Andere Lehre, andere Germanistik, Teamwork und Konflikt

Textsammlung zur Freiburger Neugermanistik 1968‒1993

Von Hans Peter HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans Peter Herrmann

 

Die 68er-Geschichte der Neuen Abteilung des Deutschen Seminars der Universität Freiburg ist eine besondere. Die Situation des Lehrkörpers unterschied sich von der an den meisten anderen Germanistikinstituten, wo eine konservative Seminarleitung einer kleinen Gruppe veränderungswilliger linker Assistenten und Räte gegenüberstand. In Freiburg war die Professorenschaft der Neugermanistik hochschulpolitisch gespalten in einen offensiv konservativen und einen reformwilligen liberalen Ordinarius zuzüglich zwei lavierenden Ordinarien; dazu gab es einen linksliberalen Dozenten und im Mittelbau eine starke Gruppe von zum Teil etwas älteren Akademischen Räten auf festen Beamtenstellen, also ohne karrierebestimmende Abhängigkeit vom Ordinarius.

So blieben die Linken in der Freiburger Neugermanistik keine bestenfalls störenden Randexistenzen in einem ansonsten wie bisher weiterlaufenden Institutsbetrieb, was an vielen bundesrepublikanischen Universitäten der Fall war. Auch haben sie die Germanistik nicht einfach übernommen, wie an der FU Berlin oder in Frankfurt und Marburg. Vielmehr konnten sie in Kooperation mit engagierten Studierenden und durch den Druck der Studentenrevolte eine eigene Gruppe im Lehrkörper des Instituts bilden und seit 1971 zudem einen eigenen linken Studiengang aufbauen, die „Koordinierten Lehrveranstaltungen (KLz)“, die bis ins Wintersemester 1977/78 Bestand hatten und bis 1993 am Institut fortwirkten – ein, soweit erkennbar, einmaliger Vorgang in der 1968er-Germanistik.

Um die Geschichte der Neuen Abteilung so weit wie möglich zu dokumentieren und der hochschulhistorischen Forschung zugänglich zu machen, suchte ich in den Jahren 2014‒2016 einen Teil der an den KLv beteiligten Lehrenden, die noch greifbare Materialien von damals besaßen, zusammen und übergab das vorfindliche Material in Absprache mit dem Freiburger Universitätsarchiv dem Archiv Soziale Bewegungen Freiburg (ASB)[1]. Zur Einführung und zum besseren Verständnis dieser umfangreichen Quellensammlung hatten wir damals einige berichtende und reflektierende Texte über unser Experiment und die es tragende Lehrendengruppe geschrieben. Sie liegen wie das gesamte Material im ASB und sollen hier für einen ersten Einblick in diesen Teil der 68er-Geschichte am Freiburger Institut einer breiteren Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Hans Peter Herrmann, Oktober 2019

 

Dokumente aus dem Archiv für Soziale Bewegungen Freiburg

Inhalt

1. Die „Koordinierten Lehrveranstaltungen (KLv)“

2. Stichworte zu den KLv

3. Der Textbestand zu den KLv im Archiv Soziale Bewegungen Freiburg

4. Zur Geschichte von „Rosa“

5. Hans Peter Herrmann: Mein Interesse am Experiment der „Koordinierten Lehrveranstaltungen“

6. Literatur zur 1968er-Geschichte der Neuen Abteilung des Deutschen Seminars Freiburg

 

1. Die „Koordinierten Lehrveranstaltungen (KLv)“

Einführungstext über die KLv in der Materialiensammlung im Archiv für Soziale Bewegungen Freiburg

Zu den „Sozialen Bewegungen“, deren Materialien das Archiv sammelt, gehörten von Anfang an auch die „Studentenbewegung“ und die sie vorbereitenden und ihnen folgenden Ereignisse an der Freiburger Universität; nicht umsonst haben wir auch die renommierte Freiburger Studentenzeitung (1951‒1972) mit Unterstützung des Freiburger Rektorats vor dem Papierzerfall gerettet und öffentlich zugänglich gemacht (die DVD kann immer noch bei uns erworben werden!).

Jetzt konnten wir unseren Bestand an Zeitzeugnissen aus den 1970er- und 1980er-Jahren durch ein Konvolut über die „Koordinierten Lehrveranstaltungen (KLv)“ erweitern, ein Reformprojekt in der Neuen Abteilung des Freiburger Deutschen Seminars.

