konnte. Der Diktator aus dem Osten wird sich mit keinem Zipfelchen zufriedengeben, er möchte die Vernichtung eines Landes, dessen Existenz von Russland noch 1994 garantiert worden war.
"Auch diese Aussage bewahrheitet sich im Ukraine-Krieg. Nur durch einen konstanten Waffennachschub der ukrainischen Unterstützer kann der Krieg aufrechterhalten und fortgeführt werden. Der Ruf nach Panzern und Munition bestimmt derzeit die Medien und kann als Dauerschleife bzw. Hintergrundrauschen dieses Krieges angesehen werden. „Kippmomente“ drohen permanent, und was eines Tages das finale Kippmoment sein wird, wird sich erst im Nachhinein herausstellen."
Ich gebe zu, ich kann es kaum ertragen, wenn hier so getan wird, als ob es an der Ukraine sei, die Waffen niederzulegen, um einen Frieden zu ermöglichen. "Der Ruf nach Panzern und Munition" ist einer der Verzweiflung, denn was würde wohl geschehen, wenn dieser Nachschub ausbliebe, was würde mit der Ukraine, was würde mit den Menschen dort geschehen. Muss man den Namen Butscha immer wieder in Erinnerung rufen?
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