Darmstädter Torheiten

Polemische Anmerkungen aus aktuellem Anlaß (1987)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Mein alter Freund Erich Fried hat abermals gesiegt. Denn mit seiner Darmstädter Dankrede (aus Anlaß der Verleihung des Georg-Büchner-Preises) ist ihm tatsächlich genau das gelungen, woran ihm am meisten gelegen war: Er steht wieder einmal im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Allerdings wundert es mich, daß viele ehrenwerte Persönlichkeiten, zumal von der Akademie für Sprache und Dichtung, die ihm den hohen Preis verliehen hat, höchst überrascht und verärgert sind. Wußten sie denn nicht, wen sie gekürt haben? Fried hat in Darmstadt nichts gesagt, was er nicht schon oft in der Bundesrepublik und in Österreich gesagt hätte – freilich nicht in seiner Wahlheimat England, weil ihn dort keiner hören will. Es ist immer dieselbe Mischung aus ergreifender Naivität, entwaffnender Weltfremdheit und pueriler Selbstgefälligkeit, es ist jene hinreichend bekannte einäugige Optik: Die Schuldigen findet er ein für allemal in Washington und niemals in Moskau. Was war denn in der für Fried-Kenner eher konventionellen als provozierenden Rede wirklich neu? Vielleicht die überwältigende Vermutung, daß Büchner sich in unserer Zeit der Baader-Meinhof-Gruppe angeschlossen hätte, wenn er nicht schon vorher von der bundesdeutschen Polizei erschossen worden wäre? Diese Frage interessiert mich ebenso wenig wie jene, ob Lessing die Stücke von Franz Xaver Kroetz geschätzt hätte und ob Walther von der Vogelweide bereit gewesen wäre, Stadtschreiber von Bergen-Enkheim zu werden.

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Aus: Marcel Reich-Ranicki: Mein Freund Erich Fried, nur für Online-Abonnenten