Der Luchterhand Verlag

Marktkalkül und politisches Engagement im westdeutschen Nachkriegsboom der 1950er bis 70er Jahre

Von Berthold PetzinnaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Berthold Petzinna

 
Das Unternehmen Hermann Luchterhands startete 1924 in Berlin am äußersten Rand der Buchbranche. Der zunächst im Wirtschafts- und Justizbereich tätige Dienstleister gab bald Lose-Blatt-Sammlungen zu dieser Thematik heraus. Dass sich hieraus ein Verlag mit großer Reputation im literarischen und sozialwissenschaftlichen Programmbereich entwickelte, war der Initiative eines zehn Jahre darauf eingestellten Mannes mit Branchenerfahrung zu verdanken.

Der spätere Luchterhand-Lenker Eduard Reifferscheid ist – wie auch Manfred Pahl-Rugenstein – ein Schattenmann unter den deutschen Verlegergrößen des zwanzigsten Jahrhunderts. Biographische Informationen sind rar, Würdigungen mal schillernd, mal vage, allemal ungewiss und mit dem Kennzeichen der Vorläufigkeit behaftet.

Fest steht, dass der 1899 bei Chemnitz geborene Sohn eines Gutsverwalters nach freiwilliger Meldung zum Kriegsdienst 1917 im Jahr darauf schwer verwundet wurde und nach Kriegsende zunächst ein aus Geldmangel nach vier Semestern abgebrochenes Jurastudium aufnahm. Die nachfolgende Ausbildung im Buchhandel führte ihn über mehrere Stationen zum nationalkonservativen Berliner Scherl-Verlag. Hier zeichnete sich Reifferscheids politische Ausrichtung ab: Er stand dem Profil seines Arbeitgebers fern, gehörte – laut Selbstaussage nach Kriegsende 1945 – der KPD an. Es war wesentlich sein Verdienst, dass Luchterhand die NS-Zeit und den Krieg überstand.[1] Dass Reifferscheid sich dabei trotz reklamierter Systemdistanz lavierend verhielt, gestand er selbst ein.[2] Fraglich bleibt, wie weit er ging und ob er auch Chancen, die das NS-System ihm und seiner Unternehmensstrategie bot, grob zu Lasten anderer nutzte oder gar herbeizuführen half.[3] Jedenfalls gelang ein Jahr nach Kriegsende mit Lizenz der französischen Besatzungsmacht in Berlin die Wiederaufnahme der Verlagstätigkeit in den etablierten Sektoren Recht und Wirtschaft. Sympathien für die politische Linke blieben erhalten.

Die im beginnenden Kalten Krieg exponierte Lage der westlichen Sektoren Berlins, die 1948 durch die sowjetische Blockade von ihren Energie- und Lebensmittelversorgungen abgeschnitten werden sollten, veranlasste manche Berliner Unternehmen, in die Westzonen des besetzten Deutschland auszuweichen. Auch der Hermann Luchterhand Verlag (im Folgenden kurz Luchterhand Verlag) reagierte darauf mit der Einrichtung einer Westfiliale in Neuwied am Rhein nahe Koblenz, wiederum im französischen Besatzungsgebiet. Im Zuge der sich langsam konsolidierenden Bundesrepublik der 1950er Jahre, in der das sog. Wirtschaftswunder Fahrt aufnahm, ging auch Eduard Reifferscheid – seit 1950 alleiniger Geschäftsführer des Luchterhand Verlags – mit dem nunmehrigen Westverlag auf Expansionskurs. Der eingeführte Programmbereich Wirtschaft und Recht sowie eine Druckerei bildeten 1954 die geschäftliche Basis für die Einrichtung einer literarischen Abteilung. Dass der neue Geschäftsbereich zudem eine „willkommene Geschichte für Steuerabschreibungen“ darstellte – wie sein erster Leiter Peter R. Franck sich erinnerte – beleuchtet zudem den bei Reifferscheid auch weiterhin wachen Geschäftssinn.[4]

Das Marktverständnis des Verlegers zeigte sich ebenfalls in der Lancierung einer auch experimentell orientierten Zeitschrift, die als eine Art Markenzeichen des neuen literarischen Luchterhand Verlags dienen und Aufmerksamkeit im intellektuell und ästhetisch modern orientierten Publikum wecken sollte. Mit Alfred Andersch prägte ein der „Gruppe 47“ angehörender Autor und ein auch als Rundfunkredakteur – eines in den 1950er Jahren noch kulturell prägenden Mediums – bekannter und einflussreicher Intellektueller die Anfang 1955 debütierenden Texte und Zeichen. Andersch hatte in seinem als „Bericht“ deklarierten, stark rezipierten und von der politischen Rechten befehdeten Buch Die Kirschen der Freiheit 1952 eine ganze Reihe heikler Themen angefasst: Seine Desertion zu US-Truppen in Italien sowie die von vielen Ex-Landsern hochgehaltene „Kameradschaft“ in der Wehrmacht und überdies geurteilt: „‚Wehrmacht‘ ist eine typische Wort-Erfindung eines heroischen Etappen-Trottels.“[5] Der so politisch profilierte Herausgeber der Texte und Zeichen entwickelte die Zweimonatsschrift zu einem weltoffenen Forum neuer Literatur, das auch durch einen Skandalprozess auf sich aufmerksam machte und seinen Zweck für den Verleger bald erfüllte.[6] Sein Erfolg bedeutete zugleich das Ende dieses defizitären Vorzeigeprojekts. Reifferscheid war da unverblümt: „Mein Verleger hat mir in schöner Offenheit mitgeteilt, daß die Zeitschrift für seinen Verlag ihren Zweck erfüllt habe und er weitere Zuschüsse lieber in die Buchproduktion stecken wolle.“[7]

Der hiermit als Heimathafen für elaborierte deutsche Gegenwartsliteratur aufgestellte Luchterhand Verlag etablierte sich endgültig in diesem Programmbereich durch die 1959 erfolgende Publikation von Günter Grass’ Debütroman Die Blechtrommel. Auch dieses Buch war umstritten und für religiös und nationalkonservativ motivierte Skandalisierungen gut – aus der Sicht des Verlages allemal ein zusätzliches profilbildendes Plus. Sein Autor Grass, ein „enfant terrible“ der späten Adenauer-Jahre, stand dabei längst nicht allein, die regierungskritische Haltung war für Schriftsteller in den späten Jahren der Kanzlerschaft Konrad Adenauers um 1960 nahezu ein Berufsmerkmal.[8] Dass sein Erfolgsautor Grass jedoch auch in der Kulturpolitik des anderen deutschen Staates übel ankam, sollte für ein weiteres Geschäftsfeld der Literatursparte des Luchterhand Verlags eine Problemzone schaffen.

