Freitag, 1.5., bis Samstag, 9.5.

Aktuelle Zahlen des Robert-Koch-Instituts: 160.758 Infizierte bundesweit, 6.481 Patienten gestorben. An der Spitze der Statistik: Bayern mit 42.489 gemeldeten Infizierten und 1850 Toten.

Tag der Arbeit. Keine Demos, sondern virtuelle „Kampfhandlungen“. Wolfgang Schäuble konstatiert: „Wir können den Schutz des Lebens nicht über alles andere stellen.“ Später legt er nach: Für staatliche Hilfen stehe nur soviel Geld zur Verfügung, wie erwirtschaftet wird. Er erntet einen Shitstorm.

Stoizismus wäre jetzt die richtige Geisteshaltung, doch ich renne schlecht gelaunt durch die Gegend. Die Maske behindert mich. Die Gewalt gegen die Presse nimmt zu. In Berlin wurde ein Team der satirischen „heute-show“ von Vermummten attackiert. Unklar ist, von wem. Kamen die Täter von rechts oder von links oder waren es gar Verschwörungstheoretiker?

Aus Sorge vor der Quarantäne gab es nicht nur Engpässe bei Klopapier und Nudeln. Gehamstert werden auch Medikamente. Präparate gegen Erkältungen und Allergien, Vitaminpillen, Nahrungsergänzungsmittel – die Nachfrage ist deutlich gestiegen. Die Pharmabranche hat Nachschubprobleme.

Deutschland erwacht langsam aus dem Corona-Schlaf. Sachsen-Anhalt erlaubt es, in 5er-Gruppen spazierenzugehen. Ab 11. Mai dürfen Menschen in Alten- und Pflegeheimen besucht werden.

Samstagmittag erster Ausflug in die Innenstadt nach sechs Wochen. Bei Regen und Wind bilden sich lange Schlangen vor vielen Geschäften, die sich nur langsam vorwärts bewegen. Mund- und Nasenschutz sind selbstverständlich Pflicht. Der Einkaufskorb, der desinfiziert wird, ebenso. Es macht keinen Spaß mehr, shoppen zu gehen.

In New York sind 175.000 mit dem Virus infiziert – mehr als in ganz Deutschland. Zwei Drittel der Opfer stammen aus der Black- and Brown-Community. Mitten in der City verwesen Tote in Leichenwagen, der Gestank ist bestialisch. In Italien sind fast 29.000 Menschen gestorben. In Russland steigt die Zahl der Infizierten dramatisch. In Großbritannien sind mehr Menschen positiv auf Corona getestet als in jedem anderen europäischen Land.

Bei uns gibt es erste Demonstrationen gegen die Corona-Bestimmungen, die viele als zu rigide empfinden. In Berlin, Frankfurt, München, Köln und Stuttgart gehen Menschen auf die Straße, häufig ohne Mundschutz und unter Missachtung der Abstandsregeln. Die Polizei greift nicht ein. Die Demonstranten sind eine wilde Mischung aus Verschwörungstheoretikern, Impfgegnern, Linken und Rechtspopulisten – und natürlich Menschen der bürgerlichen Mitte, die die Corona-Regeln für unverhältnismäßig halten und  sich ihrer Grundrechte beraubt fühlen. Die Protestbewegung „Widerstand 2020“ ist ein diffuses Sammelbecken: Für sie ist COVID-19 eine „staatliche Propaganda-Erfindung“, die dazu dienen solle, die Menschen zu gängeln. Die Sozialpsychologin Pia Lamberty von der Universität Mainz findet es nicht verwunderlich, dass gerade in Corona-Zeiten Verschwörungsmythen an Popularität gewinnen: Wer einen Kontrollverlust erleide, versuche dies durch die Erfindung von Mustern, so abstrus sie auch sein mögen, wettzumachen.

Die Friseurläden sind wieder geöffnet. So mancher, der sich gefühlt haben mag wie ein „explodierter Pumuckl“, hat diesen Tag herbeigesehnt. Vor den Geschäften bilden sich Schlangen. Vor allem die Herren warten geduldig auf ihren Undercut.

Söder verkündet seine Lockerungen. Das Virus ist unter Kontrolle. Erstmal, darauf weist er in seiner Rede wiederholt hin. Was werden wir ohne Corona tun? Ohne diesen Betroffenheitston der Nachrichten? Werden wir zur Tagesordnung übergehen, als wäre nichts gescheh´n?
Söders Fahrplan aus der Krise: Biergärten, Museen und Zoos sind wieder geöffnet, an Pfingsten dürfen auch die Hotels wieder loslegen. Schritt für Schritt kehren die Schüler in ihre Klassen zurück. Auch die Läden dürfen wieder aufsperren, egal, wie groß sie sind. Ob die Verbraucher mitziehen, ist eine ganz andere Frage. Das Marktforschungsinstitut McKinsey hat herausgefunden, dass viele ihr Verhalten im Alltag aufgrund der Corona-Krise ändern wollen: Sie wollen weniger ins Kino, Theater und in Konzerte gehen, seltener reisen und öffentliche Verkehrsmittel meiden...
Für Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger sind Wirtshäuser „systemrelevant“. Bei der Öffnung der Biergärten gehe es um die „Seele Bayerns“...

Seit überall nur noch von Lockerungen die Rede ist, ist das Corona-Kontinuum durchbrochen. Die Zeit dehnt sich nicht mehr ins Unendliche, sondern schrumpft auf Normalmaß. Nichts ist mehr bedeutungsschwanger. Die Zukunft wird so banal sein wie die Vergangenheit.

Eine junge Genesene sagt: „Corona war eine kafkaeske Selbsterfahrung. Alles wurde ganz langsam, eine Art kleiner Tod.“

Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich zum 75. Mal. Ich gehöre zur Generation der Kriegsenkel, meine Eltern waren schwer traumatisiert. Der Krieg wurde verdrängt, totgeschwiegen. Wir Kinder übernahmen die Rolle der Eltern, die nicht selbst für sich sorgen konnten. Sie waren emotional unterentwickelt. In der Pandemie heute sind die Kriegsenkel die Manager der Corona-Krise, und sie machen ihren Job recht gut. Sie sind es gewohnt, sich zu kümmern, für andere mitzudenken.

Schwedens Sonderweg, der auf Rücksichtsnahme basiert, funktioniert. In Russland wird der Shutdown beendet, obwohl die Zahl der Infizierten stetig steigt. Für die deutsche Kinobranche ist „Stay home“ ein Killer. Acht Wochen keine Vorstellungen; der Kuss im Kinosaal, der nach Popcorn schmeckt, ein Relikt aus vergangener Zeit.



Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020