Textgestaltung, Entstehung und Überlieferung

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Textgestaltung

Der Text folgt dem Erstdruck (d1) von 1839:  Lenz. / Eine Reliquie von Georg Büchner. – In: Telegraph / für / Deutschland. [Redigiert von Karl Gutzkow.] – Hamburg: Hoffmann und Campe. Zweiter Band. No 5, 7, 8, 9, 10, 11, 13 u. 14, [etwa 8.–22.] Januar1839.

Vor- und Nachwort sowie Anmerkungen des Herausgebers von d1 sowie zusätzliche Erläuterungen und Hinweise zur drucktechnischen Einrichtung sind in den Fußnoten verzeichnet. Diese verweisen auch auf einige inhaltlich relevante Emendationen, die sich in allen Fällen als Fehllesungen durch die Abschreiberin oder den Herausgeber erklären lassen.

Diese Emendationen sind der Historisch-Kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke und Schriften Georg Büchners. Mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hg. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer (ab 2005: Hg. von Burghard Dedner. Mitbegründet von Thomas Michael Mayer), dabei speziell dem Bd. V „Lenz“. Hg. von Burghard Dedner und Hubert Gersch unter Mitarbeit von Eva-Maria Vering und Werner Weiland. Darmstadt 2001 entnommen.

Nicht vermerkt wurden folgende erkennbare Druckfehler: fürchterlicher] füchterlicher d1; Augenblick] Augenbilck d1; war] was d1; nichts] nicht’s d1; zu] zn d1; anredeten] anredete d1; ruhen] rufen d1; und] uud d1; auf] anf d1; so todt] s otodt d1.

Der Erstdruck erschien in Fortsetzungen in einer Zeitschrift. Da bei Fortsetzungsabschnitten nie sicher zu entscheiden ist, ob ihnen bereits Abschnitte im ursprünglichen Text des Autors zugrunde liegen, wurden sie ebenfalls in den Fußnoten verzeichnet.

Entstehung und Überlieferung

1. Einleitung

Vor allem aufgrund der revolutionären Flugschrift „Der Hessische Landboet“ hat Georg Büchner in der politischen Geschichte des 19. Jahrhunderts seinen Platz als einer der führenden und radikalsten Vertreter der Oppositionsbewegung, die aus der Französischen Revolution der 1790er Jahre hervorging, die Revolution von 1848 vorbereitete und zum Teil in den sozialistischen Bewegungen der zweiten Jahrhunderthälfte weiterlebte. Auch sein dichterisches Werk widmete er weitgehend diesen Themen. Das Lustspiel „Leonce und Lena“ ist unter anderem eine politische Satire auf auf jene lächerlichen spätabsolutistischen Provinzhöfe, wie Büchner sie aus seiner Heimatstadt Darmstadt kannte. In „Woyzeck“ zeigte er die Lebensverhältnisse, unter denen die Gesellschaft ihre Armen, also den größeren Teil der Menschen, vegetieren läßt, und dabei zugleich den Zusammenhang zwischen Armut, psychischer Krankheit und Gewaltverbrechen. In „Danton’s Tod“, seinem Erstlingswerk, demonstrierte er, wie die bürgerlichen Politiker der Französischen Revolution im Krisenjahr 1794 unter dem Druck der hungernden Pariser Bevölkerung zu Terrormaßnahmen griffen und in diesem Zusammenhang Ideologien zu formulieren begannen, denenzufolge für den historische Fortschritt der Menschheit auch die physische Vernichtung anderer in Kauf zu nehmen sei.

Das zweite dominierende Thema in Büchners dichterischem Werk ist die orientierte Darstellung psychischer Erkrankungen. So behandelt „Leonce und Lena“ in lustspielhafter Art den ennui oder Lebensüberdruß, eine Krankheit, die seit Goethes „Werther“-Roman und dann in der Romantik immer wieder in der europäischen Literatur dargestellt wurde; in „Woyzeck“ schildert Büchner, wie ein Mensch unter sozialem und physischem Druck Verfolgungsphantasien entwickelt, die ihn zum Mord treiben, und in „Danton’s Tod“ zeigt er unter anderem, wie der bekannte revolutionäre Politiker Georges Danton über der wiederkehrenden traumatischen Erinnerung an ein Massaker, das er als Justizminister zugelassen hatte, psychisch zugrundegeht.

In den Theaterstücken verknüpft Büchner diese zwei sein gesamtes Werk dominierenden Themen. In der Erzählung „Lenz“ beschränkte er sich ganz auf das zweite Thema, die Darstellung einer psychischen Erkrankung. Gesellschaftlich-politische Themen berührte er hier nur nur auf vermittelte Weise.