Spätestens mit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 war unübersehbar, dass die Bonner Politik gegenüber der DDR gescheitert war. Das „Phänomen“ (Kurt Georg Kiesinger) war auf absehbare Zeit eine Tatsache, mit der zu rechnen war und die Neugier erweckte. In den frühen 60er Jahren wuchs bei westdeutschen Verlegern das Interesse an DDR-Literatur, die mithin als eigengesichtig erkennbar wurde. Luchterhand setzte hier einen Programmschwerpunkt und wurde eine erste Adresse für DDR-Literatur in Westdeutschland. Dieses frühe Engagement hatte eine bedeutsame politische Dimension: Mit ihr ging eine gleichsam schleichende kulturelle Anerkennung der DDR deren politischer Anerkennung um ein Jahrzehnt voraus.[9]

Mit Das siebente Kreuz begann der Luchterhand Verlag 1962 die Herausgabe von Anna Seghers’ Werken in Einzelbänden für den Markt der Bundesrepublik. Die nach ihrer Rückkehr aus dem Exil in der DDR ansässige Autorin konnte ihre Rechte selbst verwalten, sodass Luchterhand persönlich autorisierte Ausgaben vertreiben konnte.[10]

Die Kontakte des Luchterhand Verlags zur DDR und zu einzelnen DDR-Autorinnen und -Autoren wurden in erster Linie von der Lektorin Elisabeth Borchers gepflegt. Borchers, die auch als Lyrikerin hervortrat, besuchte die DDR und den Ostteil Berlins häufig. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verfolgte die Beziehungen zwischen Westintellektuellen und, wie es in der DDR hieß, „Kulturschaffenden“ grundsätzlich mit Argwohn. Man befürchtete eine breitbandige, mehr oder minder unterschwellige Beeinflussung durch die „Westkontakte“, die zur Aufweichung der DDR-Systemloyalität führen konnte und sollte – die sog. Politisch-Ideologische Diversion, kurz: PID.[11] Das Misstrauen, in diesem Rahmen gezielt Verbindungen zu suchen, traf auch Borchers, sie galt als „Exponentin der gegnerischen Kontaktpolitik“. Bereits zuvor hatte es resümierend geheißen:

Bei größeren literarischen Arbeiten legt die Borchers […] besonderen Wert auf solche Arbeiten, die literarisch möglichst qualitativ hochstehen, im Inhalt jedoch versteckt oder auch offene Kritiken an der gesellschaftlichen Entwicklung z. B. der DDR enthalten. Unter diesem Gesichtspunkt muß auch die Veröffentlichung der Christa Wolf und die angekündigte Herausgabe von Hermann Kant eingeschätzt werden. Die erklärte gegenüber einer zuverlässigen inoffiziellen Quelle, daß sie sich der politischen Aspekte in der von ihr vorgeschlagenen Literatur von DDR-Autoren von vornherein durchaus im Klaren sei. Sie sei jedoch verärgert darüber, daß selbst ihre Mitarbeiter im Verlag diese Aspekte nicht erkennen bzw. herauslesen würden.[12]

 


Im Fall von Christa Wolfs Buch Nachdenken über Christa T. sind diese „politischen Aspekte“ reich dokumentiert und zeigen zugleich ein Dilemma der DDR-Kulturpolitik gegenüber dem Westen: Der Erfolg der erstrebten Anerkennung und Geltung wurde im Regelfall erkauft durch eine Aufweichung der offiziellen kulturpolitisch-ideologischen Linie. Wolfs Roman, dessen Anfänge auf das kulturpolitisch rigide „Kahlschlag-Plenum“ im Dezember 1965 zurückreichen, markiert nach Ansicht des DDR-Literaturwissenschaftlers Werner Mittenzwei „eine Richtungsänderung in der Literatur“. Die Orientierung auf die individuelle Befindlichkeit der Heldin und ihr Scheitern im Anspruch auf Selbstverwirklichung seien bereits als ein „Ausscheren vom gemeinsamen Weg“ empfunden worden.[13] Eine in der DDR denkbar hoch gehängte Selbstkritik des Verlegers – sie erschien in den Spalten des SED-Leitblattes Neues Deutschland – machte das Werk endgültig zum politischen Ereignis. Ein anderer Literaturwissenschaftler aus der DDR, der spätere SPD-Politiker Wolfgang Thierse, hebt rückblickend einen für die politische Dimension des Buches entscheidenden Punkt hervor, wenn er zu dessen großer Resonanz in seinem damaligen Milieu anmerkt: „Die in Christa T. aufscheinende Absage an den staatlich verordneten, schnöden Optimismus entsprach dem Lebensgefühl vieler junger Menschen in der DDR, die Melancholie des Buches hatte etwas Befreiendes.“[14] Eben darin kollidierte der Tenor des Romans mit dem Staatsverständnis im Sinne eines historischen Optimismus, der die offizielle Selbstdarstellung der DDR beherrschte.[15]

Der große Erfolg der Luchterhand-Westausgabe von Nachdenken über Christa T., die zahlreiche Nachauflagen erfuhr, erwies wiederum die Zwickmühle der DDR-Imagepolitik. Das Buch weckte Neugier auf und Zuwendung zum anderen deutschen Staat – aber eben als „deutschem Staat“ und stärkte so das Band der einheitlichen „Kulturnation“, das Luchterhand-Starautor Günter Grass zum Missvergnügen der DDR-Politik späterhin intensiv vertreten sollte. Die Dynamik der kulturellen Anerkennung bedeutete zugleich eine Akzentuierung der Nähe im Zeichen jener Momente – etwa der melancholischen Atmosphäre in der Christa T. –, die zumindest in Halbdistanz zur parteioffiziellen Position Ostberlins standen. Glaubt man in diesem Fall einem Gewährsmann des MfS, so war der Aspekt des Politischen bei diesem Roman von Christa Wolf für den Westverlag entscheidend. Von Elisabeth Borchers, die, wo es ging, durch das MfS nachrichtendienstlich „abgeschöpft“ wurde, wusste er zu berichten, beim Luchterhand Verlag habe nicht deren literarisch begründete Druckempfehlung, sondern das politische Momentum den Ausschlag gegeben:

