Zur Situation der DoktorandInnen am Germanischen Seminar der Freien Universität Berlin

Die Ergebnisse studentischer empirischer Erhebungen vom Herbst 1968

Von Rudi SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rudi Schmidt

 
Dieser Beitrag ist nur ein Torso, was insbesondere der disparaten Datenlage geschuldet ist. In meiner ursprünglichen Planung sollten auch die anderen Studienabschlüsse am Germanischen Seminar der Freien Universität näher betrachtet werden, denn auch sie waren Bestandteile der von den StudentInnen kritisch vorangetriebenen Studienreformen. Mein Vorhaben scheiterte für den Magisterabschluss am Materialmangel, beim Staatsexamen am Gegenteil, was mit meinem Konzept, aber auch mit meinem Zeitplan kollidierte. Der Großteil des reichhaltigen Materials zum Staatsexamen bezieht sich auf die Prüfungsanforderungen, auf die Rolle des Deutschlehrers und auf Inhalt und Umfang der schulischen Stoffvermittlung. Wegen meiner Beschränkung auf die universitäre Handlungssphäre musste diese Praxisperspektive außer Betracht bleiben. Entscheidend für die Auswahl war schließlich, dass nur über die DoktorandInnen durch eine empirische Erhebung gewonnene genauere Informationen vorliegen. Angesichts des Informationsdefizits in diesem Bereich schien mir ein isolierter Bericht zur Promotionsphase ebenso notwendig wie hinreichend.

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Vor den in Frage stehenden Reformen befanden sich DoktorandInnen traditionell in einem paternalistischen, halbfeudalen Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Betreuern, ungeachtet der Fächerunterschiede. Hinzu kam die Besonderheit, dass man an vielen Universitäten noch bis zum Ende der 60er Jahre sein Studium direkt mit einer Promotion abschließen konnte (Inauguraldissertation). An der FU war zum Untersuchungszeitpunkt, dem Epochenjahr 1968, beides möglich, das heißt, man konnte mit und ohne vorangegangenem Magister- oder Staatsexamen promovieren.

Die folgenden Darlegungen basieren auf zwei studentischen „Vorarbeiten“ in hektographierter Form. Im einen Fall handelt es sich um den Auswertungsteil einer Fragebogenaktion vom Herbst 1968,[1] präziser um eine Umfrage unter den damals 130 Promovierenden, von denen 54 (= 42 Prozent) an der Aktion teilnahmen. Für diese Unternehmung zeichneten Bertl, Esselborn, Kriebel und Uber verantwortlich. Ob sich der Fragebogen erhalten hat, ist ungewiss. Die Ergebnisse der Auswertung legen den Schluss nahe, dass ein teilstandardisiertes Erhebungsinstrument verwendet wurde.

Im anderen Fall handelt es sich um eine Zusammenstellung von Texten zur Geschichte der Promotion, ihrer universitären Funktion, ihrer Struktur und zu damit zusammenhängenden sozialen, finanziellen, instituts- und hochschulpolitischen Aspekten.[2] Ganz am Ende des Readers mit Auszügen aus damaligen einschlägigen Schriften zur Situation der DoktorandInnen im Allgemeinen (Gerhard Bengeser 1965, Alexander Kluge 1958, Helmuth Plessner 1956, Empfehlungen des Wissenschaftsrats 1967) und zur Situation der DoktorandInnen in der Germanistik im Besonderen werden einige Ergebnisse der am Institut durchgeführten empirischen Erhebungen mitgeteilt. Da in beiden Schriftstücken keine Hinweise auf die Erhebungsumstände gegeben werden, bleibt unklar, ob zwei gesonderte Erhebungen als Datenfundus dienten oder ob in beiden Fällen auf eine Datenbasis zurückgegriffen wurde.

Der Bericht und der Reader mit Datenanhang dienten als Diskussionsvorlagen für die Vollversammlungen. Sie können als Beleg dafür genommen werden, dass die allgemeine Wissenschaftskritik der Studentenbewegung in sämtliche Bereiche der Ausbildung vorstieß und ein Katalysator für die Aktivierung und Selbstorganisation war. Relativierend muss allerdings die geringe Rücklaufquote der Befragung ‒ sie beziffert sich auf 42 Prozent ‒ festgehalten werden, die immerhin einem Vorhaben galt, das sich mit der Verbesserung der Lage der PromotionsstudentInnen befasste. Das darin zum Ausdruck kommende Desinteresse bestätigt die häufig vergessene Beobachtung, dass die Studentenbewegung in allen Phasen nur von einer Minderheit getragen wurde. Auch ist nicht auszuschließen, dass der geringe Rücklauf mit den Verantwortlichen der Initiative zu tun hat, die von den Verweigerern wegen ihrer politischen Überzeugungen abgelehnt wurden.