Die Hauptfigur der Erzählung, Jacob Michael Reinhold Lenz, Büchners Zeitgenossen als Dichter des Sturm und Drang und zeitweiliger Freund Goethes bekannt, wandert durch die winterlichen Vogesen zu dem kleinen Gebirgsdorf Waldbach, der Pfarre des ebenfalls sehr bekannten protestantischen Geistlichen Johann Friedrich Oberlin. Kaum beherrschbare Angstphantasien erfüllen ihn auf der einsamen Wanderung. Licht und die Nähe von Menschen, vor allem auch die Nähe Oberlins, bessern seinen Zustand, so daß seine Angstvorstellungen ihn in Waldbach nur noch nachts heimsuchen. Als sie abklingen, fühlt sich Lenz sicher genug, um am Sonntag die Predigt zu übernehmen. Oberlin folgt der Bitte eines gemeinsamen Bekannten und begibt sich auf eine längere Reise, ohne zu ahnen, daß Lenz schon wieder von einer neuen Unruhe ergriffen ist. Wie sein historisches Vorbild ist auch der Oberlin der Erzählung eine ambivalente Persönlichkeit. In ökonomischen und pädagogischen Angelegenheiten ungemein praxisorientiert und aufgeklärt, neigt er zugleich zu spiritistischen Glaubensvorstellungen. Für ihn ist selbstverständlich, daß Gott wie einst in biblischen Zeiten in das Alltagsleben eingreift, daß er sich in Träumen und „Ahnungen“ mitteilt, daß er Menschen anfaßt, um sie aus Gefahren zu retten oder daß der Mensch mit den Toten in Kontakt treten kann. Aus der neutestamentlichen Apokalypse hat Oberlin außerdem ein esoterisches Wissen über Zusammenhänge zwischen Farben und menschlichen Charakteren geschöpft. Lenz teilt diese Vorstellungen, wenn er sie sich z.T. auch anders, nämlich ‚wissenschaftlich’ erklärt, und über den Gesprächen mit Oberlin, dann über der Lektüre der Apokalypse gerät er in erneute nächtliche Unruhe. Diese verstärkt sich nach einem nächtlichen Aufenthalt in einer Gebirgshütte bei einer gespenstischen alten Frau, einem kranken, nächtlich halluzinierenden Mädchen und einem charismatischen Mann, den die Bevölkerung als Wanderheiligen verehrt und dem sie magische Heilungskräfte zuschreibt. Die Erinnerung an diese Nacht treibt Lenz zu religiösen Buß- und Gebetsübungen; seine Unruhe steigert sich, als eine Magd in seiner Nähe ein Volkslied singt, das die Erinnerung an eine einst geliebte Frau und an mit ihr zusammenhängende Schuldgefühle hervorruft. In der Hoffnung auf ein Gnadenzeichen Gottes und in Nachahmung biblischer Muster versucht Lenz eine Totenerweckung. Nach deren Scheitern hebt er in einer eindrucksvollen Szene seine Hand gegen Gott, lästert und flucht und ist nun vom nächsten Morgen an mit der zusätzlichen Angst belastet, er habe die „Sünde in den heiligen Geist“ begangen, eine Sünde, die nach verbreiteter christlicher Vorstellung auch Gott nicht vergeben kann. In dieser Lage trifft ihn der von der Reise zurückgekehrte Oberlin an.

Ich vermute, daß Büchner die Erzählung bis zu diesem Punkte in einem fortgeschrittenen Entwurf gestaltet hat, während die dann folgenden Partien der Erzählung von Karl Gutzkow, dem ersten Herausgeber, aus verschiedenen früheren Erzählansätzen Büchners zusammengefügt wurden. Nur den Erzählschluß, in dem Lenz’ Abtransport nach Straßburg beschrieben und mit dem vieldeutigen Satz „So lebte er hin“ eine Aussicht auf sein weiteres Leben gegeben wird, dürfte Büchner ebenfalls auf letzter Stufe niedergeschrieben haben.

2. Der Fall des Jacob Lenz (1778 bis 1835)

Die Beschreibung einer psychischen Erkrankung, die Büchner mit „Lenz“ vorlegte, ist so eindringlich, daß viele Leser annehmen, sie müsse auf eigene Krankheitserfahrungen des Autors zurückgehen. Nun ist klar, daß Büchner ebenso wie jeder andere Schriftsteller auch eigene Erfahrungen in seinen Werken verarbeitet hat. Wichtiger als dieses selbst „Erlebte“ ist jedoch bei Büchner durchweg der Rückgriff auf Informationen, die ihm vorlagen oder die er sich zu beschaffen wußte. Im Vordergrund steht der historische Bericht des Pfarrers Oberlin über die Erkrankung seines Gastes Jacob Lenz im Winter 1778¸ den Oberlin bald nach Lenz’ Abtransport nach Straßburg verfaßte und den wir im Anhang zur Erzählung wiedergeben. Hinzu kommen literarische Äußerungen des Dichters Lenz, medizinisches Wissen, wie es übrigens weitgehend über Lexika verfügbar war, Anregungen aus der Tradition literarischer Krankheitsbeschreibungen, so vor allem von Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ und von romantischen Erzählern, unter denen Büchner Ludwig Tieck besonders schätzte, und schließlich Äußerungen zum „Fall Lenz“, wie sie seit 1778 immer wieder auftraten. Einiges von diesem Material wird durch die Erläuterungen ersichtlich.