Luchterhand habe die DDR-Literatur nur unter dem Gesichtspunkt des Skandals, der politischen Präsenz betrachtet und dies sei gegen ihre Auffassungen. Die Borchers führte als Beispiel Christa Wolf an. Nachdenken über Christa T. habe sie für Luchterhand optiert, als es weder in der DDR, noch in Westdeutschland kritische Meinungen oder gar öffentliche Diskussionen gab. In ihrem ersten Gutachten für Luchterhand habe sie auch ausschließlich den literarischen Wert des Buches hervorgehoben und es deshalb zur Veröffentlichung vorgeschlagen. Die Leitung von Luchterhand habe jedoch ihre Auffassung nicht geteilt und erst nach der Kritik an Christa Wolf auf dem Schriftstellerkongreß der DDR habe Otto F. Walter seinerseits in einem Gutachten den politischen Wert des Buches hervorgehoben und es sei daraufhin auch zur Veröffentlichung gekommen.[16]

Für die DDR-Seite wiederum spielten die Deviseneinnahmen eine Rolle. Die mit Christa Wolf befreundete Brigitte Reimann bemerkte gallig: „Noch zur Christa T.: Den Rest (einen stattlichen Rest) der Auflage hat der Mitteldeutsche Verlag an den Luchterhand-Verlag verscheuert. Tüchtig. ‚Ihr habt gelernt‘, sagt der Konzernherr in Krupp und Krause. Wenn’s um Devisen geht, schweigen die Ideologen.“[17]

Ähnlich durchwachsen stellt sich die Erfolgsbilanz der DDR im Fall der Autorin Irmtraud Morgner dar. Mit ihrem 1976 bei Luchterhand im Westen veröffentlichten Roman Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura landeten Autorin und Verlag einen schnellen Publikumserfolg, der bald im westdeutschen Feminismus in den Rang eines zentralen Textes der Emanzipationsliteratur aufrückte.[18] Maxie Wanders Guten Morgen, du Schöne wiederholte zwei Jahre darauf diese starke Resonanz in der aufkommenden Frauenbewegung, die vom Verlag als Zielgruppe erkannt worden war.[19] Während es dem Luchterhand Verlag nicht zuletzt mit Titeln aus der DDR gelang, sich fest auf dem Marktsegment der neuen Frauenliteratur zu etablieren, waren es aus der Perspektive der offiziellen DDR-Selbstdarstellung wiederum die Abweichungen wie Morgners „spezifisch feministische(r) Sozialismus“,[20] die ins westliche Scheinwerferlicht gerückt und politisch wirksam wurden. Demgegenüber war die Aufmerksamkeit bei genehmeren DDR-Autoren geringer. Die Berichte der MfS-Gewährsleute von der Frankfurter Buchmesse heben diese Diskrepanz zwischen dem Publikumserfolg Morgners und der Insider-Andacht, zu der ein Auftritt eines ideologisch unauffälligen Autors geriet, hervor: „Während die Lesung von Irmtruat (sic!) Morgner sehr viele Interessenten angelockt hatte, so daß man sogar in einen größeren Saal umziehen mußte, las Gerhard Holtz-Baumert vor ca. 20 Personen, wobei mindestens die Hälfte Mitglieder der DDR-Delegation waren.“[21]

Aus der DDR-Perspektive war im Gegenzug insbesondere ein spezifisches Segment des Luchterhand-Verlagsprogramms interessant. Die in den frühen 60er Jahren um den Dortmunder Bibliotheksdirektor Fritz Hüser gebildete „Gruppe 61“ verfolgte die Absicht, die bis dahin in der westdeutschen Literatur vernachlässigte industrielle Arbeitswelt als Thema zu etablieren und aus den Reihen der Industriearbeiterschaft Autoren zu gewinnen und zu fördern. Einen ersten verlegerischen Rückhalt fand die Gruppe in Georg Bitter, der den sozialpolitisch engagierten katholischen Paulus-Verlag in Recklinghausen leitete. Dort wurde auch der Bergmann Max von der Grün als Autor etabliert. Dessen zweiter Roman Irrlicht und Feuer fand großen Widerhall – zu den Lesern gehörte auch Kanzler Konrad Adenauer – und schlug selbst juristisch Wellen. Andere Autoren aus der „Gruppe 61“ wurden ebenfalls – teils mit öffentlichen Geldern bezuschusst – aus primär politischen Motiven bei Paulus publiziert. Entsprechend enttäuscht reagierte Bitter auf die Zusammenarbeit Hüsers mit dem Luchterhand Verlag. Der Spiritus Rector der Dortmunder Gruppe dachte ganz in literaturstrategischen Bahnen: „Sicher hat ihr Verlag die ersten Publikationen von Autoren unserer Gruppe herausgebracht und das wird auch wohl kein Kenner bestreiten – Sie selbst werden aber einsehen, daß die Wirkung Ihres Verlages von der Gesamtstruktur her in die literarische Öffentlichkeit hinein gering ist.“[22]

Doch auch bei Luchterhand blieb der Erfolg des Almanachs der Gruppe, der 1966 erschien, enttäuschend und eine zuvor ins Auge gefasste weitere Zusammenarbeit des Luchterhand Verlags mit den Dortmundern realisierte sich nicht. Auch verzichtete man bei Aufbau in der DDR auf eine Lizenzausgabe und produzierte eine eigene Auswahl. Für die Autoren der „Gruppe 61“ bedeutete die Pleite einen schweren Schlag.[23] Obwohl die Thematik der (proletarischen) Arbeitswelt einen literarischen Trend um 1970 traf, war der dokumentarische Anspruch, wie ihn Erika Runges in ihren bei Suhrkamp verlegten Bottroper Protokollen erfolgreich vertrat, von der Prosa dieser Formation nicht einzuholen. Eine Ausnahme bildete, wie zuvor beim Paulus-Verlag, Max von der Grün. Der nunmehr ehemalige Bergmann fand im Luchterhand Verlag eine ebenso zugewandte Atmosphäre wie zuvor im Paulus-Lektorat.[24] Von ihm erschienen weitere Titel bei Luchterhand. Versuche seines Erstverlegers, ihn wenigstens für das eine oder andere Jugendbuch zurückzugewinnen, schlugen fehl.