Eine Gruppe von SDS-Studierenden hatte dort 1971 mit Assistenten, Akademischen Räten und Dozenten einen eigenen linken Studiengang durchgesetzt, der anfangs auf der Selbstbestimmung der Studierenden in Planung und Durchführung der Lehrveranstaltungen beruhte, dann ihre weitgehende Mitbestimmung praktizierte und inhaltlich eine Lehre betrieb, die auf die Ausarbeitung einer sozialgeschichtlichen, marxistischen und psychoanalytischen Literaturwissenschaft gerichtet war. Bis 1978 stellten die KLv eine offizielle Institution am Deutschen Seminar dar, noch bis 1993 bestimmten ihre Prinzipien die inhaltliche und hochschuldidaktische Praxis der sie tragenden Hochschullehrergruppe und der daran interessierten Studierenden. Sie waren damit ein BRD-weit einmaliges Hochschulreformprojekt. Was sich von ihm und seinem Umfeld sammeln ließ, ist jetzt in aufgearbeiteter und zum Teil kommentierter Form im ASB zugänglich. Weitere Materialien zur Geschichte des Deutschen Seminars in dieser Epoche befinden sich im Universitätsarchiv Freiburg.

2. Stichworte zu den KLv

Arbeitsblatt zum Alt-Rosa-Treffen am 6. November 2015 in Freiburg, das der Verständigung über die Präsentation der Materialien diente

„68“ allgemein

Überlegungen, Pläne und Experimente zur Reform der Institution, der Fächer, der Lehre:

     Institutionenreform: „Demokratisierung“: „Mitbestimmung“ ‒ das heißt: Einbeziehung von Nichtordinarien, sonstigem wissenschaftlichen Personal („Mittelbau“), nichtwissenschaftlichen Bediensteten und Studierenden in die Entscheidungsprozesse der Universität

     Fächerreform: „Modernisierung“ ‒ Ausrichten der Gegenstände auf die kulturelle Situation der Gegenwart, Erweiterung des methodischen Kanons und Selbstreflexion des jeweiligen methodischen Ansatzes

     Unterrichtsreform: Ausrichten der „Lehre“ an den Interessen, Fähigkeiten, Motivationen der realen Studierenden und ihrem tatsächlichen Bildungsstand; Einbeziehung der künftigen Berufspraxis der Studierenden in den akademischen Unterricht; Entwicklung neuer didaktischer Methoden zur Bewältigung der Studierendenmassen in den großen Fächern

„68“ in der Germanistik

     Das Studienfach Germanistik war als größtes Massenfach (Lehrerausbildung) und wegen seines traditionell hohen gesellschaftlichen Ansehens (Weltanschauungsfach, nationale Ausrichtung des Bildungsbürgertums) an vielen Universitäten ein Brennpunkt der Auseinandersetzung und der Reformversuche (neben Politik, Soziologie und Geschichte)

     Die Neugermanistik war nach 1945 als Fach mit ausdrücklich unpolitischen inhaltlichen und methodischen Traditionen restauriert worden (Kanonbindung an Klassik und 19. Jahrhundert, stiefmütterliche Behandlung von Aufklärung und Moderne; Vorherrschaft von Geistesgeschichte und der nach 1945 bevorzugten „Werkimmanenz“) ‒ liberale und linke Traditionen des Faches waren verdrängt worden

     Die Germanistik war zugleich ein Fach mit besonderer Affinität zum deutschen Nationalismus des 19. Jahrhundert und zum Nationalsozialismus (Beteiligung von Germanistikprofessoren an der „Bücherverbrennung“)

     Andererseits waren gerade in der Germanistik bereits vor 1968 durch junge Professoren der „Flakhelfergeneration“ Reformen angelaufen ‒ das Fach war bereits im Umbruch, der nach 1968 verstärkt fortgesetzt wurde

     Haupttendenzen: Einbeziehung von Sozialgeschichte und Psychoanalyse, Ausdehnung des Forschungs- und Lehrinteresses auf die Literatur der Aufklärung, der Moderne, der Weimarer Republik, auf Gebrauchsliteratur; methodisch: Marxistische und psychoanalytische Literaturwissenschaft, Rezeptionsästhetik

„68“ und die Freiburger Germanistik

Besondere Situation gegenüber den Germanistikinstituten an anderen BRD-Universitäten:

     Ein umfangreicher Lehrkörper, in dem praktisch alle literaturwissenschaftlichen Methoden und hochschulpolitischen Positionen vertreten waren bis in die Professorenebene hinein, sodass keine Position die andere dominieren konnte

     Im Mittelbau eine Gruppe gestandener, aus der Schule an die Universität gewechselter Akademischer Räte, fachlich kompetent und didaktisch und pädagogisch interessiert, die sich hochschulpolitisch zwischen den Extremen situierten