Jacob Michael Reinhold Lenz hatte sich mit Dramen wie „Der Hofmeister“ (1774), „Der Neue Menoza“ und „Die Soldaten“ (1775) als begabter, wiewohl exzentrischer junger Dramatiker Anerkennung verschafft. Seine Sonderbarkeiten wurden toleriert, solange er jung war. 1776 war er fünfundzwanzig Jahre alt, hoch verschuldet und verarmt, sein Studium hatte er nicht abgeschlossen, von beruflichen Aussichten konnte keine Rede sein. Von Straßburg, wo er bis dahin eine führende Figur in einem kulturell und literarisch interessierten Zirkel gewesen war, begab er sich nach Weimar, wohin kurz zuvor Goethe als Günstling des Herzogs berufen worden war. Der dortige Hof behandelte ihn zunächst humoristisch-wohlwollend, im Dezember 1776 wurde er jedoch aufgrund einer noch heute unklaren „Eseley“ des Landes verwiesen. Das folgende Jahr lebte er teils auf Wanderschaft, teils als Hausgast bei Freunden und Bekannten wie Goethes Schwager Friedrich Schlosser im badischen Emmendingen, dem Dichter Pfeffel im elsässischen Colmar oder dem berühmten Züricher Pfarrer und Schriftsteller Lavater in Zürich. Dort wurde er im November 1777 durch aggressives Verhalten auffällig. Ein Freund, Christoph Kaufmann aus Winterthur, brachte den inzwischen Hilfsbedürftigen bei sich unter und nahm ihn Anfang Januar 1778 mit auf eine Reise, deren Ziel es war, Freunde im weiteren Umkreis, darunter auch den Pfarrer Oberlin im Vogesendorf Waldersbach, zu besuchen und zu Kaufmanns Hochzeit einzuladen. Nach einem erneuten Zwischenfall in Emmendingen schickte man Lenz auf einem kürzeren Weg nach Waldersbach, wo er am 20. Januar eintraf. Die übrige Gruppe mit Kaufmann erreichte den Ort wenig später, am Sonntag, den 25. Januar 1778.

Über die Einzelheiten von Lenz’ Aufenthalt und Verhalten in Waldersbach unterrichtete Oberlin seinen (vermutlich Straßburger) Freundeskreis durch den im Anhang abgedruckten Bericht; weiteres ist aus verstreuten, inzwischen gesammelt vorliegenden Dokumenten bekannt. Oberlin wurde in der Nacht des 20. Januar durch Jacob Lenz’ Unruhe gestört, beruhigte sich jedoch mit der Erklärung seines Gastes, daß er wie andere aus seinem Freundeskreis häufig kalt bade. Obwohl er bisher erst einmal in seinem Leben auf einer Kanzel gestanden hatte, bat Lenz den Pfarrer, am kommenden Sonntag predigen zu dürfen, was diesem recht war. Der gemeinsame Freund Kaufmann kam am Sonntag ins Steintal, fand Lenz gesund vor und überredete Oberlin, an dem geplanten großen Hochzeitsfest in der Schweiz teilzunehmen. Der Gast sollte an den nächsten Sonntagen die Predigt übernehmen. Kaufmann mag zusätzlich gehofft haben, Lenz werde im Steintal unter Anleitung Oberlins völlig gesunden und sich doch noch für den Beruf des Pfarrers gewinnen lassen. Indes entschloß sich Oberlin bereits in Emmendingen zum Abbruch der Reise. Wahrscheinlich schon Schlosser, sicher aber Pfeffel informierten ihn über Lenz’ Krankheit, sein Zerwürfnis mit dem Vater und die Hoffnungslosigkeit seiner Lebensumstände. Gleichzeitig verschlechterte sich Lenz’ psychischer Zustand. Nachdem er am 1. Februar nochmals gepredigt hatte, versuchte er am 3. ein gerade gestorbenes Kind zu erwecken, ein Versuch, der sich nach zeitgenössischen Vorstellungen zur Not noch als medizinisch und religiös vertretbar deuten ließ, in dem man aber auch bereits ein Symptom religiöser Wahnvorstellungen sehen konnte. Oberlin deutete ihn wohl als vertretbar, bemerkte aber natürlich die gesteigerte Unruhe in Lenz’ Verhalten, für ihn das Zeichen eines sündhaften, vielleicht reuigen Gewissens. Er nutzte die Gelegenheit, den Sünder zu ermahnen. Lenz reagierte hierauf mit äußerster Verstörung, machte Andeutungen über eine Frau, der er die Ehe versprochen und deren Tod er verschuldet habe, war die folgende Nacht von heftigsten Angstanfällen gepeinigt, stürzte sich am nächsten Tag aus dem Fenster, bezichtigte sich öffentlich als Mörder, stürzte sich nochmals aus dem Fenster und wurde schließlich so unbeherrschbar, daß Oberlin ihn nach Straßburg transportieren ließ. Von dort schaffte man den Kranken zu Schlosser, der ihn in an verschiedenen Orten unterbrachte, wo Lenz – wechselnd zwischen Beruhigungsphasen und neuerlichen Krankheitsanfällen – bis Juli 1779 blieb. Ein Bruder begleitete den immer noch Kranken schließlich zurück nach Livland. Die folgenden Jahre lebte Lenz, abhängig vom Wohlwollen anderer, in Riga, Sankt Petersburg, Dorpat und am längsten in Moskau. Er wurde 1792 auf einer Moskauer Straße tot aufgefunden.