Das Engagement für die „Gruppe 61“ und besonders für Max von der Grün kann als belletristischer Seitenzweig eines in den mittleren 50er Jahren etablierten Programmschwerpunkts angesehen werden. Mit der Untersuchung Die einsame Masse von David Riesman legte der Luchterhand Verlag 1955 einen Text vor, der zum Klassiker werden sollte und Anspruch und Niveau der neuen gesellschaftswissenschaftlichen Verlagssparte anzeigte. Als Indiz für die Marktgängigkeit dieses Angebots mag der große Erfolg von Helmut Schelskys Skeptischer Generation zwei Jahre darauf gewirkt haben, der einen Schub für das Prestige sozialwissenschaftlicher Forschung brachte und der die in den 1950er Jahren fortlaufend geführte gegenwarts- und kulturdiagnostische Debatte weiter beflügelte.[25] Auf diesen Trend setzte auch die bei Luchterhand ab 1959[26] verlegte Reihe „Soziologische Texte“ (Bd. 1‒105, 1959‒1976, Neue Folge Bd. 106‒125, 1978‒1982) – gleichsam ein symbolischer Beginn der „60er Jahre“, wie auch Günter Grass’ Maßstäbe setzender Roman Die Blechtrommel.

Die theoretisch orientierte Reihe vereinigte Schlüsseltexte der Soziologie von bekannten klassischen Vertretern des Fachs wie Émile Durkheim und Max Weber, aber auch Gegenwartsautoren, so z. B. aus dem angelsächsischen Raum Charles Wright Mills und Talcott Parsons. Eine Bühne fanden überdies Sozialwissenschaftler, deren größte Resonanz noch vor ihnen lag wie etwa Norbert Elias, dessen Höfische Gesellschaft 1969 herauskam, oder Maurice Halbwachs’ Studie Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen aus dem Jahr 1966. Daneben wurden mit Wilhelm Emil Mühlmann und Arnold Gehlen auch Fachvertreter aufgenommen, die konservativ profiliert bis umstritten waren. Bemühungen, auch einen Titel von Carl Schmitt für das Programm zu gewinnen, schlugen – wie auch bei Suhrkamp – fehl.[27]

Mit dem zusätzlichen Schwerpunkt auf soziologischer Literatur rückte der Luchterhand Verlag in die Rolle des Mitgestalters eines zentralen Zuges im intellektuellen Profil des anhebenden Jahrzehnts. Durch die ihnen zuwachsende Funktion einer Leitwissenschaft gewannen die Sozialwissenschaften in den 60er Jahren „das Monopol für gesellschaftliche Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsprojektionen“.[28] Es waren die von der Soziologie zur Verfügung gestellten Begriffsnomenklaturen und Perspektiven auf den politischen Raum der westdeutschen Gesellschaft, die den Auseinandersetzungen um die Struktur und Reform oder aber revolutionären Umwälzung der Bundesrepublik die Konturen verliehen, an denen sich die Frontbildungen orientierten.[29]

Dass der Beitrag des Luchterhand-Verlagsprogramms ein deutlich zur Linken neigendes Gewicht aufwies, lag wesentlich am verantwortlichen Lektor Frank Benseler. Benseler, der gute Kontakte auch über das Berufliche hinaus in die DDR unterhielt,[30] verstand sich als Marxist und verlieh seiner Programmpolitik trotz der breiten Aufstellung erkennbar ein entsprechendes Profil. Das antikapitalistische Engagement des Lektors gab sich auch direkt in seiner Mitwirkung an der Initiative der „Literaturproduzenten“ zu erkennen, die 1969 eine „Gegenmesse“ zum jährlichen Frankfurter Literaturauftrieb organisierte. Benseler erklärte programmatisch für die Gruppierung: „Die literarischen Produktionsverhältnisse müssen erforscht werden. Die Produktionsverhältnisse sind die wirtschaftlichen, die materiellen, die Eigentumsverhältnisse, die die Klassenlage bestimmen […]. Diese Forschung muß vom Standpunkt derer aus betrieben werden, für die heute und von denen heute Literatur gemacht wird.“[31]

Es ist auch ein Charakteristikum der Publikationspolitik Benselers, den Klassenbegriff über entprechende Texte in der politischen Debatte der Bundesrepublik wieder zur Geltung gebracht zu haben. Im Mittelpunkt stand dabei – seiner persönlichen Orientierung entsprechend – das Werk von Georg Lukács. Wenngleich der in der DDR wegen seines Engagements in der Ungarn-Krise 1956 offiziell ausgeblendete marxistische Theoretiker, dessen Ästhetik dennoch ein Fixpunkt der offiziellen ostdeutschen Kulturpolitik blieb, prominent im Luchterhand Verlag platziert das Ostgeschäft belasten konnte, waren die Marktchancen im Westen günstig. Die mit den 60er Jahren Kontur gewinnende „Neue Linke“ sah sich auch vor die Aufgabe gestellt, sich eine literarisch-theoretische Tradition zu erschließen. Der Bruch, den der Nationalsozialismus in der politisch-theoretischen Überlieferung bedeutete und die anschließenden Ausschließungs- und Formierungseffekte des Kalten Krieges wiesen hierbei zurück auf die Zeit der Weimarer Republik. Diese Suchbewegung, an der auch die im studentischen Milieu aufkommende Raubdrucker-Szene teilhatte, schuf ein aufnahmebereites Lesepublikum für eine Lukács-Werkausgabe. Die Rückgewinnung häufig auch jüdischer Autoren wurde zugleich als aktueller Beitrag zur politischen Strategiedebatte der Neuen Linken begriffen. Insbesondere Lukács’ Klassiker Geschichte und Klassenbewußtsein – der ebenfalls als Raubdruck umlief – führte ins Zentrum der neulinken Debatte.

Das Interesse an Lukács’ Buch aus dem Jahr 1923 war in der intellektuellen Führungsgruppe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), einer Kernformation der Neuen Linken, ausgeprägt. Der (West-) Berliner SDS-Stratege Rudi Dutschke befasste sich nicht nur im Rahmen seines Studiums mit dem ungarischen Philosophen, er besuchte ihn auch im Mai 1966 in seiner Budapester Wohnung.[32] Im zweiten SDS-Zentrum Frankfurt am Main betrieb der Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl die Sache des Großtheoretikers. Für den früh verstorbenen theoretischen Kopf des SDS stand die Aktualität von Lukács’ Analysen für die westeuropäischen Protestbewegungen außer Frage.[33] Dabei war für die neulinke Gegenwartsanalyse insbesondere Lukács’ in Geschichte und Klassenbewußtsein entwickelte Verdinglichungstheorie für politische Überlegungen zentral, schien sie doch ein Schlüsselmoment für die Formulierung einer Strategie anzusprechen. Eine Kernaussage im Aufsatz des Bandes mit dem Titel „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“ lautete: „So wie das kapitalistische System sich ökonomisch fortwährend auf erhöhter Stufe produziert und reproduziert, so senkt sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus die Verdinglichungsstruktur immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewußtsein der Menschen hinein.“[34] Lukács’ Befund ergänzte etwa 40 Jahre später mit Herbert Marcuse ein weiterer zentraler Gewährsmann der Neuen Linken und Luchterhand-Autor: „Da die Verdinglichung vermöge ihrer technologischen Form die Tendenz hat, totalitär zu werden, werden umgekehrt die Organisatoren und Verwalter selbst immer abhängiger von der Maschinerie, die sie organisieren und handhaben. Und diese wechselseitige Abhängigkeit ist nicht mehr das dialektische Verhältnis von Herr und Knecht […] sondern eher ein circulus vitiosus, der beide einschließt, den Herrn und den Knecht.“[35] So kommunizierten mitunter Titel des linken Therorieangebots im Verlagsprogramm gleichsam untereinander und spannten einen Diskursrahmen für Selbstverständigungs- und Strategiedebatten der linken Protestbewegungen auf.

