Eroberung der Burg Antonia, des Tempels und der Altstadt

Eroberung der Burg Antonia, des Tempels und der Altstadt

(Josefus’ Krieg V) Am fünften Tage ließ Titus, da die Juden noch immer nicht mit Friedensvorschlägen herausrücken wollten, sein Heer sich in zwei Teile teilen und begann mit dem einen der Antonia gegenüber, mit der andern beim Grabmal des Johannes[1] Dämme aufzuwerfen. Von letzterem Punkte aus wollte er die Oberstadt, von der Antonia aus den Tempel zu nehmen; denn solange er diesen nicht erobert hatte, war an den sicheren Besitz der Stadt nicht zu denken. Die Juden aber störten diesmal den Bau der Dämme empfindlich mit Hilfe der dreihundert Pfeilgeschütze und der vierzig Steinwerfer, die sie seiner Zeit der Besatzung der Antonia und dem Cestius abgenommen und deren Gebrauch sie inzwischen gelernt hatten.

Da Titus wußte daß man mit Worten oft mehr auszurichten imstande ist als mit Waffengewalt, so ermahnte er nicht nur selbst die Belagerten, die schon halb eroberte Stadt durch Übergabe zu retten, sondern sandte auch, in der Hoffnung, ein Landsmann möchte vielleicht größeres Entgegenkommen bei ihnen finden, Josefus ab, um ihnen in ihrer Muttersprache zuzureden. Aber auch Josefus vermochte die Aufrührer nicht zur Nachgiebigkeit zu bewegen, so sehr er sich auch bemühte ihnen zu beweisen daß weiterer Widerstand zwecklos sei wegen der Überlegenheit der Römer, wegen der drohenden Hungersnot und weil sie, statt auf Gott zu vertrauen, zur Eigenhilfe gegriffen hatten.

(10) Die Worte des Josefus hatten nur den Erfolg, daß nun im Volke eine stärkere Bewegung zu Gunsten der Übergabe entstand. Manche verkauften ihren Grundbesitz oder sonstige Wertsachen zu Spottpreisen und liefen zu den Römern über. Titus ließ die meisten nach beliebigen Orten des Landes weiterziehen. Die Männer des Johannes und Simon aber suchten die Flucht aus der Stadt auf jede Weise zu verhindern; und auf wen auch nur ein Schatten von Verdacht fiel, der wurde ohne weiteres niedergestoßen. Für die Wohlhabenden war übrigens das Verbleiben in der Stadt ebenso gefährlich wie die Flucht; denn unter dem Vorwande, er wolle überlaufen, wurde mancher seines Vermögens wegen umgebracht.

Mit der Hungersnot stieg die Wut der Aufrührer. Da offen nirgends mehr Getreide zu sehen war, so drangen sie in die Häuser ein und durchsuchten sie; fand sich etwas, so mißhandelten sie die Bewohner. Ob Lebensmittel vorhanden seien oder nicht, schloß man aus dem körperlichen Zustand der Bewohner: wer noch wohlgenährt aussah, von dem nahm man an, daß er Vorräte habe. Viele reiche Bürger gaben heimlich ihr Vermögen hin für ein einziges Maß Weizen, weniger reiche für ein Maß Gerste; dann schlossen sie sich in die verborgensten Winkel ihrer Häuser ein und verzehrten in ihrem Heißhunger das Getreide ungemahlen oder buken es selbst, denn überall lauerten die Späher. Stärker als alle Begierden ist der Hunger und nichts zerstört jede Scheu so wie er; so rissen hier Frauen ihren Männern, Kinder ihren Vätern, ja Mütter ihren Säuglingen die Speisen aus dem Munde. Die Peiniger selbst aber litten durchaus keinen Hunger: trafen sie jemand der sich bei Nacht in die Nähe der römischen Posten geschlichen hatte, um wild wachsende Kräuter zu sammeln, so nahmen sie ihm, wenn er glaubte den Feinden entkommen zu sein, alles wieder ab.