Psychische Erkrankungen rufen nach Erklärungen, und das galt auch hier. Wie Oberlin sich Lenz’ Anfälle erklärte, hat er selbst mitgeteilt. Was der Kranke erlitt, waren die „Folgen seines Ungehorsams gegen seinen Vater, seiner herumschweifenden Lebensart, seiner unzweckmäßigen Beschäftigungen, seines häufigen Umgangs mit Frauenzimmern“. Auch andere, streng christliche denkende Bekannte aus seiner Umgebung sahen in Lenz ein Beispiel für die Strafen, die Gott verhängt, wenn sich ein junger Mann dem 4. Gebot widersetzt und der Lebensregel des „Bete und arbeite“ nicht folgt. Andere Zeitgenossen glaubten eher, daß im realen Fall Lenz wiederhole sich noch einmal, was Goethe als fiktiven Fall im „Werther“ beschrieben und in einem Brief vom 1. Juni 1774 als Geschichte eines „jungen Menschen“ erläutert hatte, der „sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, bis er zuletzt durch dazutretende unglückliche Leidenschaften, besonders eine endlose Liebe zerrüttet“ wird. Nach diesem Muster beurteilten verschiedene Autoren, darunter auch Lenz‘ Freund Lavater, seit den 1790er Jahren die Krankheitsgeschichte von Lenz, indem sie annahmen, eine unglückliche Liebe habe dem ohnehin labilen Lenz den letzten Stoß versetzt. Was immer man sich hier zusammenreimte – auf jeden Fall galt das Leben des Dichters als lehrhaft-abschreckendes Beispiel, und ein Lenz-Artikel in Friedrich Schlichtegrolls „Nekrolog auf das Jahr 1792“, der alle diejenigen Informationen über Lenz enthielt, die in den nächsten Jahrzehnten in den Lexika und Handbüchern verbreitet wurden, vermerkte in diesem Sinne: die literarische Öffentlichkeit wünsche sich eine ausführliche Darstellung von Lenz’ Erkrankung, da diese „ein sehr unterrichtendes Gemählde zum Nutzen junger feuriger Freunde der schönen Literatur“ sein werde.

Neue Aufmerksamkeit erregte der Fall Lenz durch Goethes Darstellung im dritten Teil seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ (1814). In ihr rückte Goethe Jacob Lenz nochmals in die Nähe des fiktiven Werther und erläuterte an beiden die pathologische Verfassung der Genies der 1770er Jahre, zu denen er selbst einmal gehört hatte. Im „Werther“ – so Goethe – habe er „das Innere eines kranken jugendlichen Wahns öffentlich und faßlich dar[ge]stellt“, sich dadurch von diesem Wahn geheilt und zugleich den jungen Zeitgenossen ein warnendes Beispiel gegeben. Da aber „die junge Welt sich schon selber untergraben hatte“, habe sie die Warnung nicht beachtet. Das gelte vor allem für Jacob Lenz. Er habe sich durch „Selbstquälerei“ sinnlos beunruhigt, sich mit den „strengsten sittlichen Forderungen“ bei gleichzeitigen „größten Fahrlässigkeiten im Tun“ herumgequält, und vor allem habe er zu den „Un- oder Halbbeschäftigten“ gehört, „welche ihr Inneres untergruben, und so litt er im allgemeinen von der Zeitgesinnung, welche durch die Schilderung Werthers abgeschlossen seyn sollte“. Werther und Lenz waren demnach zwei Beispiele für die selbstverschuldete Krankheit einer ganzen Generation.

Goethes Urteil prägte sich ein und ließ sich beliebig ausweiten. So griff der liberale Publizist Georg Gottfried Gervinus in seiner „Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen“ (Erster Teil, 1840) dreißig Jahre nach Goethes Urteil und fünf Jahre nach Büchners Erzählung dieses Muster noch einmal auf und machte aus Lenz das abschreckendste Beispiel für die Unsinnigkeiten, die die deutsche Literaten der 1770er Jahre produziert hätten. Lenz sei „das traurigste Opfer der Ueberspannungen dieser Periode“ gewesen; seine Dramen seien „regellos, unverständig, wüst“. Gervinus behandelte Lenz wie einen ansteckenden und gefährlichen Nationalkranken, dem man auf keinen Fall mit Mitleid begegnen dürfe: „Da seine Leistungen unter die traurigsten Beispiele der unsinnigen Verirrungen gehören, die den Deutschen eigenthümlich sind, da sie das Gepräge seines wirren Wesens an sich tragen, und dieses wieder fremde und eigene Schuld, nicht Erbsünde war, so müssen wir vor dieser Milde warnen.“ (S. 381 f.).

Eine andere und harmlosere Erklärung für den Fall Lenz trug 1831 Büchners Straßburger Freund August Stöber vor. Sein Vater Daniel Ehrenfried Stoeber, ein langjähriger guter Bekannter Oberlins, sichtete nach dessen Tod 1827 den Nachlaß und begann an einer umfangreichen Oberlin-Biographie zu arbeiten, die 1831 unter dem Titel „Vie de J. F. Oberlin“ erschien. Im Nachlaß hatte er Oberlins Bericht über Lenz’ Aufenthalt in Waldersbach gefunden, der der weiteren Öffentlichkeit noch nicht bekannt war. In dem Bericht hatte Oberlin einen Zusammenhang zwischen Lenz‘ Erweckungsversuch an einem Kind namens Friederike und seinen Schuldgefühlen gegenüber seiner Geliebten vermutet, die ja ebenfalls Friederike hieß. Inzwischen war aus „Dichtung und Wahrheit“ bekannt, daß der Straßburger Student Goethe die elsässische Pfarrerstochter Friederike Brion geliebt hatte, und als August Stöber 1831 in der Straßburger Bibliothek Briefe von Lenz an dessen Straßburger Bekannten Johann Daniel Salzmann fand, in denen Lenz von seiner Liebe zu eben dieser Friederike Brion berichtete, schien der Fall endgültig geklärt. Seit 1772 – so Stöbers Annahme – habe sich Lenz in Liebe verzehrt, und diese Liebe verließ ihn auch nicht, als er 1776 nach Weimar ging. „Wie von einem unvermeidlichen Schicksale erfaßt, kam er aber gegen das Ende des folgenden Jahres wieder in das Elsaß. Hier brach sein, oft in dumpfes Hinbrüten, in bange Schwermuth versunkenes Gemüth in vollen Wahnsinn aus, der zuweilen zur tollsten Raserei wurde. Er irrte im tiefen Winter durch Schnee und Wind in den Vogesen umher, und kam so, im Jänner 1778, in seinem Aeußern auf’s Höchste vernachläßigt, zu dem würdigen Pfarrer Oberlin nach Waldbach im Steinthale“. Stöber bekräftigte diese Annahme, indem er vor allem auf diejenigen Stellen in Oberlins Bericht hinwies, in denen Lenz’ Phantasien über eine geliebte Frau und über das kranke Kind in Fouday, das ebenfalls Friederike hieß, zum Ausdruck kommen.

