I.7.6 Hypertextualität

Leseprobe

Von Roberto SimanowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roberto Simanowski

7.6 Hypertextualität

Begrifflichkeit

Die Diskussion um den Hypertext ist älter als das WWW, das – als ›Mega-Hypertext‹ – seine populärste Umsetzung darstellt. Der Begriff ›Hypertext‹ begann seine Karriere als Bezeichnung einer spezifischen Technologie der vernetzten Information. Die Idee dieser Technologie ist auf Vannever Bushs berühmten Artikel »As we may think« zurückzuführen, in dem Bush die Idee des ›Memex‹ (Memory Extender) entwickelt, der gespeicherte Information aufgrund der von Benutzern gesetzten Verbindungen miteinander vernetzt. Der Begriff selbst stammt von Theodor Holm Nelson, der bereits in den 1960er Jahren damit ›non-linear text‹ bezeichnete und in seinem Buch Literary Machines später schrieb: »by ›hypertext‹ I mean non-sequential writing – text that branches and allows choices to the reader, best read at an interactive screen. As popularly conceived, this is a series of text chunks connected by links which offer the reader different pathways.«

Nelson bezeichnet Hypertext auch als »the gener ic term for any text, which cannot be printed«, was mit Blick auf Vorbilder im Printmedium zu relativieren ist. So lässt Julio Cortázars Roman Rayuela von 1963 durch Hinweise auf alternative Seitenanschlüsse unterschiedliche Lektüregänge durch das Textkorpus zu. Oder die einzelnen Abschnitte in Milorad Pavić’ Das Chasarische Wörterbuch (1984) verweisen wie in einem Lexikon auf verschiedene Anschlussstellen im Buch. Marc Saportas ›Kartenspiel-Roman‹ Composition No. 1 (1961) besteht aus 150 ungebundenen, unpaginierten Blättern, die lose in einem Schuber lagern und gar keine eigene Ordnung mehr besitzen. Raymond Queneaus Cent mille milliards de poèmes (1961) bieten eine unerschöpfliche Kombinationsvielfalt zwischen zehn Sonetten an, die auf gestärkten Blättern so gedruckt sind, dass jeder einzelne Vers umgeblättert und mit jedem beliebigen Vers der anderen Sonette kombiniert werden kann. Hierfür gibt es bereits Vorbilder in der Kombinationslyrik des Barock wie Georg Philipp Harsdörffers »Wechselsatz« aus dem Poetischen Trichter (1648–53), bei dem man in zwei Versen aus elf Wörtern jeweils eins auswählen kann, und Quirinus Kuhlmanns Libes- Kuß (1671), einem Wechselspiel von 50 Wörtern in vier Versen mit einer 77–stelligen Zahl an Alternativen.

Nach Nelsons Bestimmung des Begriffs als Kombination, doch ohne sich darauf zu beziehen, hat Gérard Genette einen Hypertextbegriff entwickelt, der auf Transformation beruht: »Als Hypertext bezeichne ich also jeden Text, der von einem früheren Text [Hypotext, R.S.] [...] abgeleitet wurde.« Aus dieser Perspektive sind faktisch alle Werke Hypertext, wobei die für Nelson und im vorliegenden Zusammenhang relevante Organisationsstruktur des Textes keine Rolle spielt. Ungeachtet Genettes Definition des Hypertextes setzte sich Nelsons Begriffsbestimmung durch, bezeichnete im amerikanischen Kontext allerdings bald alle Texte in digitalen Medien. Espen Aarseth versuchte, in seiner Dissertation Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature durch Abgrenzung und Einführung neuer Begriffe terminologische Klärung zu schaffen. Gegen die undifferenzierte Verwendung des Hypertextbegriffs wandte er ein: »Hypertext is a useful term when applied to the structure of links and nodes [Texteinheiten, R.S.], but it is much less so if it includes all other digital text as well. I suggest the term cybertext for texts that involve calculation in their production of scriptons« (1997, 75). Da der Terminus ›Cybertext‹ selbst auf den Aspekt der Kombinatorik zielte, setzte er sich nicht als Alternative zum Terminus ›Hypertext‹ durch, der durch die begriffliche Nähe zur WWW-Technology des HTML (Hypertext Markup Language) populärer (und missverständlicher) war. Cybertext eignet sich auch kaum als Dachbegriff für alle digitalen Texte, einschließlich solcher, die nicht auf Kombinatorik beruhen, sondern auf inszenatorischen, interak- tiven oder intermedialen Aspekten. Gelegentlich wird Hypertext selbst als ein solcher Dachbegriff eingesetzt, wozu sowohl der Textbegriff ausgeweitet (und als Hypermedia auch visuelle und akustische Zeichen abdeckt) als auch das Merkmal der Nonlinearität aufgeweicht wird. [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.