Mit der Taschenbuchreihe „Sammlung Luchterhand“[36] stand seit 1970 (Laufzeit bis 2010) ein Medium zur Verfügung, das mit Autoren wie Lukács und Marcuse ein jüngeres Lesepublikum auch preislich erreichen konnte. Eine politische Ausrichtung war erklärtes Ziel der Reihe, wie das inhaltliche Design des für die „Sammlung Luchterhand“ zuständigen Lektors Stephan Reinhardt klarstellt: „Von ihrer inhaltlichen Konzeption her stellt sich die ‚Sammlung Luchterhand‘ die Aufgabe, politische, wissenschaftliche und ‚belletristische‘ Literatur zu publizieren, die im weitesten Sinne kritisch-emanzipativer Aufklärung dient. Sie will Thesen und Gedanken eine Plattform geben, die den gesellschaftlichen Status quo transformieren helfen via radikal-demokratischer/sozialistischer Theorie und Praxis.“[37] Mit dem äußeren Design der Reihe setzte der Verlag einen der inhaltlichen Ausrichtung parallelen Akzent. Das Erscheinungsbild der mit Jurek Beckers Jakob der Lügner aus dem DDR-Segment des Verlagsprogramms eröffneten „Sammlung Luchterhand“ war zunächst bei betonter Reihenuniformität – einem Markenartikel-Signal – ästhetisch minimalistisch angelegt. Ein in Block gesetzter Covertext als abstraktes Ordnungelement in Korrespondenz mit Buchform und Fläche, ausbalanciert durch ein Verlagslogo in der linken unteren Ecke bot eine Einführung in den Inhalt des jeweiligen Titels – eine Art ausführlicher „Waschzettel“ als Coverdruck. Die einheitliche Farbgebung unterstützte das ästhetisch vermittelte Understatement. Derart wurde nahegelegt, das Buch als Instrument oder Werkzeug aufzufassen oder ‒ marxistisch gesprochen ‒ seinen vom „Tauschwert“ der Ware abgesetzten „Gebrauchswert“ anzusehen. Mit dem ästhetisiert ausgestellten Gebrauchswert, wie er auch in der Raubdruck-Szene als Authentizitäts-Suggestion wirkte, entstand so das Paradox einer warenästhetisch inszenierten Wendung gegen die „Warenästhetik“.[38]

 


Die für die „Sammlung Luchterhand“ charakteristische Ausrichtung auf praktisch-politische Wirksamkeit bei einem insgesamt avantgardistischen Anspruch und der Verabschiedung einer selbstgenügsam an „Innerlichkeit“ angelehnten Lesehaltung lässt sich auch in einer in der tradierten Wahrnehmung weit davon entfernten literarischen Gattung aufweisen – der Lyrik. Herausgegeben von Elisabeth Borchers, Klaus Roehler und Günter Grass erschienen von 1966 an Mappen mit auf ungewöhnlich großformatigen Einzelblättern gedruckter, mitunter direkt politischer Gegenwartslyrik. Auch hier wurde ein Akzent auf den alltäglichen „Gebrauchswert“ dieser traditionell gegenweltlich positionierten Ausdrucksform gelegt; die Integration des literarischen Kunstwerks in die Lebenswelt bewirkte zugleich seine Enthierarchisierung und Demokratisierung im Gleichklang mit der in den 60er Jahren voranschreitenden Ästhetisierung des bundesdeutschen Alltags.[39] Die Hamburger Tageszeitung Die Welt betitelte einen Beitrag zu der Luchterhand-Reihe denn auch mit „Gebrauchslyrik“.[40] Wie in der „Sammlung Luchterhand“ war in der Lose-Blatt-Lyrik wieder von Beginn an die Integration von Beiträgen aus der DDR eingeplant.[41] Das Unternehmen trug sich trotz der bis ins Epochenjahr 1968 anwachsenden Resonanz finanziell nicht, und mit der teils abflauenden, teils sich verlagernden Bewegungsenegie der antiautorären Neuen Linken ließ der Zuspruch nach, so dass die Reihe Ende 1970 eingestellt wurde.

Auf dem Feld des Experimentellen verband sich zunächst (in fragiler Weise) das linke politische Engagement mit dem ästhetischen Avantgardismus. Der Eintritt 1967 des Schweizers Otto F. Walter in den Luchterhand Verlag als „Mitverleger und Juniorpartner“[42] verstärkte die Tendenz zu elaborierten sprachlichen Formexperimenten. Walter war zuvor trotz seiner sehr guten Programmentwicklung im Schweizer Walter Verlag überraschend gekündigt worden. Der konservativ katholisch orientierte Verwaltungsrat des Unternehmens ließ ihn wissen, die von ihm geförderten Titel seien zu links und überdies „literarisch nicht vertretbar, für ‚normale Leser‘ nicht lesbar.“[43] Bei Luchterhand förderte er nunmehr „die experimentellen ‚Walter-Autoren‘ wie Ernst Jandl, Helmut Heißenbüttel oder H. C. Artmann.“[44]

Darauf, dass der in den 60er Jahren etablierte Gleichklang zwischen literarischem und politischem Avantgardismus nicht zwangsläufig war, lieferte die Kontroverse um die Provokation des Cheflektors von Suhrkamp, Walter Boehlich, im Kursbuch einen Hinweis. Die Krise des Suhrkamp-Verlags im Herbst 1968 drehte sich neben der inneren Verfasstheit des Unternehmens auch um die gesellschaftliche Rolle der Literatur.[45]

