Freitag, 3.4.

Die Sonne geht auf, die Stimmung ist nervös. Vögel zwitschern hektisch, die schwarzen Flecken vor meinem rechten Auge tänzeln hin und her. Glaskörperschrumpfung, so die Diagnose in der Augenklinik. Damit werde ich wohl leben müssen. Viele schreiben in diesen Zeiten Tagebuch, auch der italienische Schriftsteller Paolo Giordano. „In Zeiten der Ansteckung“ erscheint heute als e-book, auf den Punkt. Notizen aus der Corona-Hölle Italien. Ich stelle mir vor: leere Plätze, Balkone mit geschlossenen Türen, ein alter humpelnder Mann mit Supermarkt-Plastiktüte. Ich stelle mir weiter vor, wie sich Giordano in der Quarantäne morgens einen Espresso macht, in einem kleinen Edelstahlkocher auf der Herdplatte. Ob er ein Croissant mit Aprikosenfüllung dazu isst?

Seit fast zwei Wochen leben wir jetzt im Ausnahmezustand. Der Blick auf die Welt ist ein anderer geworden, auch der Blick auf uns selbst. Wir trotzen der Krise einen Sinn ab, Tag für Tag. Nichts ist mehr selbstverständlich.
Für Albert Camus war Sisyphos der glücklichste Mensch der Welt, ja der, der den ganzen Tag einen schweren Stein den Berg hinaufrollte, der immer wieder herunterkam. Das Leben ist absurd, sagte Camus und starb bei einem Autounfall. Auch Jean-Paul Sartre stellte die Sinnfrage und erfand den Existenzialismus: Wir existieren, einfach so, ohne tieferen Sinn, zur Freiheit verdammt. In einem Glückskeks finde ich den Spruch: „Mach das Beste draus!“ Mutmacher oder Zynismus?

Am Telefon fragen wir einander, ob wir schlecht geschlafen haben und was wir abends kochen. Manchmal tigern wir unruhig durch die Wohnung und fühlen uns wie Rilkes Panther: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / so müd geworden, dass er nichts mehr hält. / Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt“. Unsere Stäbe sind virtuell. Unsichtbare Verbote. Das Leben in Abgeschiedenheit zerrt an unseren Nerven. Unsere Identität wird durchgerüttelt. Wer jetzt in seiner Mitte bleibt, ist ein Kriegsgewinnler.

Noch nie war mein Kühlschrank so gefüllt. Auch ich ertappe mich bei Hamsterkäufen: Süßkartoffeln, Trockenobst, Dinkelkekse. Bio-Kichererbseneintopf in der Dose. Spültücher, Klopapier. Käse horte ich regelrecht. Kaffee, viel Kaffee. Kapseln für die Nespresso-Maschine, politisch nicht korrekt, egal. Sogar einen Vorrat an Nescafé Gold habe ich mir zugelegt. Schrobenhauser Spargel kostet 12 Euro das Kilo. An Ostern, so die Rewe-App, werden Erdbeeren Mangelware sein.

Das „Gewicht der Welt“ (Handke) wird schwerer. 7000 Menschen sind in den USA bereits an COVID-19 gestorben. Andererseits: Für den Stichtag 2.4.2020 vermeldet das Robert-Koch-Institut 21.400 genesene Corona-Fälle für Deutschland.

Ostern verbringen wir auf Balkonien oder im Garten, so wir einen haben, und gehen uns dabei gehörig auf die Nerven. Die häusliche Gewalt nimmt zu. Auch die Österreicher (ab Montag herrscht dort Maskenpflicht im Supermarkt) kommen immer schlechter mit den Einschränkungen zurecht.

Die Welt hat Angst. Angst ist ein Bauchgefühl. Ein großes Zittern geht durch den Körper. Jede Nacht eine Panikattacke. Der Schriftsteller Frank Witzel beschreibt fast prophetisch diesen Zustand: „Was bedeutet es eigentlich, nichts mit sich anzufangen zu wissen? Wahrscheinlich einfach, nicht mit seinem Körper allein sein zu können. Stattdessen lenkt man sich ab, allein oder mit anderen, wie es früher im Beichtspiegel hieß. Von was lenke ich mich ab? Von dem Gefühl der Panik, das in verschiedenen Abstufungen entsteht, wenn ich nichts mache, weil mir dann unwillkürlich  mein Körper bewusst wird. Das Bewusstwerden meines Körpers scheint wiederum beinahe automatisch dazu zu führen, dass ich mich auf irgendeine Weise um ihn sorge.“ (Frank Witzel, „Uneigentliche Verzweiflung – Metaphyisches Tagebuch“, Matthes & Seitz)

Sich um seinen Körper sorgen – das ist Hypochondrie. Ausgesetzt auf den Bergen der Pandemie, sind uns jetzt viele Formen der Ablenkung versperrt. Also sorgen wir uns: um unseren Körper, unsere Seele, unsere Existenz, unsere Lieben. Zuviel Sorge kann einen zum Wahnsinn treiben. „Sorge dich nicht, lebe!“ hieß 1998 ein Bestseller. Der amerikanische Kommunikationstrainer Dale Carnegie beschrieb darin, wie man zu einem von Ängsten befreiten Leben kommt. „Sorge dich nicht, lebe!“ Fast möchte man es in diesen Tagen Angela Merkel zurufen, wenn sie in Corona-Trance in die Kamera spricht. Die ganze Welt geht vor einem winzigen Virus in die Knie. Wer sich zuviel sorgt, reagiert nicht besonnen, sondern neigt zur Überreaktion, ja zur Hysterie. Und die wäre im Moment fatal.

Wir werden in unseren Wohnzimmern mit Corona-Zahlen bombardiert. Wir sind ihnen hörig, sie vernebeln unseren gesunden Menschenverstand. Wie soll ich es einordnen, wenn es in den USA 200.000 Infizierte gibt? Wieviele Einwohner hat das Land? 328 Millionen? Wieviele wurden überhaupt getestet? Und wieviel hat das marode Gesundheitssystem zur Sterbequote beigetragen?
In amerikanischen Serien ist immer gut zu sehen, wie es in den Krankenhäusern zugeht. Die Patientenbetten stehen auf den Fluren, die Wartezimmer sind übervoll, die Ärzte gestresst. Vertraute Szenen aus „Emergency Room“ mit George Clooney.

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020