Zusammen mit Ausschnitten aus Oberlins Bericht und Lenz’ Briefen an Salzmann veröffentlichte August Stöber diese These über Verlauf und Ursachen von Lenz’ Erkrankung 1831 in einer Stuttgarter Zeitung, wobei er sich des allgemeinen Interesse an solchen Erzählungen und Dokumenten sicher sein konnte. Der romantische Dichter Ludwig Tieck hatte 1827 Lenz’ „Gesammelte Schriften“ in einer dreibändigen Ausgabe herausgebracht, dessen „Andenken“ also „erneuert“, und die andere Beteiligte, Friederike Brion aus Sesenheim, war durch die liebevolle Erzählung Goethes in Dichtung und Wahrheit so allgemein bekannt, daß sich seit den 1830er Jahren ein internationaler Friederiken-Tourismus zu entwickeln begann. Auch Büchners Erzählung hatte bei ihrer Erstveröffentlichung 1839 noch von ferne an diesem Friederiken-Kult teil. Der erste Herausgeber der Erzählung Karl Gutzkow machte in einer Fußnote zu dem Gespräch zwischen Lenz und Madame Oberlin auf den Zusammenhang zwischen Lenz und ‚Goethes Friederike’ besonders aufmerksam, indem er schrieb: „Büchner wollte eine eigenthümliche und authentische Beziehung Lenzens zu Göthes Friederike (von Sesenheim) darstellen.“ Daß Büchner freilich gerade ein solches Interesse verfolgte, ist mehr als unwahrscheinlich.

3. Büchners Arbeit am „Lenz“-Projekt

Aus der eben skizzierten Geschichte der Erzählungen und Spekulationen über Jacob Lenz’ Erkrankung läßt sich bereits entwickeln, wie Büchner auf den „Fall Lenz“ aufmerksam wurde. Zu Büchners literarischen Vorlieben und Lehrern gehörte neben Shakespeare und romantischen Dichtern wie Ludwig Tieck vor allem Goethe, zumal dessen Jugendwerk aus der Sturm und Drang-Periode der 1770er Jahre. Spätestens als er 1831 nach Straßburg kam, wurde Büchner dann auch auf Lenz‘ Werk, das ja derselben literarischen Periode angehörte, aufmerksam, wie ohnehin ein hohes Interesse für die Literatur des Sturm und Drang unter Büchners Zeitgenossen, den Dichtern des Jungen Deutschland, nicht ungewöhnlich war. Büchners spezielles Interesse an Jacob Lenz dürfte freilich August Stöber erweckt haben, mit dem Büchner sich Ende 1831 in Straßburg anfreundete, und zwar gerade zu einer Zeit, als Stöber seinen Lenz-Artikel im Stuttgarter „Morgenblatt für gebildete Stände“ veröffentlichte. Auch die zweite Hauptperson der Erzählung, Johann Friedrich Oberlin, wurde ihm auf diesem Wege bekannt, denn August Stöbers Vater Daniel Ehrenfried publizierte zu dieser Zeit gerade seine große Oberlin-Biographie. Die eigentliche Arbeit am Lenz-Projekt fällt jedoch erst in das Jahr 1835.