(11) Meist waren es Leute aus den niederen Schichten, die auf der Suche nach Nahrung in die Täler hinabstiegen. Wurden sie von römischen Reitern erwischt, so wehrten sie sich unwillkürlich; hatten sie aber einmal Widerstand geleistet, so war es zu spät, um um Gnade zu bitten; sie mußten nun die Geißelung und alle möglichen Mißhandlungen über sich ergehn lassen und wurden dann angesichts der Stadtmauer gekreuzigt. Täglich wurden so fünfhundert und mehr Gefangene eingebracht. Der Hauptgrund, weshalb Titus die Hinrichtung der Gefangenen zuließ, war seine Hoffnung, der Anblick werde die Belagerten zur Nachgiebigkeit bewegen. Voll Wut nagelten die Soldaten die Gefangenen in den verschiedensten Körperlagen an; da ihrer so viel waren, gebrach es bald an Kreuzen. Weit entfernt jedoch, auf dies grauenhafte Schauspiel hin ihren Sinn zu ändern, benutzten die Aufrührer es vielmehr dazu, das Volk umzustimmen. Sie schleppten die Angehörigen der Gekreuzigten und die Bürger, die auf Übergabe drangen, auf die Mauer und zeigten ihnen, was die zu erdulden hätten, die, wie sie sagten, zum Feinde geflohen wären.

Viele Gefangene schickte übrigens Titus mit abgehauenen Händen an Johannes und Simon zurück und ließ ihnen vorstellen, sie möchten endlich einhalten und nicht nur ihr eigenes Leben sondern auch ihre herrliche Vaterstadt und den Tempel retten. Die Antwort der auf der Mauer stehnden Juden aber bestand darin, daß sie, wenn Titus den Bau der Dämme besichtigte, ihn und seinen Vater beschimpften. Der Tod, riefen sie, sei ihnen lieber als die Knechtschaft; sie würden den Römern schaden, solange Atem in ihnen sei; an ihrer Stadt liege ihnen nicht das mindeste; und was den Tempel betreffe, so habe Gott noch einen besseren Tempel als diesen, nämlich die Welt; doch auch der Tempel Jerusalems werde gerettet werden von dem, dessen Wohnung er sei; im Bunde mit Gott verlachten sie jede Drohung.

Nach siebzehntägiger unausgesetzter Arbeit hatten die Römer den Bau der Dämme vollendet. Johannes aber hatte unterdessen von der Burg Antonia aus einen unterirdischen Gang bis unter die Dämme graben lassen, diesen durch Pfähle abgestützt und Holz hineingetan das mit Pech und Erdharz bestrichen war. Jetzt ließ er es anzünden. Als nun die Pfähle verbrannt waren, fiel der Gang ein und stürzten die Dämme mit lautem Krachen nach. Zwei Tage später griff Simon die gegen ihn errichteten Dämme an, auf denen die Römer schon die Sturmböcke herangerückt hatten. Es gelang ihm, das Belagerungsgerät und die Dämme in Brand zu stecken und die Römer in ihr Lager zurückzuwerfen. Erst durch einen Flankenangriff des Titus wurden die Juden gezwungen, sich wieder in die Stadt zurückzuziehen. Die Römer aber waren durch die Vernichtung der Dämme völlig entmutigt, da sie die Arbeit vieler Tage in einer Stunde vernichtet sahen.

(12) Titus hielt nun Kriegsrat mit seinen Generälen. Die hitzigeren waren der Meinung, man solle mit dem ganzen Heere auf einmal die Mauern zu erstürmen suchen; die Juden würden dem Hagel der Geschosse und dem Anprall der Masse nicht standhalten. Die vorsichtigeren dagegen rieten, abermals Dämme zu bauen oder einfach das Verlassen der Stadt und die Einfuhr von Lebensmitteln zu verhindern, um so die Stadt dem Hunger preiszugeben; es sei nicht ratsam, mit Verzweifelten zu kämpfen. Da Titus sich von einem Sturm auf die Stadt unter den gegenwärtigen Verhältnissen nichts versprach, auch kein Holz zum Bau neuer Dämme hatte, so entschied er sich, die ganze Stadt mit einer Mauer zu umschließen, um jede Verbindung der Belagerten mit der Außenwelt abzuschneiden. Durch einen wunderbaren Wetteifer des ganzen Heeres wurde diese Mauer in drei Tagen vollendet. Sie erstreckte sich vom Assyrerlager aus, wo Titus sein Hauptquartier hatte, quer durch die Neustadt und das Kidrontal bis auf den Ölberg und umschloß, von da nach Süden, dann nach Westen und schließlich wieder zum Assyrerlager nach Norden umdrehend, das Kidrontal und die südlich und westlich der Stadt liegenden Täler. Ihre Gesamtlänge betrug neununddreißig Stadien. Außen waren an sie dreizehn Wachtkastelle gebaut.

