Montag, 30.3.

Ich fühle mich in die 70er Jahre zurückgebeamt. Die Sehnsucht ist nach hinten gerichtet. Santana liefert den Soundtrack zur Nostalgie. Zum Frühstück esse ich wieder Müsli mit Banane und nicht ein schnelles Croissant. Ich lese Ernst Bloch und Gedichte von Paul Celan. Die Todesfuge schwebt über dem Erdball.
Schnee Ende März: So sanft war die Stadt noch nie. 6:20 Uhr, weich gleitet das Leben dahin. Im Radio Gloria Gaynors „I will survive“, die Hymne der Verlassenen. In der Wohnung im Haus gegenüber gehen die Lichter an. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen. Die Silhouette eines Mannes erscheint im Fenster. Kocht er Kaffee? Trägt er noch einen Pyjama? Ist er noch schlaftrunken oder schon bereit für einen neuen Tag im Homeoffice?
Seine Frau/ Freundin hat früher regelmässig Morgengymnastik gemacht. Ich habe sie gern dabei beobachtet, wie sie sich dehnte und die Knie hob und senkte. Seit einer Weile habe ich sie nicht mehr gesehen. Oder wohnt da längst ein anderes Paar?

Der Marktforscher Dirk Siems hat 5 Phasen der Pandemie ausgemacht, die in der ganzen Welt gleich ablaufen:
Inkubation: Die Gefahr wird heruntergespielt, geleugnet; man geht noch zu Faschingsveranstaltungen und Fußballspielen
Panik: Hamsterkäufe; hektische Massnahmen gegen die Pandemie werden ergriffen; Bilder von leeren Plätzen und überfüllten Kliniken.
Isolation & Depression: Leben in der Quarantäne; in Italien werden Leichen von Militärlastern abtransportiert.
Neubesinnung & Reflektion: fängt schon in der Isolation an; die Frage nach dem Sinn des Lebens wird gestellt; langsam wieder Menschen auf den Straßen.
„Normalzustand“: wie er aussehen wird, weiß keiner zu sagen.

YouTube boomt: Jede Minute werden 400 Stunden Inhalt hochgeladen! Ein Video über eine Sterbestatistik in der EU wurde zensiert.

Jetzt ist die Stunde der Poesie. Der sozialen Kälte können wir nur Poesie entgegensetzen. Bunkerlyrik, Corona-poetry. Poesie trotzt Pandemie. Die Sprache wird sich ändern durch die Isolation. Sie wird radikaler werden. Die Armee der Schlaflosen wächst.
„Insomnia / I swallow the darkness / and vomit“ – punk poetry gegen die offiziellen Verlautbarungen der Bürokratie. Letzte verstärkt die Panik und den Abstand zwischen den Menschen. Poesie hebt Grenzen auf. Sie ist ein Nachtschattengewächs, denn die Nacht hat eine innige Energie.

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020