Zur primitiven Kunst

1919 (Dokument 132)

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Carl Einstein: Zur primitiven Kunst. In: Die Gemeinschaft. Dokumente der geistigen Weltwende. Hg. von Ludwig Rubiner. Potsdam: Gustav Kiepenheuer o. J. [1919], S. 175-176.

Was der europäischen Welt an unmittelbarer Kunst fehlt, wiegen wir mit dem Überschuß der Kunstausbeuter auf, unter die vor allem die Paraphrasen-Maler wie Schreiber zu rechnen sind: Indirekte, Menschen zweiter Hand, Rentiers der Überlieferung, kurzum mittelbare Europäer.
Die europäische Kunst ist in den Prozeß differenzierter Kapitalisierung verstrickt. Die Zeit formaler Fiktionen ist zu Ende. Mit dem Verfall der Wirtschaft des Kontinents bricht auch seine Kunst zusammen.
Gegenüber dem menschlichen und wirtschaftlichen Elend muß man fragen: Was kann die Kunst noch leisten, die von unentschiedenen Kleinbürgern für Besitzende gefertigt wird, was von ihr kann in eine zweckmäßige Gesellschaft hinübergenommen werden; denn zweifellos hat die bestehende Gesellschaft als unzweckmäßig für die Majorität der Menschen sich erwiesen – vorausgesetzt, man verlegt die menschlichen Zwecke nicht in Erlangung von Emblemen, die der Vergottung des Staates entstammen.
Jedes Kunstwerk ist ein Stück von reaktionärem Snobismus, prähistorisch, wenn es nicht dem sozialen Umbau sich einordnet, von wo aus allein es Sinn erhält.
Was kann uns die kapitalistische Kunstüberlieferung wert sein, aus der Produzent und Abnehmer ihre Rente ziehen, und sei es nur in Form zweckloser, das ist: snobistischer Erregung. Das europäische Kunstwerk dient immer noch der innerlichen Sicherstellung und Stärkung des besitzenden Bürgers. Diese Kunst verabreicht dem Bürger die Fiktion ästhetisierender Revolte, die jeden Wunsch nach Änderung harmlos »seelisch« abreagieren läßt.
Die uns nötige Kollektivkunst: Nur die soziale Revolution enthält die Möglichkeit einer Änderung der Kunst, ist ihr Prämisse, bestimmt allein den Wert einer Kunstwandlung und stellt dem Künstler seine Aufgabe.
Primitive Kunst: Ablehnen der kapitalisierten Kunstüberlieferung. Europäische Mittelbarkeit und Überlieferung muß zerstört, das Ende der formalen Fiktionen festgestellt werden. Sprengen wir die Ideologie des Kapitalismus, so finden wir darunter den einzigen wertvollen Überrest des zerkrachten Erdteils, die Voraussetzung jedes Neuen, die einfache Masse, die heute noch im Leiden befangen ist. Sie ist der Künstler. [512]