Mit der Möglichkeit, aus der Stadt zu entkommen, war den Juden jede Aussicht auf Rettung abgeschnitten; und die Hungersnot, die nun immer schrecklicher wurde, raffte das Volk häuser- und familienweise dahin. Die Dächer lagen voll entkräfteter Frauen und Kinder, die Gassen voll toter Greise; Knaben und junger Männer, krankhaft angeschwollen, wankten wie Gespenster über die Plätze. Anfangs hatte man die Toten noch auf Staatskosten begraben; als aber der Leichen gar zu viel wurde, warf man sie einfach von den Mauern die Abhänge hinunter. Da jedoch all dieser Jammer die Aufrührer nicht nachgiebig machte, so begann Titus neue Dämme zu errichten, so schwer sich auch das Bauholz beschaffen ließ; denn für die früheren Werke bereits alle Bäume im Umkreis der Stadt gefällt, und so mußten die Soldaten jetzt anderes Holz aus einer Entfernung bis zu neunzig Stadien herbeiholen.

(13) Als beim Volke nichts mehr zu holen war, verlegte sich Johannes auf die Beraubung des Tempels. Eine Menge der hier befindlichen Weihgeschenke ließ er einschmelzen; nicht einmal die von Augustus und seiner Gemahlin gestifteten Weinkrüge verschonte er. Ohne Bedenken, so sagte er,  dürfe man Gott geweihte Gegenstände für die Gottheit verwenden und dürften die, die für das Heiligtum kämpften, auch von ihm leben. Deshalb holte er auch das im inneren Vorhof aufbewahrte heilige Öl und den heiligen Wein und verteilte beides an seine Männer.

(VI 1) In einundzwanzig Tagen vollendeten die Römer den Bau der neuen Dämme, ohne daß es diesmal den Juden gelungen wäre sie in Brand zu stecken oder zu untergraben. Wahrhaft kläglich war jetzt die Umgebung Jerusalems anzuschauen: sie, die zuvor im reichen Schmuck der Bäume und Gärten geprangt hatte, war jetzt überall verwüstet. Sofort wurden die Widder eingesetzt. Da aber die Römer dabei durch Steinwürfe empfindliche Verluste erlitten, so bildeten einige von ihnen mit ihren Schilden ein Schutzdach über sich und brachen mit unsäglicher Mühe vier Quadern aus den Fundamenten der Burg Antonia. In der Nacht stürzte der von den Widdern erschütterte Teil der Mauer zusammen. Die Römer waren aber sehr enttäuscht, als sie nun eine zweite Mauer vor sich sahen, die Johannes inzwischen hinter der eingestürzten hatte errichten lassen. Doch Titus ermutigte die tapfersten seiner Krieger zu einem kühnen Handstreich auf diese: „Wer wüßte nicht,“ sagte er, „daß der Äther, das reinste Element, die Seelen der Tapferen, die im Schlachtgetümmel durchs Schwert vom Leibe befreit sind, aufnimmt und unter die Gestirne versetzt, von wo sie als gute Geister und gnädige Heroen ihren Nachkommen erscheinen, während die in kranken Leibern dahinsiechenden, und wären sie auch noch so rein von Sünde und Befleckung, in der Nacht der Unterwelt verschwinden, wo tiefe Vergessenheit sie umfängt und ihnen Leib Leben und Nachruhm auf einmal genommen sind?“ Daraufhin taten sich vierundzwanzig beherzte Männer zusammen, darunter der Adlerträger der V. Legion und ein Trompeter, erstiegen gegen Ende der Nacht die neue Mauer, machten die schlafenden jüdischen Posten nieder und ließen den Trompeter das Signal blasen. Sofort stieg Titus an der Spitze einer auserlesenen Schar nach. Die völlig überraschten Juden flohen aus der Antonia in den Tempel. Hier konnten sie sich, nachdem der Kampf zehn Stunden lang hin und her gewogt hatte, behaupten.

(2) Als Titus erfuhr daß die Juden das tägliche Opfer für die Gottheit zum größten Schmerz des Volkes eingestellt hatten, ließ er Johannes nochmals durch Josefus auffordern, mit beliebig vielen Kriegern herauszukommen, wenn gar so wilde Kampflust ihn beseele, nicht aber gegen Gott zu freveln und das Heiligtum zu beflecken. Die Aufrührer setzten aber nur um so erbitterter den Kampf gegen die Römer fort. Jetzt stellte Titus aus je dreißig tapfersten Soldaten jeder Centurie Sturmabteilungen von je tausend Mann zusammen und befahl ihnen, gegen Ende der Nacht den Tempel zu erstürmen. Diesmal aber waren die jüdischen Posten auf der Hut, und nach achtstündigem erbittertem Ringen mußten die Römer ihren Versuch aufgeben.