Diese Erschütterungen, die die Branche in der Bundesrepublik und Westberlin um 1970 insgesamt betrafen, erreichten auch den Luchterhand Verlag. Im Zentrum stand hier Frank Benseler. Die starke Stellung, die Luchterhand in der linken politischen Szene einnahm, war in erster Linie auf dessen persönliches Engagment zurückzuführen, das sich jedoch nicht auf die Programmgestaltung im sozialwissenschaftlichen Bereich beschränkte. Die Protagonistenrolle, die Benseler bei den weitreichenden Konzeptionen der Literaturproduzenten spielte, lehnten sowohl Günter Grass wie auch Eduard Reifferscheid als zu weitgehend ab.[46] Hinzu traten Differenzen zwischen Benseler und Otto F. Walter, die ebenfalls im Kern politisch waren.[47] Elisabeth Borchers machte gegenüber Gesprächspartnern aus der DDR aus den verlagsinternen Grabenkämpfen kein Geheimnis. Ob das politische Raster von ihr stammte oder sich dem Koordinatensystem des Zuträgers verdankte, muss offen bleiben (die Kreuze im nachstehenden Zitat kennzeichnen geschwärzte Namen):

Ihr Weggang vom Luchterhand-Verlag würde in erster Linie politische, aber damit verbunden auch fachliche Ursachen haben. Bei Luchterhand habe sich seit längerer Zeit eine Gruppe linksorientierter Mitarbeiter herausgebildet, zu der vor allem die Lektoren XXX und XXX und auch sie selbst gehörten. Diese Gruppe habe in ständigem Kampf mit den reaktionären Kreisen des Verlages um XXX, XXX und Eduard Reifferscheid gestanden. Im Zusammenhang mit Forderungen nach einem neuen Betriebsrat seitens der linken Kräfte habe die andere Seite versucht, XXX und Borchers fehlerhafte Arbeit zum Schaden des Verlages nachzuweisen und sie gleichzeitig durch politische Anschuldigungen zu diffamieren. Da der Streit kein Ende nahm, habe Reifferscheid zu Gunsten des rechten Flügels entschieden, daß die Struktur des Verlages umgestaltet werde. Belletristik und Soziologie bleiben keine Schwerpunkte des Verlages. Die finanziellen Mittel für beide Lektorate werden auf ein Minimum beschnitten und damit auch die Reisetätigkeit vor allem in die „Oststaaten“ unterbunden. Jede Veröffentlichung wird durch die Verlagsleitung konkret überprüft. Um die Wirksamkeit beider Lektorate weiter einzuschränken, wurden beide bis spätestens 1972 nach Darmstadt ausgelagert.[48]

In jenes Jahr fiel auch die fristlose Kündigung des für die Sozialwissenschaften zuständigen Lektors Frank Benseler. Die Bastion der Neuen Linken im Verlag existierte nicht mehr.[49] In der Folge verlor der soziologische Programmbereich an Gewicht, 1982 wurde das Lektorat aufgelöst. Die Anzahl der Titel in der renommierten „Sammlung Luchterhand“ wurde ab 1974 auf die Hälfte geschrumpft, die Westberliner Filiale des Verlages schloss ebenfalls zum April 1974. Dieser breit angelegte Umbau des Verlagsprofils spricht für die Einschätzung, dass sich die Trennung von Benseler der Einschätzung des stets auch marktorientiert denkenden Verlegers Reifferscheid verdankte, dass sich der politische Wind zu drehen begann und die bislang gängigen Titel aus dem linken politisch-theoretischen Spektrum ihre große Zeit hinter sich hatten.[50]

Die Verlagsbranche nahm – durchaus zeitverschoben und uneinheitlich – insgesamt Abstand von gesellschaftspolitisch ausgerichteten Profilierungen. Die branchenkundigen Informanten des MfS bemerkten 1975 zur Frankfurter Buchmesse:

Die Messe war von einer Art Entpolitisierung in der Haltung im literarischen Geschäft geprägt. Die meisten Verlage haben ihre Reihen von politischen Titeln „gereinigt“, da diese Titel angeblich nicht mehr gefragt seien […]. Kennzeichnend war in diesem Zusammenhang auch, daß gleich zum Auftakt der Messe zu Fragen der Literaturentwicklung in der BRD ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vom 10.10.75) unter der Überschrift „Wer liest noch links – Die Schöngeistigen Verlage kehren dorthin zurück, wo sie herkamen“ veröffentlicht. Dieser Beitrag rechnet ab mit den Praktiken der großbürgerlichen traditionsreichen Verlage wie Luchterhand Verlag, Hanser Verlag, S. Fischer Verlag, Suhrkamp Verlag, Rowohlt Verlag usw., die – wie man bemerkt – den ganzen Trend zur Linksliteratur nur deshalb mitgemacht hätten, um im Geschäft zu bleiben, um in jeder Beziehung in der veränderten Situation Erfolge erzielen zu können. Dies sei jedoch absolut ins Auge gegangen.[51]

Wenngleich die Schlussbemerkung stark überzogen ist, und auch die Unterstellung einer rein ökonomischen Motivation für die Linksverschiebung vieler Verlagsprogramme in den 60er Jahren polemische Absicht verrät, ist der atmosphärische und daraufhin auch politische Wandel doch zutreffend gesehen. Das umlaufende Schlagwort von der „Tendenzwende“[52] war nicht nur leeres (Zweck-) Gerede. Tatsächlich war die optimistische Grundströmung, die eine weitgespannte Fortschrittshoffnung in einen offenen Zukunftshorizont projiziert hatte, Mitte der 70er Jahre zerfallen. Anstelle dieser allgemeinen Ausrichtung war eine vielstimmige, stark verunsicherte Erwartungshaltung getreten. In dieser neuen Vielfalt von Subjekten war Luchterhand zumindest im Bereich der Frauenliteratur gut aufgestellt.[53]

Anmerkungen

[1] Siegfried Lokatis, Sophie Kräußlich, Freya Leinemann: Luchterhand im Dritten Reich. Verlagsgeschichte im Prozess (Leipziger Arbeiten zur Verlagsgeschichte; 1), Stuttgart: Dr. Ernst Hauswedell & Co. KG Verlag 2018, S. 46.

[2] Reifferscheid schrieb 1974 an Günter Grass: „Über das Ausmaß meines Opportunismus im 3. Reich kann ich nachträglich keine Liste fertigen, ich fürchte aber, sie hätte eine bestimmte Länge. Wäre das anders, lebte ich nicht mehr.“ Zitiert nach Lokatis et al.: Luchterhand im Dritten Reich, 2018, S. 49.