In die „Materialien zur Diskussion über die Doktorpromotion“ wurde, wie oben angemerkt, in Form eines Anhangs eine zeitnahe Übersicht über die Zahl der Promotionen am Institut für Germanistik mit hineingenommen, der zufolge vom Sommersemester 1960 bis zum Wintersemester 1963/64, also in acht Semestern, nur 13 Verleihungen der Doktorwürde stattfanden. Der Anteil der DoktorandInnen an den in der Phil. Fak. insgesamt Promovierenden war unterproportional; er machte zwischen Sommersemester 1954 und Sommersemester 1960 durchschnittlich nur 7,4 Prozent aus, während der StudentIinnenanteil im Fach Germanistik an der Gesamtzahl der an der Fakultät Studierenden sich auf durchschnittlich 25,5 Prozent belief. In der Folgezeit stieg die Zahl der Promovierenden deutlich an. Vom Sommersemester 1964 bis Sommersemester 1968, also in neun Semestern, wurden 49 KandidatInnen promoviert. Es findet sich kein Hinweis auf die Gründe für diesen Anstieg, auch wurden diese Zahlen nicht mit dem Studentenanstieg korreliert.

Einem Hindernislauf glich es, die Studiendauer der bereits Promovierten zu ermitteln. Im Auswertungsbericht der Vierergruppe wird angegeben, dass von den 54 Antwortenden 16 Befragte ihre Promotion abgeschlossen haben. Über die dafür benötigte Zeit schreiben die Verfasser: „Wegen Exmatrikulation, Urlaubssemestern und Eitelkeit ist die Semesterzahl nicht genau feststellbar. Durchschnitt der Angaben: 15 Sem. Aus dem Durchschnittsalter der Fertigen (29,7 [Jahre]) ergibt sich bei Studienbeginn mit 20 Jahren ein Durchschnitt von 19 ‒ 20 Semestern“ (S. 1f.) (Hervorhebung im Original).

Im weiteren Verlauf des Textes wird darauf hingewiesen, dass Frauen mit einem Doktorandenanteil von 22 Prozent gegenüber einem Studentinnenanteil von 41‒42 Prozent (S. 1) unterrepräsentiert waren, was so heute wohl nicht mehr gegeben ist. Weitere Ergebnisse in Kurzform:

‒  Knapp die Hälfte (46,3 Prozent) der nach ihrem Familienstand gefragten DoktorandInnen war verheiratet. Dem stehen 10 Prozent verheiratete StudentInnen gegenüber (S. 2).
‒  Ein bemerkenswertes Detail: Der Ansturm der Doktorandinnen auf die seinerzeitigen „Großordinarien“: Bei Wilhelm Emrich waren 43 registriert, bei Eberhard Lämmert 42, bei Eckehard Catholy 17, alle übrigen der insgesamt zwölf habilitierten Dozenten hatten jeweils weniger als zehn DoktorandInnen, insbesondere die VertreterInnen der alten Abteilung. Das Verhältnis der neuen zur alten Abteilung lag bei 113 zu 5 (2 nicht ermittelt) (S. 3).
‒  Die Befragung ergab, dass der Kontakt zur Betreuungsperson ganz überwiegend von den DoktorandInnen ausging, und zwar im Verhältnis 22 zu 4 (S. 5). Die Aufgabe, Betreuungsgespräche zu führen, wurde häufig nur von Assistenten wahrgenommen (S. 6).