Büchner wußte im Winter 1835, daß die hessischen Polizeibehörden gegen ihn wegen Abfassung und Verbreitung der revolutionären Flugschrift „Der Hessische Landbote“ ermittelten und daß seine Verhaftung nur eine Frage der Zeit sein werde. Trotz der drohenden Gefahr schrieb er sein Drama „Danton’s Tod“ zu Ende und schickte am 21. Februar 1835 das Manuskript an Karl Gutzkow, den führenden Literaten der jungdeutschen Autoren. Dieser veröffentlichte Teile davon zwischen dem 26. März und 7. April in der Frankfurter Zeitschrift „Phönix“ und bereitete gleichzeitig eine Buchpublikation vor, die im Juli zustandekam. Etwa am 6. März verließ Büchner Darmstadt, am 9. März traf er in Frankreich ein und fand in Straßburg eine Unterkunft. Beruflich plante er eine akademische Karriere und hatte deshalb vor, möglichst noch innerhalb der nächsten 12 Monate mit einer Arbeit in vergleichender Anatomie zu promovieren. Um nebenher Geld zu verdienen, übernahm er Anfang Mai den Auftrag, zwei Dramen Victor Hugos für eine deutsche Gesamtausgabe dieses Autors zu übersetzen. So blieb ihm für anspruchsvollere literarische Arbeiten eigentlich keine Zeit übrig. Jedoch wurde Büchner von Gutzkow wiederholt und zunehmend dringlicher aufgefordert, möglichst bald ein weiteres dichterisches Originalwerk zu veröffentlichen und sich damit definitiv auf dem literarischen Markt zu etablieren. Dieses Drängen Gutzkows dürfte der wesentliche Anlaß gewesen sein, daß Büchner sich dem „Fall Lenz“, den er ja bereits kannte, jetzt intensiver zuwandte. Sichere Informationen über den Beginn dieser intensiven Beschäftigung mit Lenz’ Aufenthalt in Waldersbach gibt es für Anfang Mai 1835 durch verschiedene Zeugnisse von Freunden und Bekannten Georg Büchners (Georg Fein, August Stöber, Karl Gutzkow). Aus ihnen geht hervor, daß Büchner seit Ende April und spätestens am 10. Mai im Besitz mehrerer Quellen zu Lenz war, die er von seinem Freund August Stöber erhalten hatte. Zu denken ist dabei u. a. an Oberlins Bericht; Ehrenfried Stöbers Oberlin-Biographie und August Stöbers schon genannte Veröffentlichung im „Stuttgarter Morgenblatt“ von 1831. Im weiteren Verlauf des Frühjahrs und Sommers dürfte Büchner weitere Informationen eingeholt haben, den Ort des Geschehens, also Waldersbach und seine Umgebung, nochmals besucht und wohl auch erste Schreibversuche unternommen haben.

Die Ergebnisse dieser ersten Schreibversuche liegen uns wahrscheinlich in den Textteilen “Einige Tage darauf kam Oberlin aus der Schweiz zurück“ bis „Siehe die Briefe“ und „Den 8. Morgens blieb er im Bette“ bis „Die Kindsmagd kam todtblaß und ganz zitternd.“ vor. Wenn man diese Textteile parallel zur Quelle, also zu Oberlins Bericht, liest, kann man sich schnell vergewissern, daß sie fast noch eine Abschrift des Berichts darstellen. Von vier selbsterfundenen Kursepisoden abgesehen orientierte sich Büchner wörtlich an Oberlins Bericht mit dem Unterschied, daß Oberlin von sich selbst natürlich in der 1. Person, Büchner dagegen von Oberlin ebenso natürlich in der 3. Person erzählte. Dem Erzähler dieser Passagen ist Lenz’ Innenleben verschlossen; er kann deshalb nur vermuten, was Lenz in der Einsamkeit der Nächte empfindet, ja er kann nicht einmal aus eigener Autorität beschreiben, wie Lenz’ angstvolles Stöhnen klingt. Eine eigene durchgehende Gestaltungsabsicht Büchners ist hier ebenso wenig erkennbar und wie eine klare Vorstellung von der spezifischen Natur von Lenz’ Erkrankung.

Einem anderen Erzählverfahren folgt dagegen die Passage „Sein Zustand war indessen“ bis „versetzte sich sonst einen heftigen physischen Schmerz“. In ihr spricht ein wissenschaftlich gut informierter Erzähler und faßt zusammen, wie sich Lenz’ Krankheit im Laufe der Zeit entwickelt, welche unterschiedlichen Zustände Lenz dabei durchlebt, und wie sich ‚differentialdiagnostisch’ unterscheiden lasse, ob Lenz tatsächlich Selbstmordabsichten verfolgt oder aber sich nur Schmerz zufügen will. Wie die Erläuterungen zeigen, ist diese Passage voll von psychiatrisch-diagnostischen Einsichten. Vermutlich handelt es sich hierbei um einen zweiten, experimentierenden Entwurf, mit dem sich Büchner von Oberlins Erzählstil zu lösen versuchte.

In dem später auf letzter Stufe niedergeschriebenem Entwurf gab er dieses quasi-wissenschaftliche Erzählverfahren zugunsten eines personalen Erzählens auf und es ist kaum übertrieben, wenn man sagt, er habe damit ervolutionierend gewirkt. Welche hochgradig beunruhigende Wirkung dieses Erzählverfahren hervorrief, läßt sich an einigen frühen Rezensionen der Erzählung ablesen. So schrieb der Vormärzliterat Hermann Marggraff 1843 in den „Blättern für literarische Unterhaltung“[1]: „dabei hat die Erzählung selbst so etwas wüst Träumerisches, so etwas Halbwahnsinniges, sie wälzt und wühlt und kugelt sich so unheimlich durch seltsame bald knapp abgebrochene, bald traumhaft verlängerte Wortwindungen und Satzverschlingungen, […] daß es dem Leser fast erscheint, als lese er hier nicht die Novelle eines Zweiten über einen Wahnsinnigen, sondern habe es mit diesem selbst zu thun.“ Und der einflußreiche Literarhistoriker und Kritiker Julian Schmidt wandte sich 1851 gegen jede literarische Darstellung psychischer Krankheiten und vermerkte speziell zu „Lenz“: „Am schlimmsten ist es, wenn sich der Dichter so in die zerrissene Seele seines Gegenstandes versetzt, daß sich ihm selber die Welt im Fiebertraum dreht. Das ist hier der Fall.“[2]

