Vorwort

Als Herausgeber einer Dokumentensammlung zum Expressionismus sahen wir uns mit ei­ner Reihe von Problemen konfrontiert, die wir dem Leser nicht vorenthalten wollen. Es waren dies in erster Linie spezielle Probleme des Epochenkonzepts, das man einem solchen Band zweckmäßig zugrundelegen sollte, sowie allgemeinere methodische Probleme dokumentari­scher Projekte überhaupt. Zum problembeladenen Ärgernis geworden ist bekanntlich schon der Name »Expressionismus«. »Also was ist der Expressionismus?« hatte bereits Gottfried Benn in der Einleitung zu der Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955) ungeduldig gefragt: »Ein Konglomerat, eine Seeschlange, das Ungeheuer von Loch Ness, eine Art Ku‑Klux­Klan?« Das Dickicht der Definitionsversuche und Begriffsbestimmungen ist seither noch ge­wachsen, und ein Unbehagen an den Antworten ist geblieben. Das Schlagwort und der Epo­chenbegriff »Expressionismus« gelten auch nach jahrzehntelanger extensiver Forschung als provisorisch. So richtig es ist, sich durch seine inflatorische Verwendung vor naivem Gebrauch gewarnt zu fühlen, und so wenig das Epochenproblem Expressionismus bagatellisiert werden darf, die terminologische Vorsicht und die literarhistorische Skepsis kann man auch übertrei­ben. Wohin sie führen, ist immer wieder einmal zu lesen: leidiger Wortklauberei, definitori­scher Spitzfindigkeiten und der ohnehin willkürlich wirkenden Grenzziehungen überdrüssig, wird da die Existenz des Expressionismus letzten Endes zum Wunschprodukt von Literaturge­schichtsschreibern erklärt. Der hinter solchem Agnostizismus stehende Einwand, die Dinge seien zu verschieden gewesen, als daß man sie alle einem »vereinfachenden« Begriff zuordnen könne, ist nie ganz falsch und daher banal.

Eine »Epoche« der deutschen Literaturgeschichte freilich dokumentiert dieser Band nur in sehr eingeschränktem Sinn. Das sogenannte »expressionistische Jahrzehnt« war weit weniger expressionistisch, als uns das manche Augenzeugen und spätere Interpreten glauben machen möchten. Der literarische »Haushalt« zwischen 1910 und 1920 war durch vieles andere stärker geprägt als durch den »Expressionismus«. Seine Zeit war auch noch die eines keineswegs abge­schlossenen Naturalismus, eines weiter wirksamen Ästhetizismus, eines epigonalen Klassizis­mus oder auch einer antimodernen Heimatkunst. Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Hermann Hesse oder Rainer Maria Rilke, sie alle hatten ja nicht plötzlich zu publizieren aufgehört, sie zählten vielmehr für den gehobenen Leserge­schmack weiterhin zu den dominierenden Schriftstellerpersönlichkeiten – von Publikumslieb­lingen wie Ludwig Ganghofer, Peter Rosegger, Gustav Frenssen oder der Hedwig Courths­Mahler einmal ganz abgesehen. Blättert man in den Feuilletons der großen Tageszeitungen da­mals, so findet man von dem, was uns heute an diesem Jahrzehnt wichtig und vorwärtsweisend [XVI] erscheint, bis 1914 fast nichts angesprochen und noch bis 1918 relativ wenig. Ein später zum »Klassiker der Moderne« avancierter Autor gar, der ein Gutteil seines Oeuvres in diesem Jahrzehnt schrieb und in expressionismusnahen Zeitschriften und Buchreihen veröffentlichte, war damals selbst unter »Insidern« wenig bekannt: Franz Kafka.