Der übrige Teil des römischen Heeres zerstörte unterdessen in siebentägiger Arbeit die Grundmauern der Antonia und ebnete einen breiten Weg bis zum Tempel. Danach begannen die Legionen vier Dämme gegen den Tempelplatz zu bauen. Der Bau war jedoch mit großer Mühe und vielen Schwierigkeiten verknüpft: unter anderem mußte das Baumaterial aus einer Entfernung bis zu hundert Stadien herbeigeschafft werden.

(3) Einige Tage später griffen die Aufrührer zu einer List: sie füllten die Zwischenräume zwischen dem Gebälk und dem Dache der westlichen Halle mit trocknem Holz Erdharz und Pech und zogen sich dann, scheinbar ermattet, zurück. Als nun viele Römer allzu stürmisch den Weichenden nachsetzten und die Halle mit Hilfe von Leitern erkletterteten, steckten die Juden sie ihrer ganzen Länge nach in Brand. Von allen Seiten loderten die Flammen empor und setzten die Eingedrungenen in helle Verzweiflung. Rings vom Feuer umgeben, stürzten sie sich teils kopfüber in die hinter ihnen liegende Stadt hinunter, teils mitten in den Schwarm der Feinde; viele versuchten auch, sich durch kühnen Sprung zu den Ihrigen zu retten, blieben aber mit zerschmetterten Gliedern liegen; manche kamen dem Feuer dadurch zuvor, daß sie sich selbst entleibten. Ohnmächtig mußte Titus dem allen zusehen.

Die Hungersnot hatte jetzt den höchsten Grad erreicht. Die besten Freunde wurden handgemein mit einander und suchten sich die armseligsten Brocken zur Fristung ihres Daseins zu entreißen. Wie tolle Hunde liefen sie umher und brachen in die Häuser ein, um nach Eßbarem zu suchen. Die ekelhaftesten Dinge scheuten sie sich nicht zu verzehren.

Gern würde ich, um nicht bei der Nachwelt in den Ruf eines Märchenerzählers zu kommen, eine Tat verschweigen, so schauderhaft, daß dergleichen weder bei Griechen noch bei Barbaren je verübt ward; aber ich habe dafür unzählige Zeugen unter meinen Zeitgenossen. Eine reiche Frau aus Peräa namens Maria war mit vielen andern nach Jerusalem geflohen, wo sie die Belagerung mit durchmachte. Ihre Habe und ihre Lebensmittel hatten ihr die Aufrührer geraubt; jetzt ging ihr der Hunger durch Mark und Bein. Da ergriff sie in ihrer Verzweiflung ihr Kind, einen Säugling, und sagte: „Unglückliches Knäblein! bei Krieg Hunger und Aufruhr – wofür soll ich dich da erhalten? Bei den Römern harrt unser die Knechtschaft, falls wir überhaupt so lange am Leben bleiben; denn vor der Knechtschaft ist schon der Hunger da, und die Aufrührer sind grausamer als beides. Wohlan denn, werde du mir Speise, den Tyrannen ein Rachegeist, der Nachwelt eine Fabel!“ Mit diesen Worten schlachtet sie ihr Kind, brät es und verzehrt die eine Hälfte; die andere bedeckt und verwahrt sie. Im Nu aber sind jetzt die Aufrührer wieder da, weil sie den fluchwürdigen Bratenduft wittern, und drohen ihr mit augenblicklicher Ermordung, wenn sie nicht zeige was sie zubereitet habe. Da deckt sie mit den Worten: „Hier hab ich für euch noch ein schönes Stück aufgespart!“ die Reste ihres Kindes auf. Schauder und Entsetzen ergriff die Räuber, und sie standen bei diesem Anblick wie festgewurzelt; zitternd schlichen sie hinaus und ließen, wiewohl ungern, der Mutter das scheußliche Mahl.

(4) Als die Legionen die Dämme vollendet hatten, ließ Titus die Widder gegen die westliche Halle des inneren Vorhofs heranbringen. Schon eh dies geschah, hatte der stärkste Widder sechs Tage lang die Mauerwand gerammt, ohne das mindeste gegen sie ausrichten zu können; auch jetzt wiederstanden ihre Quadern den neu hinzugekommenen Maschinen. Da lehnten die Römer Leitern an die Halle. Die Juden gaben sich keine Mühe, sie dabei zu stören; kaum aber waren die Römer oben, als die Juden sich ihnen entgegenwarfen und sie rücklings von der Mauer hinunterstießen oder sie gegen die Brüstung drängten und niedermachten; viele kamen auch dadurch um, daß die Juden die Leitern, die auf denen sie standen, von oben her umkippten.

