Einleitung

g) Soziale Entfremdung und Gemeinschaft

»Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein!« beginnt Franz Werfels 1910 geschriebenes Gedicht An den Leser[1], und es endet mit dem Ausruf: »Oh, könnte es einmal ge­schehn, / Daß wir uns, Bruder, in die Arme fallen!« Das expressionistische Verbrüderungs- und O-Mensch-Pathos, das sich in diesem Gedicht auf die intendierte Beziehung des Künstlers zum Publikum bezieht (vgl. den Abschnitt »Kunst und Öffentlichkeit«, besonders Dok. 136), steht vor dem Hintergrund tiefgreifender sozialer Entfremdungserfahrungen, wie sie die damalige literarische Intelligenz bevorzugt in der Identifikation mit gesellschaftlichen Außenseiterfigu­ren (Kranke, Irre, Gefangene, Verbrecher, Dirnen, Juden und Künstler) darstellt. Die vielfach ar­tikulierte »Begierde nach Gemeinschaft« (Martin Buber, Dok. 67) zielt dabei nicht auf eine Rein­tegration in die bestehende Gesellschaft, sondern auf eine neue, »unbürgerliche« Form zwi­schenmenschlicher Solidarität. In der expressionistischen Sozialphilosophie[2] steht »Gemein­schaft« in semantischer Opposition zu »Vereinzelung«, doch gleichzeitig auch zur individuali­tätsvernichtenden »Masse« und eines sich dem einzelnen gegenüber verselbständigenden »Staa­tes«.[3] Ludwig Rubiner, einer der lautstarksten Propagandisten der Gemeinschaftsidee, mit der er sich u. a. von dem elitären Dichterselbstverständnis Stefan Georges, des »vornehmen Se­hers, der die Menge verachtet«, absetzt[4], schreibt 1917 in der Aktion: