Saul sucht die Eselinnen seines Vaters und wird von Samuel zum König gesalbt

ENTSTEHUNG DES ISRAELISCHEN KÖNIGTUMS NACH SAGE UND GESCHICHTE

Saul sucht die Eselinnen seines Vaters und wird von Samuel zum König gesalbt

(1. Samuel IX 1) Es war ein Mann aus Gibea in Benjamin mit Namen Kis, ein wohlhabender Bauer. (2) Der hatte einen Sohn mit Namen Saul, stattlich und schön;  es war kein schönrer Mann in Israel, alles Volküberragte er um Hauptes Länge. (3) Nun waren einmal dem Kis einige Eselinnen verloren gegangen. Da sagte er zu seinem Sohne: „Nimm einen von den Knechten und such die Eselinnen!“ (4) Sie durchzogen das Gebirge Efraim und das Gebiet von Benjamin, aber ohne sie zu finden. (5) Da sagte Saul zu dem Knechte: „Laß uns umkehren! mein Vater könnte sich sonst um uns sorgen statt um die Eselinnen.“ (6) Der Knecht erwiderte: „Es lebt ein Gottesmann in der Stadt da, ein berühmter Mann; alles was er sagt trifft sicher ein. Laß uns zu ihm gehen! vielleicht kann er uns sagen welchen Weg wir einschlagen müssen.“ (7) Saul wandte ein: „Was können wir dem Manne bringen, wenn wir zu ihm gehen? Das Brot in unsern Taschen ist zu Ende; und ein Geschenk haben wir nicht, das wir dem Gottesmann bringen könnten.“ (8) Der Knecht erwiderte: „Ich habe noch einen Viertel-Silberling bei mir; den kannst du dem Gottesmann schenken, damit er uns Auskunft gibt über unsern Weg.“ (10) Da sagte Saul: „Gut, laß uns hingehn!“ Und sie gingen nach der Stadt, wo der Gottesmann wohnte.

(11) Als sie nun den Steig zur Stadt hinaufstiegen, trafen sie Mädchen die herauskamen um Wasser zu schöpfen. Die fragten sie: „Ist der Seher hier?“ (9) Vor Zeiten sagte man nämlich in Israel, wenn man hinging Gott zu befragen: „Laßt uns zum Seher gehen!“ (12) Die Mädchen antworteten: „Ja, der Seher ist da auf der Höhe.[1] (13) Wenn ihr hineingeht, werdet ihr ihn noch treffen, eh er auf die Höhe steigt zum Essen. Denn die Leute essen nicht, eh er kommt und das Opfer segnet.“ (14) Da stiegen sie zur Stadt hinauf.

Als sie ins Tor traten, kam gerade Samuel heraus, um auf die Höhe zu steigen. (15) Jahwe aber hatte einen Tag vor Sauls Ankunft dem Samuel geoffenbart: (16) „Morgen um diese Zeit werde ich einen Mann aus Benjamin zu dir senden, den sollst du zum Fürsten über mein Volk Israel salben. Er wird mein Volk aus der Hand der Filister erretten. Denn ich habe das Elend meines Volkes gesehen, und sein Geschrei ist zu mir gedrungen.“ (17) Als nun Samuel Saul erblickte, raunte Jahwe ihm zu: „Das ist der Mann, von dem ich dir gesagt habe, er solle über mein Volk herrschen.“ (18) Da trat Saul im Tor an Samuel heran und fragte: „Bitte, wo ist das Haus des Sehers?“ (19) Samuel antwortete: „Ich bin der Seher. Geh vor mir her auf die Höhe! Ihr sollt heute mit mir essen, morgen magst du weiterziehn. (20) Um die Eselinnen sorge dich nicht! Sie sind gefunden; gehört nicht dir und deines Vaters Hause alles Kostbare in Israel?“ (21) Saul antwortete: „Ich bin aus Benjamin, dem kleinsten der Stämme Israels, und mein Geschlecht ist das geringste unter den Geschlechtern dieses Stammes; warum redest du so zu mir?“

(22) Samuel führte nun Saul und seinen Knecht in die Halle und setzte sie oben an unter den Geladenen; das waren etwa dreißig Mann. (23) Und Samuel befahl dem Koch: „Bring das Stück her, das ich dich beiseite legen ließ!“ (24) Da trug der Koch die Keule auf; und Samuel setzte sie Saul vor. So aß Saul mit Samuel an jenem Tage. (25) Dann stiegen sie von der Höhe zur Stadt hinab; dort bereitete man Saul auf dem Dache das Lager, (26) und er legte sich schlafen.

