11.5.2017 – Der Gott ist aus Schrott


Das Bild vor dem Fenster
steht still
ein Tropfen fällt
aus der Tanne
ein Rosenblatt zittert
was für eine Aufregung

Kaffee am Küchenfenster in der Sonne.
Jetzt sind es zwei rote Eichhörnchen. Sie springen an der Amsel vorbei die Birke hinauf, beobachtet von dem Raben im Gras. Oben kreist ein Mäusebussard. Pasolini: Große Vögel, kleine Vögel. Da spazieren die Krähen herum und diskutieren über Marxismus.
Ich mache das Fenster zu und gehe mit dem Hund durch den Wald den Berg hinauf durch das helle, leuchtende Grün und diese wehende Frische, die nur der frühe Morgen im Sommer hier manchmal bringt, wenn es nicht regnet oder zu kalt ist. Nach dieser Frische habe ich mich nach ein paar Wochen in Ouaga oder Timbuktu immer wieder gesehnt.
Ich denke daran, dass ich gleich Paul anrufen werde, um zu hören, wie es mit meinem Besuch heute ausschaut. Ich möchte ihn sehen, wo er so dankbar angekommen ist. Davon erzählt hat, dass er Blumenwiesen sieht und verwöhnt wird: Jeden Morgen wird er gefragt, ob er sein Ei weich oder hart, als Spiegel- oder Rührei haben möchte. Ein Traum für einen, der seine Krankenhaus-Odyssee hinter sich hat. Er sagt auch noch, dass es keinen Kaminabend, seine langjährige Tradition mit Freunden, mehr geben wird. Und dass unsere Freundschaft etwas Besonderes war.
Dann sehe ich zwei Anrufe auf dem Handy und höre seine Stimme brüchig und schwach auf dem Anrufbeantworter. Mein Besuch sei heute nicht möglich, es gehe ihm schlecht.
Ich antworte mit einer SMS. Werde auf einen Ruf warten, wenn er die Kraft dazu hat. Auch wenn ich weiß, dass ich nicht zum engsten Kreis gehöre, möchte ich ihn noch einmal sehen, spüren, hören. Und wenn es ein Abschied ist, erst recht.

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Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de