Mittwoch, 25.3.

Quarantäne macht dick: Ich habe schon 3 Kilo zugenommen und fühle mich unwohl in meinem Körper. Frustessen, wenig Auslauf – eine tödliche Melange. Ich brauche mein tägliches Stück Kuchen als Seelenfutter. Das Essen strukturiert meinen Tag.

„Heute bin ich aufgewacht und fühlte sofort Langeweile.“ So beginnt die SMS einer Freundin. W. schreibt jetzt Dada-Gedichte gegen Corona. Langeweile kann auch kreativ machen. Im Großen und Ganzen geht es mir erstaunlich gut; aber es schwingt immer ein leises Gefühl der Leere mit, ein Unterton von Verzweiflung. „Uneigentliche Verzweiflung“ nennt der Schriftsteller Frank Witzel diesen Zustand, in dem es einem eigentlich an nichts fehlt. Eigentlich. Er leidet wie ich unter Panikattacken, die ihn irritieren und aus der Bahn werfen. Als würde man herausgerissen aus dem Gleichmut, in dem man sich eingerichtet hat.

Gerade singt Peter Maffay im Fernsehen „Über sieben Brücken musst du geh´n“. Es klingt wie der Soundtrack zur Pandemie. „Siebenmal musst du die Asche sein…“. Maffay steht nicht allein auf der Bühne. Mit ihm spielen Johannes Oerding, Katie Melua, Jennifer Rostock. MTV unplugged, August 2017, Halle.

Im vergangenen Jahr war ich zum ersten Mal auf der Leipziger Buchmesse. Das war im März 2019, und die Welt war eine andere. Als hätten wir durch Corona unsere Unschuld verloren. Das Grauen der Seuchen hat den Westen erreicht. Ebola war woanders, weit weg, Corona ist hier und jetzt.
Jetzt heißt es, von einem Tag auf den anderen zu leben, Pläne sind hinfällig. Dieser Zustand ist nicht neu für mich: Ich habe einen Patchwork-Lebenslauf, erfinde mich jeden Tag neu. Flexibel sein, improvisieren, alte Reaktionsmuster aufgeben – man ist sich seines Lebens nicht mehr sicher in Zeiten von Corona. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, sagte Theodor W. Adorno. Der Kapitalismus bröckelt, das Kartenhaus aus grenzenlosem Wachstum und Gier fällt in sich zusammen. Wir sind ausgebremst.

New York im Ausnahmezustand. Trump nennt das Virus „a foreign virus“. Wie sich wohl Hypochonder Woody Allen in dieser bedrohlichen Situation fühlt? Er ist 84 Jahre alt, gehört zur Risikogruppe und kann so schön schräg schauen unter seinem Anglerhütchen… In Kalifornien wurden jetzt erstmals Strände geschlossen. Die Beachboys surften die ganze Zeit munter weiter, als wäre nichts geschehen. Nach China gibt es in den USA die meisten Infizierten. In Israel wird die Handy-Ortung vom Geheimdienst durchgeführt.

Vor dem Einschlafen schwirren Traumata durch meinen Kopf. Therapie hilft nur bedingt. Meine letzte Verhaltenstherapeutin, eine sehr junge Frau, weigerte sich, mit mir über meine Alpträume zu reden; sie fokussierte sich auf mein Nähe-Distanz-Problem. Mein alter Psychoanalytiker, zu dem ich jede Woche gehe, erzählt mir von seinen Kunstreisen in die Schweiz (Achtung, Risikogebiet!). Oder er hat Mühe, seine Augen offenzuhalten. Sind meine intimen Bekenntnisse so uninteressant? Therapie bizarr: In der letzten Stunde erzählte er mir begeistert von den Schokolade-Osterhasen, die bei Karstadt um 50 Prozent billiger angeboten werden. Ich fühlte mich nicht ernstgenommen und verletzt.

Graffito an einer Hauswand im Münchner Schlachthofviertel: „Das schlimmste Virus ist die Angst!“

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020