Als Titus erkannte daß die Schonung des fremden Heiligtums seinen Soldaten nur Tod und Verderben bringe, befahl er Feuer an die Tore zu legen. Bald loderten die Flammen zum Gebälk empor, von wo sie prasselnd die Hallen ergriffen. Den ganzen Tag und die folgende Nacht hindurch wütete das Feuer. Am nächsten Tage beorderte Titus einen Teil des Heeres zum Löschen.

Darauf beschied er seinen Generalfeldmarschall Tiberius Alexander, die Legionskommandöre Statthalter und Kriegstribunen zu sich und hielt mit ihnen Kriegsrat wegen des Tempels. Die einen meinten, man solle dem Kriegsrecht freien Lauf lassen; denn solange der Tempel, dieser Versammlungspunkt aller Juden, noch stehe, würden sie niemals aufhören an Empörung zu denken. Andere äußerten, man solle, wenn die Juden den Tempel räumten, ihn schonen, wenn sie aber bei ihrem Widerstand beharrten, ihn verbrennen, denn dann sei er eben eine Festung und kein Tempel. Titus aber hielt dafür, man dürfe unter keinen Umständen ein so herrliches Bauwerk den Flammen preisgeben, denn der Schade treffe im Grunde ja doch die Römer, wie umgekehrt der Tempel, wenn er erhalten bliebe, eine Zierde des Reiches sein würde.

Titus wollte nun am übernächsten Tage in aller Frühe mit seinem ganzen Heere den Tempel angreifen. Doch bevor es dazu kam, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Bei einem Handgemenge nämlich zwischen der Besatzung des Tempelplatzes und den von Titus zum Löschen beorderten Mannschaften gelang es den Römern, bis zum Tempel vorzudringen; und nun ergriff einer der Soldaten, ohne Befehl abzuwarten oder die schlimmen Folgen seiner Tat zu bedenken, wie auf höheren Antrieb einen Feuerbrand und schleuderte ihn, von einem Kameraden emporgehoben, in das goldene Türchen, durch das man in die den Tempel umgebenden Kammern gelangte. Als die Flammen aufloderten, erhoben die Juden ein gewaltiges Geschrei und rannten von allen Seiten herbei, dem Feuer zu wehren. Ein Eilbote meldete es Titus. Sofort sprang dieser von seinem Lager auf und lief zum Tempel, dem Brande Einhalt zu tun; alle Generäle und die Legionen ihm nach. So entstand ein wildes Getümmel, dem Titus durch Rufe und Handbewegungen vergeblich zu wehren suchte; die Wut allein führte jetzt das Kommando. Die hinten Stehnden schrien ihren Vordermännern zu, sie sollten Feuer in den Tempel werfen.

Als Titus dem Ungestüm seiner wie rasend gewordenen Soldaten nicht mehr zu wehren vermochte, betrat er mit seinem Gefolge das Allerheiligste und beschaute was darin war. Alles fand er weit erhaben über den Ruf den es bei Fremden genoß. Da übrigens das Feuer noch nicht bis in die innersten Räume gedrungen war, glaubte er den eigentlichen Tempel noch retten zu können. Er sprang also hinaus und suchte nicht nur persönlich die Soldaten zum Löschen anzuhalten, sondern befahl auch einem Centurio seiner Leibwache, die Widerspenstigen durch Stockschläge zu zwingen. Aber Judenhaß und allgemeine Kampfwut waren stärker als die Scheu vor dem Feldherrn und die Furcht vor dem er sie hindern wollte. Die meisten feuerte außerdem die Hoffnung auf Raub an, da sie fest überzeugt waren, es müsse, weil sie die Außenseite des Tempels ganz mit Gold bedeckt sahen, sein Inneres erst recht von Schätzen aller Art strotzen. So ging der Tempel gegen den Willen des Titus in Flammen auf.

(5) Das Räubergesindel schlug sich in den äußeren Vorhof und von da in die Stadt durch. Frauen Kinder und sonstiges Volk aber, etwa sechstausend Menschen, flohen in die noch unversehrte Halle des äußeren Vorhofs. Ohne einen Befehl des Titus oder der Offiziere zündeten die Soldaten in ihrer Wut die Halle an; und so kamen die einen in den Flammen um, die andern dadurch daß sie sich von der Halle hinunterstürzten; von der ganzen Menge blieb auch nicht einer am Leben.

