I.7.1 Sprache und Schrift

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Von Uwe WirthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Wirth

7.1 Sprache und Schrift

Der Versuch, das Verhältnis von Sprache und Schrift zu klären, steht – gerade auch was die Frage nach deren medialen Differenzen betrifft – vor einer Reihe großer systematischer und theoretischer Schwierigkeiten, die bis an die Wurzeln unserer Kultur reichen – eine Kultur, die sich wesentlich als Schriftkultur begreift.

Eine erste Verhältnisbestimmung von Sprache und Schrift könnte darauf hinauslaufen zu sagen: Nicht jede sprachliche Äußerung ist schriftlich, aber jede schriftliche Äußerung ist sprachlich. Der erste Teil dieser Gleichung scheint allein schon aus dem Grunde plausibel, weil jeder Mensch – darin der Menschheitsgeschichte folgend – zuerst sprechen und dann schreiben lernt. Der Spracherwerb geht dem Schrifterwerb voraus. Der zweite Teil der Gleichung rekurriert auf den Umstand, dass Schrift gemeinhin als »konservierende Form der Repräsentation von Sachverhalten, insbesondere von gesprochener Sprache« (Assmann/Assmann 2003, 393) gefasst wird. Insgesamt steht hinter dieser Gleichung die These von der Schrift als einer sekundären Sprachpraktik. Diese These beruft sich auf Aristoteles, dessen Verhältnisbestimmung von mündlicher und schriftlicher Sprache in Peri Hermeneias lange Zeit so ausgelegt wurde, dass Schrift als Sekundärphänomen zu gelten habe, da »die geschriebenen Worte« von Aristoteles als »Zeichen von gesprochenen Worten« bestimmt werden.

Allerdings lässt sich feststellen, dass im Verlauf der intensiven Auseinandersetzung mit dem Charakter von Schrift und Schriftlichkeit, unter anderem im Kontext dekonstruktivistischer Ansätze (vgl. Derrida 1983, 16–35), zunehmend auch die umgekehrte Auffassung der eingangs angeführten Doppelgleichung vertreten wird. Danach gilt: Nicht jede schriftliche Äußerung ist sprachlich, aber jede sprachliche Äußerung hat in einem gewissen Sinne immer auch Schriftcharakter. Unter welchen Umständen diese zweite Doppelgleichung plausibel ist, die von der Andersartigkeit wie von der Ebenbürtigkeit mündlicher und schriftlicher Sprachäußerungen ausgeht, wird im Folgenden zu klären sein.

Beginnen wir mit der grundlegenden Frage: Was ist Sprache? Auf diese Frage gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten. Allerdings ist man sich weitgehend darüber einig, dass Sprache als Kommunikationsmittel fungiert, mit dem über Sachverhalte gesprochen, Ansichten ausgedrückt und Anweisungen gegeben werden können (vgl. Bühlers ›Organon-Modell‹ in Bühler 1982, 28) – womit aber nicht gesagt sein soll, dass sich die Funktion von Kommunikation in der Vermittlung respektive Übermittlung sprachlich kodierter Bedeutung erschöpft. Der Ausdruck ›Kommunikationsmittel‹ impliziert neben dem Werkzeugcharakter von Sprache auch den Aspekt der Vermittlung, also die im weitesten Sinne des Wortes mediale Verfasstheit von Sprache. Sprache ist dazu da, einen Zwischenraum zwischen Sender und Empfänger zu überbrücken. In der Art der Überbrückung offenbart sich der medialer Charakter von Sprache, aber auch die mediale Differenz zwischen unterschiedlichen sprachlichen Verkörperungsformen. So überbrücken Schallwellen als phonisches Medium das kommunikative Dazwischen grundsätzlich anders als Schriftzeichen, die den Charakter eines grafischen Mediums haben. Drei wichtige Aspekte zur Bestimmung medialer Differenzen sind (1) die raum-zeitliche Verortung der Kommunikationssituation (Frage der Synchronie respektive Asynchronie), (2) die Ablösbarkeit der Kommunikationsmittel von ihrem Sender (Frage der Distanz, der Abwesenheit und der Übertragungsbedingungen) sowie (3) die Wahrnehmungsbedingung der Kommunikationsmittel (Frage der akustischen respektive optischen Verkörperungsformen). [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.