Mitte Juli 1835 erhielt Büchner Druckexemplare von Danton’s Tod und wenig später außerdem dringlichere Aufforderungen Karl Gutzkows: „Geben Sie bald ein zweites Buch: Ihren Lenz, (für den ich schon einen beßern Verleger habe)“. Gutzkow teilte außerdem mit, daß er eine literarische Zeitschrift von nationaler Bedeutung ins Leben rufen wolle, und daß er sich „bei diesem Unternehmen ernstlich auf [Büchner] verlassen möchte.“ Er erwarte eine eindeutige Bereitschaftserklärung: „Schreiben Sie mir sobald Sie können […], ob ich, monatlich wenigstens 1 Artikel, (spekulativ, poetisch, kritisch, quidquid fert animus) von Ihnen erwarten darf?“

In einem nicht überlieferten Brief erwiderte Büchner, daß er für monatliche Beiträge nicht in Frage komme, und erhielt als Antwort: „Ich hatte sicher auf Sie gerechnet, ich spekulirte auf lauter Jungfernerzeugnisse, Gedankenblitze aus erster Hand, Lenziana, subjektiv & objektiv […]. In der That, lieber Büchner, häuten Sie sich zum 2ten Male: geben Sie uns, wenn weiter nichts im Anfang, Erinnerungen an Lenz:  da scheinen Sie Thatsachen zu haben, die leicht aufgezeichnet sind. Ihr Name ist einmal heraus, jezt fangen Sie an, geniale Beweise für denselben zu führen.“ In dem 1837 verfaßten Nachruf berichtete Gutzkow von Büchners jetzt positiverer Reaktion auf den Journal-Plan (Gutzkow 1837, [345]: „G. Büchner sprach dem Unternehmen Muth zu. Er wollte hülfreiche Hand leisten“). Dies wird bestätigt durch einen Brief Büchenrs an seine Eltern vom Oktober 1835. In ihm wurden die Grundlage des Projekts („allerhand interessante Notizen über einen Freund Goethe’s, einen unglücklichen Poeten Namens Lenz […], der sich gleichzeitig mit Goethe hier aufhielt und halb verrückt wurde“) und mit dem Satz „Ich denke darüber einen Aufsatz in der deutschen Revue erscheinen zu lassen“ auch dessen Umfang und der vorgesehene Druckort erstmals genannt. Um diese Zeit also dürfte sich Büchner vor allem mit der Ausarbeitung seiner Erzählung beschäftigt und die der letzten Entwurfsstufe angehörenden Teile (vom Beginn bis „die Sünde in den heiligen Geist stand vor ihm“ und den Schluss) niedergeschrieben haben.

Daß Büchner das „Lenz“-Projekt dennoch nicht zu Ende führte, hing teils mit Veränderungen der politischen Lage, teils auch mit der eigenen beruflichen Situation zusammen. Ab September 1835 wurde gegen Gutzkow und andere Literaten eine breit angelegten Presse- und Justizkampagne entfesselt, die in Gutzkows Verhaftung und einem per Bundestagsbeschluß verfügten Berufsverbot für ihn und andere oppositionelle Literaten gipfelte. Für Büchner, entfiel damit die unmittelbare Publikationsmöglichkeit, zugleich aber auch der Zeitdruck zur Fertigstellung des „Lenz“. Zwar schrieb er den Eltern am 1. Januar 1836: „Das Verbot der deutschen Revue schadet mir nichts. Einige Artikel, die für sie bereit lagen, kann ich an den Phönix schicken“; jedoch ist von Versuchen, diese oder eine andere Zeitschrift für eine Publikation zu gewinnen, nichts bekannt. Vermutlich war Büchner um so geneigter, den Text vorerst liegen zu lassen, als bis zum Frühjahr 1836 die Abfassung seiner Dissertation, des „Mémoire sur le système nerveux du barbeau“, und anschließend die Bemühungen um eine Dozentur an der Universität Zürich Vorrang hatten. Außerdem dürfte er, der sich als Dichter an Shakespeare orientierte, Erzählungen ohnehin keinen zentralen Platz in seinem Werk eingeräumt haben. Im Brief vom 1. Januar 1836, in dem er seinen Eltern das vorläufige Scheitern des Publikations-Projekts mitteilte, schrieb er: „Ich gehe meinen Weg für mich und bleibe auf dem Felde des Drama’s“.

Ob Büchner das „Lenz“-Projekt damit endgültig aufgab, ist unklar. Für diese Annahme spricht, daß einige Elemente aus „Lenz“ in kaum veränderter Form in „Leonce“ und Lena wieder auftauchen. Diese Elemente entstammen allerdings dem frühen Entwurf des „Lenz“, und Büchner hätte sie bei der Überarbeitung vermutlich nicht in den endgültigen Text übernommen. Für die entgegengesetzte Annahme, also für ein fortdauerndes Interesse an dem Projekt, sprechen die Tatsachen, daß Büchner die ihm von August Stöber überlassenen „werthvollen Bücher und Manuskripte“ (Jaeglé an August Stöber, 7. März 1837) bis zu seiner Abreise nach Zürich (am 18. Oktober 1836) bei sich behielt und daß er die „Lenz“-Manuskripte nicht etwa in Straßburg zurückließ, sondern nach Zürich mitnahm. Auch ist anzunehmen, daß Büchner zwei Verse eines Kirchenliedes, die auch im „Woyzeck“ auftauchen, erst in Zürich, also nach Oktober 1836, in das „Lenz“-Manuskript eintrug.

5. Überlieferung und erste Publikation

In seinem „Nekrolog“ vom 28. Februar 1837 berichtete Büchners Freund Wilhelm Schulz über die Funde in Büchners Nachlaß sowie über Büchners Tätigkeiten während des zweiten Aufenthalts in Straßburg: „In derselben Zeit [d. i. 1835/36 in Straßburg] und später zu Zürich vollendete er ein im Manuskript vorliegendes Lustspiel,  Leonce und Lena, voll Geist, Witz und kecker Laune. Außerdem findet sich unter seinen hinterlassenen Schriften ein beinahe vollendetes Drama, sowie das Fragment einer Novelle, welche die letzten Lebenstage des so bedeutenden als unglücklichen Dichters Lenz zum Gegenstande hat. Diese Schriften werden demnächst im Druck erscheinen“ (Schulz 1837). Wilhelm Schulz ist der einzige Zeuge, der sich nach Sichtung des handschriftlichen Materials über den Vollendungsgrad des „Lenz“ geäußert hat. Die Formulierung „Fragment einer Novelle“ wiederholte er 1845 (Schulz/Welcker 12) und in leichter Variation 1851 („Sammlung der Notizen zu seinem Novellenfragmente und dessen Ausarbeitung“; Schulz 1851, 67). Die dann häufiger wiederholte Behauptung, „Lenz“ sei nicht als Fragment zu betrachten, wurde erst 1851 von Julian Schmidt aufgrund der Lektüre des durch Ludwig Büchner 1850 überarbeiteten Textes aufgestellt.

Vermutlich durch einen Zeitungsbericht vom Mai 1837 erfuhr Karl Gutzkow von Büchners Tod. Er reagierte auf diese Nachricht mit der Veröffentlichung seines Nachrufs „Ein Kind der neuen Zeit“, der im Juni 1837 in den Nummern 42 bis 44 des „Frankfurter Telegraph. (Neue Folge.)“ erschien. Gutzkow erinnerte sich irrtümlich an Pläne Büchners zu „einem Lustspiele, wo Lenzim Hintergrund stehen sollte“, und schrieb weiter: „Er [Büchner] wollte viel Neues und Wunderliches über diesen Jugendfreund Göthes erfahren haben, viel Neues über Friederiken und ihre spätere Bekanntschaft mit Lenz. Ich höre, daß sich in seinem Nachlaße Einiges von der Ausarbeitung dieses Stoffes vorgefunden haben soll. Möchte es in fromme Hände gekommen sein, die es durch geordnete Herausgabe zu ehren wissen!“ (Gutzkow 1837, [345].) Daraufhin wandte sich Jaeglé in einem nicht überlieferten Brief an Gutzkow und wies auf publizierbare poetische Werke hin, die sich im Nachlaß gefunden hatten. Mit Brief vom 30. August 1837 informierte dieser sie über eigene umfassendere Publikationspläne und erbat „Alles […], was Sie von Büchner haben!“, darunter namentlich die schon von Jaeglé angedeuteten „Produktionen, fertige u Fragmente“, „Büchners Züricher Dissertation“ sowie etwaige, auch für Außenstehende mitteilbare „Briefe“. Er wolle „das kleine Denkmal, was ich ihm schon zu setzen versuchte, damit noch zu einem größern, seines Namens würdigeren ausbauen“. Offenbar dachte Gutzkow an Originalmanuskripte aus dem Nachlaß; er wolle „dies Material“ selbst „sichten, ordnen, u in die literarische Welt als ein Ganzes einführen!“ Er versprach: „Einen Buchhändler werd’ ich schon aufbringen, der mit mir gemeinschaftlich verführe.“ Auch bat er Jaeglé, ihm „bei der Arbeit behülflich zu seyn.“ Er rechne auf „ein Buch“ von mehr „als 20 Bogen“, so daß die Zensur „milder verfahren“ werde als bei Zeitschriften-Veröffentlichungen (vgl. Hauschild 1985, 64; hier zit. nach der Handschrift; GSA).

Von dem Konvolut des „Lenz“ in Büchners Nachlaß fertigte Jaeglé eine Abschrift, die Gutzkow als die „Bruchstücke vom Lenz“ (an Jaeglé, 26. Juni 1838) bezeichnete und die er selbst zum „Fragment des  Lenz“ (Gutzkow 1838, 49) vereinheitlichte. Der Erstdruck d1, dessen Anordnung der Bruchstücke diese Ausgabe in den Teilen „Emendierter Text“ und „Quellenbezogener Text“ weiterhin folgt, enthält noch äußere Merkmale der Bruchstückhaftigkeit (s. u. S. n3.2.4.). Gutzkow veröffentlichte die Erzählung als „Lenz.  Eine Reliquie von Georg Büchner“ im Telegraph für Deutschland [redigiert von Karl Gutzkow], Hamburg: Hoffmann und Campe, Januar 1839. Unser Druck folgt diesem Erstdruck (d1).

Vgl. auch die Darstellung des „Lenz“ in Marburger Büchner-Ausgabe Bd. V, S. 3 – 73.

[1] Leipzig, Nr. 290–293, 17.–20. Okt. 1843; hier Nr. 293, S. 1173; neu aufgefunden von Thomas Michael Mayer.

[2] Ebd.