     Traditionell sehr aktive, begabte und motivierte Studierende aus dem Bildungsbürgertum Nordrhein-Westfalens und Norddeutschland

     „Undogmatischer Marxismus“, keine „Machtübernahmen“ durch DKP und K-Gruppen

     Ein eigener reformorientierter Studiengang („KLv“) innerhalb des Faches (einzigartig in der BRD-Germanistik nach 1968)

„Koordinierte Lehrveranstaltungen“

     Mit einer eigenen Organisation innerhalb des Lehrkörpers vom Assistenten über Mittelbauer bis zum Professor, unter anfangs intensiver inhaltlicher, später mehr oder weniger organisatorischer Einbeziehung der Studierenden

     Mit einem eigenen Ankündigungsblock innerhalb des Vorlesungsverzeichnisses und des Germanistischen Veranstaltungskommentars

     Mit einem durchgehenden Studiengang vom Einführungskurs bis zum Hauptseminar und den Abschlussprüfungen

Inhaltliche und methodische Erweiterungen des Faches:

     Einbeziehung von Trivialliteratur und Journalistik in Forschung und Unterricht

     Einbeziehung der politischen und vor allem der Sozialgeschichte in die Literaturinterpretation

     Erarbeitung einer umfangreichen, von Dozenten und Studierenden gemeinsam erarbeiteten sozialgeschichtlichen Darstellung „Deutschland im 18. Jahrhundert“ als Grundlage des eigenen Literaturunterrichts

     Einbeziehung von Psychoanalyse und Marxismus in die methodische Auseinandersetzung

     In Freiburg Begründung einer Psychoanalytischen Deutschen Literaturwissenschaft

Didaktische Innovationen und Experimente:

     „Schwerpunktstudium“: Mehrere Semester ein Themenschwerpunkt mit gesellschaftshistorischen Grundkursen und zugeordneten literaturhistorischen Mittel- und Hauptseminaren

     Einbeziehung von Studierenden in Planung (!) und Durchführung des Vorlesungs- und Seminarprogramms

     Einführung von und Experimentieren mit Gruppenunterricht: Die Studierenden dort abholen, wo sie sind; selbstbestimmtes Lernen gegen den Druck der Institution und die Autorität des Lehrenden anregen und fördern; Studierenden eine Form zur Verfügung zu stellen, die sie anregt, in gemeinsamer Sacharbeit ihre individuelle Lernsituation aufzusprengen und zu ergänzen

     Gemeinsame Veröffentlichungen mit Studierenden

     Beantragung und Durchführung eines von der VW-Stiftung bezahlten vierjährigen hochschuldidaktischen Versuchsprojektes zur Verbesserung der Deutschlehrerausbildung durch eine organisatorische Vernetzung von Universitätsunterricht mit der Praxis von Deutschlehrern in der gymnasialen Oberstufe

     Buchveröffentlichung (Franz Kafka, Die Verwandlung) als Ergebnisbericht

     Dauer der KLv als Organisation WS 1972/73 ‒ WS 1977/78

     Dauer des „Schwerpunktstudiums“ bis 1993

3. Der Textbestand zu den KLv im Archiv Soziale Bewegungen Freiburg[2]

Programmatische Texte

„Vorspann“ im Vorlesungskommentar

„KLv-Schriften“ 1‒?

Papiere zu Gruppenunterricht

Historische Darstellung zur Literatursoziologie des 18. Jahrhunderts etc.

Die Vorlesungskommentare des Deutschen Seminars

Flugblätter

Zudem: Große Flugblattmengen und programmatische Schriften des Freiburger SDS und anderer studentischer Gruppen an anderen Orten im ASB

H. P. Herrmann, Freiburg 2015

 

4. Zur Geschichte von „Rosa“

 „Rosa“ war die interne Selbstbezeichnung einer informellen Gruppe von Lehrenden, die sich 1968 in Reaktion auf die „Studentenbewegung“ am Institut für Neuere deutsche Literaturgeschichte der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. gebildet hatte. Die Gruppe betrieb in zum Teil wechselnder Besetzung seit 1971 ein reformorientiertes linkes germanistisches Lehrprogramm innerhalb der Neuen Abteilung des Instituts, die „Koordinierten Lehrveranstaltungen“, bis 1978 ein durchgehender eigener Studiengang, danach bis 1993 ein erkennbares Ensemble aufeinander bezogener Lehrveranstaltungen.