[3] Siehe hierzu außer der Untersuchung von Lokatis et al. auch die Einschätzung von Konstantin Ulmer: VEB Luchterhand? Ein Verlag im deutsch-deutschen literarischen Leben, Berlin: Christoph Links Verlag 2016, S. 11, und Philipp Gesslers Artikel: Ein dunkler Keller, in: Die Tageszeitung (TAZ), 11.8 2012, S. 16‒17. VEB = Volkseigener Betrieb.

[4] Zitiert nach Ulmer: VEB Luchterhand?, 2016, S. 12.

[5] Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht, Zürich: Diogenes 2006, S. 79. Siehe zu den Turbulenzen, die Anderschs Buch insbesondere wegen seiner Thematisierung der Desertion auslöste, Jörg Echternkamp: Soldaten im Nachkrieg. Historische Deutungskonflikte und westdeutsche Demokratisierung 1945–1955 (Beiträge zur Militärgeschichte; 76 [Teil von: Anne-Frank-Shoah-Bibliothek]), [Berlin], München: De Gruyter Oldenbourg 2014, S. 293ff.

[6] Arno SchmidtsSeelandschaft mit Pocahontas, in der ersten Nummer der Zeitschrift veröffentlicht, führte zu einer Anklage wegen „Gotteslästerung“ gegen den Autor, den Herausgeber Andersch und Reifferscheid. Das Verfahren wurde eingestellt, vgl. hierzu und zu Texte und Zeichen Ulmer: VEB Luchterhand?, 2016, S. 50ff.

[7] Alfred Andersch an Armin Mohler (10.7.1957), zitiert nach Stephan Reinhardt: Alfred Andersch. Eine Biographie, Zürich: Diogenes 1990, S. 278.

[8] Vgl. Axel Schildt, Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart (Bundeszentrale für Politische Bildung. Schriftenreihe; 1011), Bonn: Bpb 2009, S. 225.

[9] In diesem Sinne auch Gunther Nickel: Der Luchterhand-Verlag, in: Monika Estermann, Edgar Lersch (Hrsg.): Buch, Buchhandel und Rundfunk 1968 und die Folgen (Mediengeschichtliche Veröffentlichungen; 3), Wiesbanden: Harrassowitz 2003, S. 166‒185, hier S. 178.

[10] Julia Frohn: Literaturaustausch im geteilten Deutschland 1945–1972, Berlin: Christoph Links Verlag 2014, S. 121 bzw. 125.

[11] Vgl. Berthold Petzinna:Die Beobachtung des westdeutschen Verlagswesens durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Das Beispiel des Suhrkamp-Verlags, in: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, online unter: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/139910/die-beobachtung-des-westdeutschen-verlagswesens-durch-das-mfs (20.9.2012).

[12] BStU MfS HA XX 13085 I, Bl. 000043 (Anwerbevorschlag Elisabeth Borchers, 12.3.1970) bzw. BStU MfS HA XX ZMA Nr. 20244, Bl. 000007 (Bericht zu Elisabeth Borchers HA XX/7, 12.12.1969).

[13] Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000, Leipzig: Faber und Faber 2001, S. 264. Siehe hierzu auch Ulmer: VEB Luchterhand?, 2016, S. 133ff.

[14] Wolfgang Thierse zum Tod von Christa Wolf, online unter: https://www.thierse.de/reden-und-texte/artikel-und-beitraege/nachruf-auf-christa-wolf/ (3.12.2011).

[15] Der Soziologe Wolf Lepenies betont das Element des Melancholie-Verbots in Utopien und utopisch ausgerichteten Programmatiken, vgl ders.: Melancholie und Gesellschaft Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 39ff. So etwa auch im „Aufbau des Sozialismus“, die DDR-interne Kontroverse zu Wolfs Buch betraf daher keine Kleinigkeit.

[16] BStU MfS HA XX ZMA Nr. 20244, Bl. 000010: HA XX/7: Treffbericht IMF „Ernö“, 1.9.1971. Bei dem Informanten handelt es sich um Jenö Klein.

[17] Brigitte Reimann: Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964–1970, Berlin: Aufbau-Verlag 1998, S. 243 (Eintrag vom 5.6.1969).

[18] Siehe zum Folgenden und zu Morgner/Hermann Luchterhand Verlag: Ulmer: VEB Luchterhand?, 2016, besonders S. 228ff., sowie Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis: „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre (Zeithistorische Studien; 5), Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 274ff.

[19] Ulmer: VEB Luchterhand?, 2016, S. 234.

[20] Simone Barck: Der Mitteldeutsche Verlag in den sechziger Jahren, in: Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis: „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre (Zeithistorische Studien; 5), Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 227‒285, hier S. 277.

[21] BStU MfS AIM 9188/91 T. II Bd. 5, Bl. 250.

[22] Fritz Hüser an Georg Bitter, 12.5.1966, Fritz Hüser Institut (Dortmund), Hüser 1520.

[23] Siehe hierzu Ulmer: VEB Luchterhand?, 2016, S. 117ff. Der ehemalige HLV-Lektor Franz Schonauer bemerkt: „Ein zweiter Gruppenalmanach erschien nicht – weder bei Luchterhand noch anderswo. Hingegen veröffentlichte Luchterhand bis jetzt vier Bücher von Max von der Grün. Ebenfalls sollte dort der Roman eines anderen Gruppenmitgliedes (Klas Ewert Everwyn) erscheinen, und vermutlich waren auch noch andere 61er als Autoren im Gespräch. Personelle Veränderungen im Lektorat und in der Verlagsleitung sowie äußere, den Buchmarkt betreffende Umstrukturierungen (‚Tendenzwende‘ – dieses Schlagwort verfälscht eher den Sachverhalt) haben dann vermutlich dafür gesorgt, daß diese Pläne nicht verwirklicht wurden.“ Franz Schonauer: Max von der Grün, München: Beck, München: Edition Text + Kritik 1978, S. 40.

[24] Der Autor resümiert: „Mit Dankbarkeit denke ich an Dr. Bitter, der meine ersten Romane verlegt hat und auch in den ganzen Prozessen hinter mir stand. Später waren es Menschen wie Stephan Reinhardt oder Klaus Röhler, die mich auf neue Möglichkeiten gestoßen haben.“ Gisela Koch: Wie war das eigentlich, Max von der Grün? Interview, in: Zum 70.: Festschrift für Max von der Grün [Redaktion: Gisela Koch, Ulrich Moeske]. Hrsg. von der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Dortmund: Stadt- und Landesbibliothek Dortmund: Stadtsparkasse 1996, S. 35.

