Hören Sie!

1916 (Dokument 92)

Von Ludwig RubinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludwig Rubiner

92
Ludwig Rubiner: Hören Sie! In: Die Aktion 6 (1916), Nr. 27/28, 8. Juli, Sp. 377-380.

Hören Sie, Kamerad, Mitarbeiter, Leser, immer wieder den Bannruf »Literat«, den Fluch, der uns exkommuniziert, den Fall des Roßapfels, der nach uns geworfen wird?
Hören Sie den Hohnschrei: »Literat«?
Das Scherbengeklirr eingeworfener Fenster: »Literat«?
O Schwindler, die, geduckt in die laufende Menge, rufen: »Haltet ihn, Literat!«
Der lehrhafte Rauschebart, verhinderter Tolstoi, der seine gutmöblierte aufständische Eigendung-Grube bewacht und eifrig in Kapitalszeitungen schreibt,
Der Theaterdirektor, mit Unehre an Possen verkracht, der sich in die Tageskritik geflüchtet hat vor dem Tode,
Der feierliche Verleger, der jedes große Werk eines toten Literaten in eine glatt mühelose, geheimnisvolle Öligkeit verwandelt in die Buchläden schickt (immer noch imitiert Bütten),
Der Kokottenhälter, der unter den Betten seiner Freunde auf Literaturmögliches lauscht,
Der dreihundertste Gottfried-Keller-Imitator,
Der Gründer von Kneipen mit humanitärem Augenaufschlag, der zwecks Empfehlung die Redaktionen besteigt,
Der Spezialist in Verkündigungen,
Der an sich haltende Mystiker, der jede alte Legende, jedes Märchen, jede Erfindung fremder Köpfe in die Marktgängigkeit eines tiefen Buches schmalzt,
Diese, die nur Literatur machen, von Literatur leben, hinter der Literatur her sind, schweißbedeckt,
Alle diese, die eine widerspenstige Literatenbemerkung sofort auf den Quivive bringt (wie merkwürdig!),
Alle sie beschimpfen mit »Literat«, sie entehren im Wort »Literat«, sie arbeiten an Mißkredit mit »Literat«,
Sie entkameradisieren damit.
Der Aufrührer, der sein ganzes Leben lang nur Zeitungen liest und schlechtgeschriebene Sätze nachweist, schäumend,
Der Romanschreiber, der mit seinen Kritiken nicht zufrieden ist,
Der saure Klassiker, der nach alten Vorbildern hohe Dramen sich entstößt und auf Papier drucken läßt,
Der Nutznießer des Geistes, der Arzt, Beamte, Bankier, Gewerbetreibende, Direktor, der, ach, nur in Freistunden dichtet,
Der Zeitungsmann, der auf seine Hirnkraft nicht mehr stolz ist,
Und der Literat selbst, der Untüchtige, Ängstliche, zur Nachwelt Schielende, der Murmler, der Nachsprecher, der profunde Feintuer, der Wortklauber (durchaus auf Posthumität bedacht), dieser Feigling
Sie alle sollen sich schämen und ihrem Leben ein Ende machen, [367]
Denn es ist nutzlos gewesen.
Oder warum schreiben sie?
Nur weil andere schreiben?
Was hatten sie uns zu sagen? Nur Selbstbetrug, Eigenschwindel? Privatsache!
Oder den Betrug gegen andere?
Kerle, die in der wichtigsten Stunde ihren Platz verlassen,
Ihr Platz ist nicht, Worte zu machen über Gewesenes.
Wir brauchen nicht Interpreten, heute dolmetscht jeder sich selbst.
Ihr Platz ist,
Worte zu machen für Dinge, die gut sind. Für Menschliches, das kommen soll.
Worte zu machen gegen Schändung des Geistes,
Worte zu machen gegen Verrat am göttlichen Menschen,
Worte zu machen!
Denn Würste zu geben, Anzüge, Handschuhe, Schränke, Bier, Stiefel, Semmeln kann der andere besser als sie.
Aber ihre Sache ist es, das Wort zu machen, das diese Menschen treibt und selig auf der Erdkugel macht,
Das Wort, nach dem die Generation handelt,
Das Wort, das sie, Literaten, besser wissen als ihre Leser. Ihre Aufgabe: Nicht Erklärer, sondern Führer zu sein. Wer das nicht ist – Abtreten!
Klägliche Mittelwesen, Dazwischenkünftler, Kammerdiener mit alten Geheimnissen – Abtreten!
Wimmernde Malcontenten, Verräter, Spitzel am Wort, an der Hingabe, Verdächtiger der Führung – Abtreten!
Nieder die Schwindler!
Es lebe die Stimme! Die Stimme für die
Anderen!
Es lebe das Wort, hell wie Cornetsignal!
Es lebe der runde geöffnete Mund, der laut gellt:
Es lebe der Führer!
Es lebe der Literat!

Diese Apologie des zur Verbalinjurie verkommenen Begriffs vom Literaten ist im literarischen Teil der Ausgewählten Werke wiederabgedruckt (Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Ausgewählte Werke 1908-1919. Hrsg. u. mit einem Nachwort von Klaus Schuhmann. Frankfurt a. M. 1976, S. 3738). Auf Rubiners allgemeine Attacke reagierte Hugo Ball mit einem interessanten Kommentar, der freilich der aktivistischen Intention Rubiners nicht gerecht wird, obwohl auch er sich vom Schimpfwortgebrauch distanzieren zu müssen meinte. Unter dem Datum: Ascona, 15.9. [1916] steht im Tagebucheintrag ein Passus zu lesen, der als ergänzendes Dokument mitgeteilt wird (Die Flucht aus der Zeit. München u. Leipzig: Duncker & Humblot 1927, S. 115-116, Auszug S. 115):
Rubiner verteidigt in der Aktion den Literaten gegen verschiedene imaginäre und wirkliche Angriffe. Auch ich gehöre zu den Angreifern, gegen die man sich wehren muß. »Sie alle beschimpfen mit ›Literat‹, sie entehren im Wort ›Literat‹, sie arbeiten am Mißkredit mit ›Literat‹.« – Es ist aber gar nicht richtig, daß auch ich zu den Angreifern gehöre; auch für mich ist das Wort ein Ehrentitel. Der Literat ist einer, der das Wort um seiner selbst willen pflegt. Nur hat bei der weitgehenden Spezialisierung der Zeit zwischen dem Literaten einer – und dem Dichter und dem Gelehrten andererseits eine Teilung stattgefunden, die meiner Ansicht nach von Übel ist. Es gibt heute anerkannte Dichter, die jede Ahnung dafür verloren haben, daß das Wort vor allem und zunächst über ihre Höhe und ihren Wert aussagt. Und es gibt Gelehrte, deren Sätze zu zitieren man sich scheuen muß, ohne sie vorher stilisiert zu haben. Doch es gibt auch von Literaten einen Schwarm, der sich allen energischen Studien und jedem geordneten, aufschließenden Zug seiner Gedanken überhoben, zu jeder Kritik aber gleichwohl berechtigt glaubt. Man kann in diesem Sinne vom ewigen oder verbummelten Literaten sprechen, wie man von einem ewigen oder verbummelten Studenten spricht. Es wäre gut, wenn die Dichter und die Gelehrten wieder mehr Literaten (Wortkünstler, Buchstabenfuchser) und die Literaten wieder mehr Gelehrte und Dichter (Logiker und Wundersüchtige) würden.