Allgemein wurde die Beratung als unbefriedigend empfunden. Die geringe Zahl von maximal fünf Gesprächen brachten die Befragten mit der „allg. Aversion gegen Sprechstunden“ (Hervorhebung im Original) in Zusammenhang, insofern „die lange Wartezeit in keinem Verhältnis zur kurzen Sprechzeit steht“. „Infolge dieses Zeitdrucks entsteht ein Zwang, den Professor nur mit klar umrissenen Anliegen zu ‚belästigen‘. Ständiger Kontakt mit dem DV [Doktorvater] oder mit Kollegen, die über ähnliche Themen arbeiten, könnten dagegen Irrwege rechtzeitig (vor schriftl. Fixierung) verhindern. Es sind daher Regelungen für solche Zusammenarbeit zu schaffen, auch um die oft sehr lange Promotionszeit […] zu verkürzen“, so die Schlussfolgerungen, die die Datenauswerter aus den Antworten der Befragten ableiteten (S. 6).

Zur Erwägung gegeben wurde eine „Neuregelung der Doktoranden-Kolloquien“, an denen die Hälfte der Befragten (28 von 54) teilgenommen hatte. 10 Befragte beurteilten Doktoranden-Kolloquien „in ihrer jetzigen Form negativ“. Wo genau die Probleme lagen, geht aus dem Auswertungsbericht deutlich hervor: „Das Gemeinsame der an Kolloquien teilnehmenden Doktoranden ist bisher lediglich der identische DV. Spezialisten berichten in diesen Veranstaltungen anderen Spezialisten über ihr Spezialgebiet. Unter diesen Umständen bleiben mögliche Anregungen dem Zufall überlassen. Die Bildung themenspezifisch zusammengefaßter Gruppen, die die Isolation des einzelnen Doktoranden beseitigen, setzen freilich voraus, daß man sich von der Ideologie des ‚geistigen Eigentums‘ löst. Sie nämlich schafft eine Konkurrenzbeziehung zwischen den Teilnehmern eines Kolloquiums, so daß man sich scheut, Überlegungen und Erkenntnisse preiszugeben“ (S. 6).

In der Kritik am damaligen Rigorosum deutete sich die Entscheidung für die heute dominante Prüfungsform der Disputation bereits an, zumal der früher geforderte Wissensnachweis mehr und mehr in das zu absolvierende Abschlussexamen vorverlegt worden war.[3] „Sofern man nicht überhaupt für die Abschaffung des Rigorosums plädiert, sollte zumindest eine Diskussion an die Stelle einseitiger Kandidatenbefragung treten. Zur Vermeidung des privaten Charakters der Prüfung wurde ein wissenschaftl. Protokollant oder Fachbeisitzer verlangt“ (S. 7).

Es folgen Ausführungen zu der Frage nach dem „Selbstverständnis des Promovenden“ im Hinblick auf diesen Studienabschluss (Mehrfachnennungen möglich). Die Verbesserung der Chancen, den angestrebten Beruf ergreifen zu können, stand mit 38 Ja-Antworten an der Spitze, an zweiter Stelle aber schon „Ausweichen vor Studienrat“ mit 23 Nennungen (S. 8).

Dieses Ergebnis spiegelt sich auch in den Berufsoptionen. 22 der Befragten stellten sich eine Hochschullaufbahn vor (= 41,5 Prozent), 15 (= 27,8 Prozent) eine freiberufliche Tätigkeit, 12 (= 22,2 Prozent) machten keine konkrete Angabe und nur 5 (= 9,3 Prozent) gaben Studienrat als Berufsziel an. Den hohen Anteil der Hochschulaspiranten versahen die Verfasser mit dem Kommentar: „Sie scheinen sowohl die Hochschulreform-Diskussion zu ignorieren wie auch die Chancen im bestehenden System zu verkennen“(S. 9).

In ihrer Diskussion der Antworten auf die Frage nach der „Funktion der Dissertation“ wurden die Verfasser der Studie grundsätzlich, wobei ihre radikalisierte politische Position, wie sie sich 1968 allgemein in der Studentenbewegung entwickelt hatte, die Interpretation bestimmte.