Die Schuld an ihrem Untergang trug übrigens ein falscher Profet, der an jenem Tage den Bewohnern der Stadt vorgelogen hatte, Gott heiße sie zum Tempel hinaufsteigen, damit sie dort die Zeichen ihrer Rettung schauten. Solche Profeten sandten die Tyrannen damals öfter unter das Volk, um es davon abzuhalten, zu den Römern überzulaufen. Im Unglück läßt sich ja der Mensch so leicht bereden; und wenn gar ein Betrüger kommt und ihm Befreiung von dem drückenden Elend vorspiegelt, geht der Leidende ganz in Hoffnung auf.

So wurde das beklagenswerte Volk damals von Betrügern beschwatzt, die sich als von Gott gesandt ausgaben; den klaren, die künftige Verwüstung andeutenden Vorzeichen dagegen schenkten sie keinen Glauben. So stand z. B. ein schwertähnliches Gestirn über der Stadt und blieb ein Komet ein ganzes Jahr lang am Himmel stehn. Ferner umstrahlte, als das Volk kurz vor dem Aufstand beim Fest der Ungesäuerten Brote versammelt war, um die neunte Stunde fast eine halbe Stunde lang ein so starkes Licht den Altar und den Tempel, daß man hätte glauben sollen, es sei heller Tag. Die Unkundigen zwar sahen darin ein gutes Vorzeichen; von den Schriftgelehrten aber wurde es sogleich auf das gedeutet was nachher eintraf. An demselben Tage warf eine Kuh, die der Hohepriester als Schlachtopfer zum Altar führte, mitten im Tempel ein Lamm. Sodann sah man das östliche Tor des inneren Vorhofs, das doch von Erz und so schwer war, daß zwanzig Mann es nur mit Mühe abends schließen konnten, und das durch eisenbeschlagene Querbalken zusammengehalten wurde und Riegel hatte, die tief in die aus einem einzigen Steinblock gearbeitete Schwelle eingelassen wurden, um Mitternacht sich plötzlich von selbst öffnen. Abermals legten die Laien diesem Vorfall eine günstige Bedeutung bei: Gott, meinten sie, öffne ihnen das Tor des Heils; die Schriftgelehrten aber entnahmen daraus, daß das Tor den Feinden zulieb sich öffnen werde. Wenige Tage nach dem Fest sah man, wie Augenzeugen berichteten, vor Sonnenuntergang in der Luft Wagen und bewaffnete Scharen durch die Wolken eilen und Städte umkreisen. Weiterhin vernahmen am Pfingstfest die Priester, als sie in der Nacht, wie ihr Dienst es mit sich brachte, den inneren Vorhof betraten, zuerst ein Tosen und Rauschen und dann den vielstimmigen Ruf: „Wir ziehen von hinnen!“

Noch unheimlicher ist folgendes: Jesus Anansohn, ein einfacher Bauer, kam vier Jahre vor Ausbruch des Krieges, als die Stadt sich noch tiefen Friedens und großen Wohlstandes erfreute, zu dem Fest, an dem die Juden Gott zu Ehren Laubhütten errichten, und fing plötzlich auf dem Tempelplatz an zu rufen: „Unheil vom Aufgang, Unheil vom Niedergang, Unheil von den vier Winden, Unheil über Jerusalem und den Tempel, Unheil über Bräutigam und Braut, Unheil über das ganze Volk!“ Tag und Nacht rief er dies in allen Gassen der Stadt. Einige vornehme Bürger, die sich über das Unglücksgeschrei ärgerten, ergriffen und verprügelten ihn. Er aber fuhr immer nur fort, seine Worte zu wiederholen. Die Hohenpriester führten ihn vor den römischen Prokurator Albinus, wo er aber, obwohl bis auf die Knochen durch Geißelhiebe zerfleischt, weder um Gnade bat noch Tränen vergoß, sondern jeden Hieb nur mit dem Ruf erwiderte: „Wehe Jerusalem!“ Als Albinus ihn fragte wer und woher er sei, gab er keine Antwort sondern fuhr nur mit seinen Klagerufen über die Stadt fort, bis Albinus ihn für verrückt erklärte und laufen ließ. Die ganze Zeit bis zum Ausbruch des Krieges sprach er mit niemand, sondern klagte nur Tag für Tag, wie wenn er ein Gebet hersage: „Wehe wehe Jerusalem!“ Er fluchte keinem der ihn schlug, was täglich vorkam, noch dankte er dem der ihm zu essen gab; für niemand hatte er eine andre Antwort als seine Unglücksweissagung. Besonders laut ließ er seinen Ruf an Festtagen erschallen. Obwohl er dies sieben Jahre und fünf Monate lang fortsetzte, wurde seine Stimme nicht matt, bis er endlich bei der Belagerung mit seinen Wehklagen aufhörte. Als er nämlich eines Tages einen Rundgang auf der Mauer machte und dabei immer wieder gellend rief: „Weh der Stadt, dem Volke und dem Tempel!“ und zuletzt hinzufügte: „Weh auch mir!“, traf ihn ein von einem Werfer geschleuderter Stein und machte seinem Leben ein Ende.