Als aber die Morgenröte aufstieg, rief Samuel Saul aufs Dach hinauf zu: „Steh auf! ich will dich begleiten.“ Da erhob sich Saul und sie gingen zusammen hinaus. (27) Als sie den Rand der Stadt erreicht hatten, sagte Samuel zu Saul: „Laß den Knecht vorausgehn; du aber bleib! ich hab dir ein Gotteswort zu verkünden.“ (X 1) Darauf nahm Samuel die Ölflasche und goß sie über sein Haupt, küßte ihn und sprach: „Hiermit hat dich Jahwe zum Fürsten über sein Volk Israel gesalbt! Du sollst herrschen über das Volk Jahwes und es erretten aus der Hand seiner Feinde ringsum. Und dies soll das Zeichen sein, daß Jahwe dich wirklich zum Fürsten über sein Eigentum gesalbt hat: (2) Wenn du heute von mir gehst, wirst du beim Grabe Rahels[2] an der Grenze Benjamins zwei Männer treffen; die werden zu dir sagen: Die Eselinnen, die du suchen gingst, sind gefunden; und dein Vater denkt gar nicht mehr an die Eselinnen, sondern macht sich nur Sorge um euch und sagt: Was kann ich für meinen Sohn tun? (3) Wenn du von dort weitergehst und zur Tabor-Eiche kommst, so werden dir dort drei Männer begegnen, die zu Gott nach Betel hinaufziehn; einer trägt drei Böckchen, ein andrer drei Laibe Brot und der dritte einen Schlauch Wein. (4) Die werden dich grüßen und dir zwei Brote geben; die sollst du von ihnen annehmen. (5) Dann wirst du nach dem Gibea Gottes kommen, wo der Vogt er Filister wohnt[3]. Beim Eintritt in die Stadt wirst du auf einen Profetenschwarm stoßen, der von der Höhe herabkommt, vor ihnen her Harfe Tamburin Flöte und Zither; die rasen[4]; (6) und der Geist Jahwes wird auch auf dich springen, und du wirst dich in einen andern Menschen verwandeln. (7) Wenn nun diese Zeichen eintreffen, so tu was sich dir bietet! Gott ist mit dir.“

(9) Nachdem sich Saul von Samuel getrennt hatte, trafen all diese Zeichen an einem Tage ein. (10) Kaum waren sie nach Gibea gekommen, als ihnen auch schon der Profetenschwarm begegnete. Da sprang der Geist Gottes auf ihn, und er raste mit ihnen. (11) Als das seine Bekannten sahen, sagten sie: „Was ist den mit dem Sohne des Kis geschehen? Ist auch Saul unter die Profeten gegangen?“

(13) Als Sauls Raserei zu Ende war, ging er nach Hause. (14) Da fragte ihn sein Oheim: „Wo wart ihr hin?“ Saul antwortete: „Die Eselinnen zu suchen und als wir sie nirgend fanden, sind wir zu Samuel gegangen.“ (15) „Erzähl mir doch,“ sagte der Oheim, „was euch Samuel gesagt hat!“ (16) Saul antwortete: „Er hat uns gesagt daß die Eselinnen gefunden sind.“ Aber das mit dem Königtum erzählte er ihm nicht.

Erklärungen

[1] Soweit die Heiligkeit einer Opferstätte nicht durch eine Quelle (1. Mose XVI 7), einen Baum (Richter VI 11), einen Felsblock (1. Mose XXVIII 22) u. dgl.  bedingt war, befand sie sich gewöhnlich auf einer Höhe (1. Mose XXII 2, 1. Samuel X 5), was mit dem Glauben zusammenhängt, daß die Götter ihren Wohnsitz auf hohen Bergen haben (Sinai Zion Olymp!). Diese heiligen Stätten, insbesondere die Höhenheiligtümer, hat Israel von den Kanaaniten übernommen, woran später die Profeten und die Jerusalemer Priester stärksten Anstoß nahmen.

[2] Vgl. 1. Mose XXXV 16-20!

[3] Oder „wo“ die Säule der F. steht“.

[4] Von religiöser Ekstase; dasselbe hebräische Wort bedeutet sonst das erregte profetische Reden und Weissagen. Vgl. zu dieser für die Geschichte des israelischen Profetismus sehr wichtigen Stelle das Gebaren der Baalspriester 1. Könige XVIII 28.29 und die Schilderung der wilden Gebetsübungen der Derwische in Moltkes „Briefe aus der Türkei“, in Selma Lagerlöfs „Jerusalem“ II 2 und in „Die Schriften des Alten Testaments“ II 1 S. 30!