Einleitung

5. Dramentheorie und Theaterpraxis

Die späte Publizität des literarischen Expressionismus war ganz eine Sache des Dramas und seiner dramaturgischen Realisation. Daran hat u. a. Gustav Wangenheim im Verlauf der marxi­stischen Expressionismusdebatte nachdrücklich erinnert: »Wer las schon ›Sturm‹, ›Aktion‹, Ly­rikbücher usw., wer ging schon in Ateliers und Ausstellungen? Aber das expressionistische Theater hat viele begeistert. Mode hin, Mode her.«[1] Ab der Spielzeit 1916/17 erlebten viele der noch vor dem Krieg geschriebenen Stücke ihre Erstaufführung, und es entstand – unter dem Vorzeichen einer sozusagen ›verspäteten‹ Rezeption[2] – der legendär gewordene »Dra­men-Expressionismus«[3],dessen Bühnenwirkung bis weit in die Zwanziger Jahre reichte. Die dramatische Form, verstanden als die poetische Gattung direkter Inszenierung menschlicher Existenz vor einem realen Publikum, schien besonders geeignet, das wesentlich utopische Pro­gramm des Expressionismus als realisierbar oder als schon verwirklicht vor Augen zu führen und deshalb auch seinem kultur- und gesellschaftskritischen Impetus breitere Resonanz ver­schaffen zu können.[4] Nach Paul Kornfelds programmatischem Essay über Kunst, Theater und Anderes (vgl. Dok. 61) hatte das expressionistische Drama keine geringere Aufgabe als die, »[…] dem Menschen vorzuführen, wie alle Wirklichkeit nur Schein ist und hinschwindet vor dem wahren menschlichen Dasein.« Die Bühne sollte zu einem Forum der Wandlung des ›alten Menschen‹ und zum Schauplatz der Verkündigung des ›neuen Menschen‹ werden (s. den gleich­betitelten Abschnitt II, 2).