Was die Juden am meisten zum Kriege trieb, war ein zweideutiger Orakelspruch der sich in ihren heiligen Schriften fand, daß nämlich um diese Zeit einer aus ihrem Lande die Weltherrschaft erlangen werde. Dies bezogen sie auf einen ihres Stammes, und auch viele ihrer Weisen irrten in der Auslegung des Spruches. In Wirklichkeit wies das Orakel auf Vespasian hin, der in Judäa zum Imperator ausgerufen wurde.[2]

(6) Als die Aufrührer in die Stadt geflohen waren, pflanzten die Römer ihre Feldzeichen gegenüber dem östlichen Tore des inneren Vorhofs auf, opferten ihnen[3] daselbst und begrüßten Titus als Imperator. Die Beute der Soldaten war so reich, daß in Syrien das Gold auf die Hälfte seines Wertes sank. Am fünften Tage kamen die Priester, die bis dahin auf der Tempelmauer ausgeharrt hatten, von Hunger getrieben herab und flehten Titus um Schonung ihres Lebens an. Der aber erklärte, die Zeit der Gnade sei für sie vorüber; nun der Tempel dahin sei, habe er keinen Grund, ihnen das Leben zu schenken. Und so ließ er sie alle hinrichten.

Die Aufrührer baten jetzt um freien Abzug mit Frauen und Kindern; aber Titus wies sie schroff ab. (7) Darauf plünderten die Aufrührer die Hofburg, wohin wegen ihrer Festigkeit viele Juden ihre Schätze gebracht hatten, leerten die Unterstadt rein aus und zogen sich in die Oberstadt zurück. Nun legten die Römer auch die Unterstadt in Asche. (8) Da aber die Oberstadt wegen ihrer Lage auf einem steil abfallenden Hügel nicht ohne Dämme einzunehmen war, gab Titus Befehl, solche zu bauen.

Während dieser Zeit kam ein Priester hervor, dem Titus eidlich Schonung zugesagt hatte, wenn er einige der heiligen Kleinodien ausliefern würde, und brachte aus der Tempelmauer zwei Leuchter, ähnlich den im Tempel aufbewahrten, dazu Tische Mischkrüge und Schalen, alles von lauterem Golde; zugleich übergab er die Vorhänge[4], die hohepriesterlichen Gewänder mit den Edelsteinen und viele beim Gottesdienst verwendete Geräte.

Als nach achtzehntägiger Arbeit die Dämme vollendet waren und die Römer ihr Belagerungsgerät heranbrachten, leisteten die erschöpften Aufrührer nur noch kurze Zeit schwachen Widerstand, dann suchten sie ihr Heil in der Flucht. Sogar die drei nach Hippikus Fasael und Mariame benannten uneinnehmbaren Türme gaben sie kampflos preis. Nach einem vergeblichen Versuch, südlich der Stadt durch die römische Einschließungsmauer durchzubrechen, flüchteten sie in die unterirdischen Gänge, in denen sie bis zum Abzug der Römer vor Entdeckung sicher zu sein glaubten. Unterdes hatten die Römer die Mauern besetzt, die Feldzeichen auf den Türmen aufgepflanzt und unter freudigem Händeklatschen den Siegesgesang angestimmt. Dann stürzten sie sich mit gezückten Schwertern in die Gassen, stießen jeden nieder der ihnen in den Weg kam, steckten die Häuser in Brand, in die sich Juden geflüchtet hatten, und machten reiche Beute. Am achten Tage des sechsten Monats ging die Sonne über den rauchenden Trümmern Jerusalems auf.

(9) Als Titus in die Oberstadt einzog, befahl er, den noch erhaltenen Teil vollends zu zerstören, die Mauern mit Ausnahme der westlichen zu schleifen, die drei Türme aber stehn zu lassen zum Zeugnis für die Nachwelt, wie stark befestigt die Stadt war, die römischer Tapferkeit erlag.