Eine der fünf Antwortkategorien lautete „Gesellschafts- und Ideologiekritik“ (die einzige Aussage, die offenbar die unumschränkte Zustimmung der Verfasser fand). 8 Befragte ordneten ihre Dissertation dieser Antwortmöglichkeit zu. 12 (22 Prozent) äußerten sich gar nicht oder zweifelnd. Diese Weigerung, zum Zweck ihrer Dissertation Stellung zu nehmen, wird von Bertl, Esselborn, Kriebel und Uber sehr kritisch kommentiert:

Dieser Tatbestand scheint angesichts der finanziellen, psycho-physischen und zeitl. Belastung durch die Promotion sehr fragwürdig. Hier müßte in der Diskussion die Kritik am Luxuswarencharakter germanist. Dissertationen, am gesellschaftl. Parasitendasein der Promovenden aufgegriffen werden.“ [Hervorhebung durch den Verfasser.]
Dem gegenüber zeigen 80% „positiver“ Antworten die integrierende und disziplinierende Funktion der Promotion: Verdrängung möglichst aufs rein Private oder rein Wissenschaftliche. 41mal wird das bestehende System akzeptiert:
Entweder für den sozialen Aufstieg u. Berufsweg [Angabe: Titel]: 6mal
– oder als die Persönlichkeit konstituierender Leistungsnachweis in einem vom Leistungs- u. Konkurrenzprinzip beherrschten Wissenschafts- u. Gesellschaftssystem: 11mal („Erleichterung sozialen Aufstiegs in der gegebenen Gesellschaftsstruktur“)
– oder als „Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung“, deren Sinn und Funktion nicht befragt werden: 24mal.
Das zeigt die verinnerlichten Leistungsnormen, die Angepaßtheit der Doktoranden, die zwar die Misere am eigenen Leib spüren, aber isoliert keinen Ausweg wissen. (seit 150 Jahren „in Einsamkeit und Freiheit“).[4]

Der Bericht über die Lage der DoktorandInnen am Germanischen Seminar der FU im Herbst 1968 belegt die Entschlossenheit der Aktivisten in der Institutsvertretung und in der Ad-hoc-Gruppe Germanistik, alle Phasen und Aspekte des Studiums einer kritischen Revision zu unterziehen. Die vorgelegten statistischen Daten sollten Argumente für die Studienreform liefern. Sie richteten sich an die Professoren und die Instituts- und Hochschulleitung, aber besonders an die DoktorandInnen. Alle, die die gleichen Examenspläne hegten, sollten dazu animiert werden, sich ihre Lage bewusst zu machen und kritische Reflexionen darüber anzustellen. In den einleitenden Bemerkungen zum Zweck der Untersuchung schreiben die Autoren, sie sei „gedacht als Ausgangspunkt für Diskussion und Veränderung der finanziellen, sozialen und juristischen Situation der Doktoranden. Beides ist von uns als Betroffenen selbst zu leisten, zumal die Bereiche Promotion und wissenschaftl. Nachwuchs von der bisherigen Hochschulkritik ausgespart zu sein scheint“ (S.1).

Nicht allein der Bericht über die Lage der DoktorandInnen, sondern auch die radikale Kritik am Promotionsgeschehen als Sozialisations- und Wissenschaftsprozess dokumentieren eindrucksvoll den Wandel, den die politisch Aktiven am Institut inzwischen durchlaufen hatten, wofür die vier Verfasser der „Ergebnisse der Fragebogenaktion unter Doktoranden“ vermutlich repräsentativ sein dürften. In ihrer zum Teil scharfen Kritik an den wissenschaftlichen und beruflichen Intentionen der DoktorandInnen kommt bereits die Relativierung von Wissenschaft zum Vorschein, wie sie sich in dieser Phase bei einem Teil der Aktivisten abzeichnete und in Slogans wie „Lern Deinen Beruf im Klassenkampf“ politisch konkretisierte.

Anmerkungen

[1] Bertl/Esselborn/Kriebel/Uber [Vornamen nicht verzeichnet]: Ergebnisse der Fragebogenaktion unter Doktoranden und zuletzt Promovierten des Instituts für Germanistik/FU Berlin Herbst 1968 (hekt. Mschr., 10 S.).

[2] Materialien zur Diskussion über die Doktorpromotion [vermutlich Herbst 1968, ohne Verfasserangabe, wahrscheinlich von Bertl/Esselborn/Kriebel/Uber] (hekt. Mschr., 11 S.).

[3] Zum Befragungszeitpunkt 1968 hatte die Hälfte der DoktorandInnen einen ersten akademischen Abschluss (Staatsexamen oder Magister) erworben. Bertl et al.: Ergebnisse der Fragebogenaktion unter Doktoranden, S. 4.

[4] Ebd., S. 9.