[25] Helmut Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf, Köln: Diederichs 1957. Vgl. Franz Werner Kersting: Helmut Schelskys Skeptische Generation von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 50, 2002, S. 465‒495, online: https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2002_3_5_kersting.pdf (5.3.2002).

[26] Vgl. etwa im Jahr 2009 Volker Weidermann: Das wunderbare Jahr. 1959 in der Literatur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung online: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/1959-in-der-literatur-das-wunderbare-jahr-1756510.html (26.1.2009).

[27] Nickel: Der Luchterhand-Verlag, 2003, S. 176. An Suhrkamps entsprechenden Versuch erinnert sich Jacob Taubes: „In der Konfiguration Suhrkamp-Theorie, da muß ich Habermas verteidigen, war er immer gegen die Idee, daß wir Schmitt in die Suhrkamp-culture aufnehmen. Und es waren Karl Markus Michel und Jacob Taubes, die mit dem Gedanken spielten. Und es sei zur Ehre von Schmitt gesagt, daß er sagte, ‚also nein, in die Suhrkamp-culture gehe ich nicht‘. So hat auch Heidegger abgelehnt, der sehr viel Geld versprochen bekam, um Sein und Zeit als Taschenbuch bei Suhrkamp zu veröffentlichen, eine Summe, die jenseits der sonstigen Marktpreise war. So haben die beiden Rückgrat gehabt und gesagt, ‚nein, Suhrkamp-culture ist nicht unsere culture‘.“ Jacob Taubes: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin: Merve-Verlag 1987, S. 49. Über Schmitt erschien bei Luchterhand: Hasso Hofmann: Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts (Politica; 19), Berlin, Neuwied: Luchterhand 1964.

[28] Gabriele Metzler: „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: Matthias Frese, Julia Paulus, Karl Teppe (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik (Forschungen zur Regionalgeschichte; 44), Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2003, S. 782.

[29] Vgl. Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2005, S. 279.

[30] Ulmer: VEB Luchterhand?, 2016, S. 177.

[31] Zitiert nach Hannes Schwenger: Literaturproduktion. Zwischen Selbstverwirklichung und Vergesellschaftung, Stuttgart: Metzler 1979, S. VIII. Benselers Text wurde in der Zeitschrift Kürbiskern 3/1969 erstveröffentlicht. Siehe zu den Literaturproduzenten auch Klaus Briegleb: 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 138ff., der deren Selbstverständnis maoistisch inspiriert sieht.

[32] Siehe zur Bedeutung von Lukács für Dutschke z. B. die diversen Verweise bei Jürgen Miermeister: Rudi Dutschke, Reinbek bei Hamburg: Rowohl 1986.

[33] Siehe etwa Hans-Jürgen Krahl: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Kritik. Schriften, Reden und Entwürfe aus den Jahren 1966–1970, Frankfurt/M.: Verlag Neue Kritik 1977, S.164ff. und 199ff.

[34] Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied, Berlin: Luchterhand 1970, 185.

[35] Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied, Berlin: Luchterhand 1970, S. 53.

[36] Eine Unterreihe der „Sammlung Luchterhand“ war die „Collection Alternative“ (Bd. 1‒7, 1971‒1974), herausgegeben von Hildegard Brenner.

[37] Zitiert nach Nickel: Der Lucherhand Verlag, 2003, S. 182. Ulmer nennt die „Sammlung Luchterhand“ denn auch einen „Taktgeber des linken Diskurses“, ders: VEB Luchterhand?, 2016, S. 164.

[38] Später wurde das Design der Reihenbände dann doch aufgelockert und mit Bildmotiven unterstützt.

[39] Ulmer spricht treffend von einer „demokratische(n) Konzeption“, ders.: VEB Lucherhand?, 2016, S. 93.

[40] Vgl. ebd., S. 96, Anm. 195.

[41] Vgl. Konstantin Ulmer: Luchterhands Loseblatt-Lyrik: Der Volksaktien-Traum, in: Patricia F. Blume, Thomas Keiderling, Klaus G. Saur (Hrsg.): Buch macht Geschichte. Beiträge zur Verlags- und Medienforschung. Festschrift für Siegfried Lokatis zum 60. Geburtstag, Berlin: De Gruyter 2016, S. 211–220, hier S. 214.

[42] So die offizielle Titulatur, vgl. Dieter E. Zimmer: Wer kauft demnächst wen? Eine Inventur der Veränderungen und Schwierigkeiten im deutschen Verlagswesen, in: Die Zeit 26.5.1967.

[43] Zitiert nach Reinhardt: Alfred Andersch, 1990, S. 422.

[44] Ulmer: VEB Luchterhand?, 2016, S. 14.

[45] Dieser Komplex ist mehrfach betrachtet worden, siehe einführend etwa Peter Michalzik: Unseld. Eine Biographie, München: Blessing 2002, S. 177ff.

[46] Nickel: Der Luchterhand Verlag, 2003, S. 181.

[47] Vgl. Ulmer: VEB Luchterhand?, 2016, S. 110f.

[48] BStU MfS HA XX/7: Treffbericht IMF „Ernö“ (d. i. Jenö Klein), 1.9.1971, Bl. 000009. Siehe zu den HLV-Interna auch den Bericht von IMS „Kant“: AIM 9188/91 T. II Bd. 5 HA XX/7 (20.9 1971) zu Äußerungen von Borchers.

[49] In den Worten Konstantin Ulmers: „Die ‚rote Zelle‘ im soziologischen Lektorat um Benseler, Hartmann, Jetter und Jirak war bereits 1972 in Gänze aufgelöst.“ Ders.: VEB Luchterhand?, 2016, S. 192.

[50] So die Ansicht Nickels, vgl. ders: Der Luchterhand Verlag, 2003, S. 181f.

[51] BStU MfS AIM 9188/91 T. II Bd. 5: Information (IM-Berichte) zur Frankfurter Buchmesse 9. ‒14.10.1975, Bl. 000252.

[52] Siehe hierzu: Tendenzwende. Jeder fühlt den neuen Wind, in: Der Spiegel, 6.1.1975, S. 19‒20.

[53] Siehe zu diesem Wandel Fernando Esposito: Von no future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Anselm Doring-Manteuffel, Lutz Raphael, Thomas Schlemmer (Hrsg.): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, S. 393‒423.