Da immer noch eine große Menge Juden zum Vorschein kam, befahl Titus, nur die Bewaffneten und Widerspenstigen zu töten, die übrigen aber gefangen zu nehmen. Gleichwohl machten die Soldaten außer den von Titus Bezeichneten auch noch die Alten und Schwachen nieder; die Rüstigen aber trieben sie in den Frauenvorhof auf dem Tempelberg. Titus bestellte seinen Freund Fronto dazu, jedem das verdiente Schicksal zuzusprechen. Dieser ließ die Aufrührer und Räuber, die sich alle gegenseitig anzeigten, hinrichten; die schönsten und größten jüngeren Männer aber las er aus, um sie für den Triumfzug aufzubewahren. Von den übrigen Gefangenen schickte Titus die mehr als siebzehn Jahre alten als Arbeiter nach Ägypten; die meisten aber verschenkte er an die Provinzen, wo sie bei den Schauspielen durchs Schwert oder durch wilde Tiere umkommen sollten. Was unter siebzehn Jahren war wurde verkauft. Während Fronto die Auswahl traf, starben übrigens noch elftausend den Hungertod.

Die Gesamtzahl der in diesem Kriege gefangenen Juden belief sich auf 97.000; ums Leben kamen während der Belagerung 1.100.000. Diese Zahl erklärt sich aus der großen Menge der Festteilnehmer, die aus aller Welt zum Feste der Ungesäuerten Brote in Jerusalem zusammenzuströmen pflegte. Um deren Zahl zu schätzen, hatte man einmal die von ihnen geschlachteten Opfertiere gezählt und 255.600 festgestellt. Danach war anzunehmen, daß sich etwa 2.700.000 Festteilnehmer in Jerusalem befanden.

Auch Johannes von Gis-chala war mit seinen Brüdern in die unterirdischen Gänge geflohen; als er aber dort Hunger litt, hielt er endlich doch bei den Römern um die so oft verschmähte Gnade an und wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

(VII 1) Nach Beendigung der Kampfhandlungen belohnte Titus alle Soldaten, die sich durch Tapferkeit ausgezeichnet hatten, mit Beförderungen und reichen Geschenken. Dann ließ er die Siegesopfer darbringen. Eine Menge Stiere wurde auf den Altären und dem Heere dadurch ein reiches Mahl verschafft. Titus selbst schmauste mit seinen Offizieren drei Tage lang. Dann entließ er die fremden Truppen, übertrug der X. Legion die Bewachung Jerusalems, versetzte die XII., weil sie seiner Zeit unter Cestius versagt hatte, zur Strafe an die armenisch-kappadokische Grenze und begab sich mit der V. und XV. nach Cäsarea, wo er auch die unermeßliche Beute und die Kriegsgefangenen unterbringen ließ. Die Fahrt nach Italien verhinderte der Winter. (2) Während des Winters begab er sich für längere Zeit nach Cäsarea Filippi, wo er mancherlei Spiele aufführen ließ. Eine Menge Kriegsgefangener fand dabei den Tod, indem sie entweder wilden Tieren vorgeworfen oder gezwungen wurden gruppenweise mit einander zu kämpfen.

Hier war es auch, daß Titus die Gefangennahme Simons Giorassohn erfuhr, die sich folgendermaßen zutrug: Simon hatte bekanntlich während der Belagerung Jerusalems die Oberstadt inne. Als nun die Römer in diese eingedrungen waren, begab er sich mit seinen vertrautesten Freunden und einigen Steinmetzen, versehen mit den nötigen Werkzeugen und Proviant für viele Tage, in einen der finsteren unterirdischen Gänge. Wo dieser aufhörte gruben sie weiter, in der Hoffnung, bei fernerem Vordringen an einer sicheren Stelle hinausschlüpfen und sich retten zu können. Doch waren sie erst wenige Schritte vorwärts gekommen, als ihnen die Lebensmittel ausgingen. Da zog Simon, um die Römer zu schrecken, ein weißes Hemd an und darüber einen Purpurmantel und stieg da, wo früher der Tempel gestanden, aus der Erde empor. Zuerst wurde es den Soldaten, die ihn sahen, gruselig; dann aber traten sie näher und riefen: „Wer da?“ Simon gab ihnen keine Antwort sondern bat sie, ihren Führer zu holen. Als der von Simon den Sachverhalt erfuhr, ließ er ihn fesseln und machte Titus Meldung. Der befahl, ihn für den Triumf aufzubewahren den er in Rom zu feiern sich anschickte.

Erklärungen

[1] Auch „Grabmal des Hohenpriesters Johannes“ genannt, lag etwas nordöstlich  vom Palast des Herodes.

[2] Eine mehr geniale als ehrliche Undeutung der jüdischen Messiashoffnung.

[3] Als ob sie ihnen den Sieg verliehen hätten.

[4] Des Tempels.