Die Gruppe und ihre Praxis stellten innerhalb der damaligen „linken“ und universitätsreformorientierten Experimente in der bundesrepublikanischen Neugermanistik ein Unikum dar: Weder wurde das Institut in Freiburg ein kurzfristig existierendes marxistisches Institut wie in Berlin oder Marburg, noch blieb es hier bei einzelnen Lehrveranstaltungen linker Mittelbauer oder junger Habilitierter wie an vielen anderen Deutschen Seminaren, vielmehr existierte in Freiburg a) eine relativ konstante Gruppe aus Assistenten, Akademischen Räten und Dozenten innerhalb des Instituts und b) ein als eigenständig durchgesetztes Lehrprogramm, „die Koordinierten Lehrveranstaltungen (KLv)“, mit einem ungewöhnlich langen institutionellen Leben, bis 1978, und einer weiter laufenden informellen, aber immer noch erkennbaren Existenz bis 1993. Aus diesem Grund schien es sinnvoll, die derzeit noch vorhandenen Materialien dieser vergangenen Arbeit zu sammeln und dem Archiv Soziale Bewegungen Freiburg für eventuelle spätere universitätshistorische Forschungen zu überlassen. Dies umso mehr, als das Universitätsarchiv Freiburg zu „68“ exemplarisch Materialien des Juristischen und des Deutschen Seminar sammelt.

Die hier folgende kurze Darstellung soll den unterschiedlichen Dokumenten im Archiv einen zeitlichen Ablaufrahmen mit einigen, die jeweiligen Zusammenhänge beschreibenden Sacherklärungen geben, soweit sie sich aus vorhandenen Unterlagen und Erinnerungen rekonstruieren ließen. Ich habe versucht, nur über die wichtigsten Fakten und Hintergründe zu berichten; selbstverständlich fließen dabei auch eigene Wertungen mit ein.

Explizite, veröffentlichte Darstellungen zu Rosa und der KLv gibt es von verschiedenen Mitgliedern der Gruppe und des damaligen Lehrkörpers; siehe gesondertes Verzeichnis.

Eine Vorstufe dieser Darstellung wurde auf einem Treffen ehemaliger Rosa-Mitglieder im November 2015 besprochen und danach noch einmal ergänzt; bei dem Treffen von Hans Peter Herrmann, Peter Jehn, Hanno König, Rainer Noltenius, Carl Pietzcker, Rüdiger Scholz und Peter Wirth wurde intensiv, teilweise kontrovers und weitgehend nostalgiefrei über unsere damalige Arbeit gesprochen; zu einer längeren kritischen Auseinandersetzung mit dem, was wir gewollt, was wir getan, was wir erreicht und was nicht erreicht haben, kam es dabei nicht.

Freiburg, Februar 2016, Hans Peter Herrmann

Zum Entstehungszuammenhang: Das Jahr 1968

Februar 1.2.‒3.6. „Fahrpreisdemonstrationen“ in Freiburg.

Februar 2. „Hochschulrunde“ reformorientierter Professoren, Dozenten und Assistenten der Albert-Ludwigs-Universität.

März Verabschiedung des Hochschulgesetzes BW.

März 3. Beginn des „Prager Frühlings“: Staatspräsident Novotny tritt zurück.

April 4. Kaufhausbrand in Frankfurt am Main; Baader und Meinhof verhaftet.

April 11. Rudi Dutschke auf dem Kurfürstendamm niedergeschossen; „Springer-Blockaden“.

Mai 3.‒30. „Pariser Mai“.

Mai 5. Der Freiburger AStA entscheidet sich für die Teilnahme an der Grundordnungsversammlung der Universität.

Mai 15.‒30. Notstandsdemonstrationen in der BRD.

Juni 6. SDS-Kongress in Frankfurt am Main (Habermas: „linker Faschismus“).

Juli 15. Beginn der Grundordnungsversammlung an der Freiburger Universität (bis März 1969)

September 12.‒16. Frankfurter SDS-Kongress; Helge Sanders und der Tomatenwurf der Frauen gegen Hans-Jürgen Krahl.

Herbst: Umzug des Deutschen Seminars ins KG III; mit Stellwänden für „Teamarbeit“ im 2. OG; hier findet im WS das erste Seminar mit selbstverantwortlichen studentischen Arbeitsgruppen statt (Herrmann, Hauptseminar über „Cottas Morgenblatt“).

Okober 7‒14. Germanistentag in Berlin.

Okober 23. Ausschreibung des Tutorenprogramms der VW-Stiftung am Deutschen Seminar.

Okober Teach-in der studentischen Fachschaft „Germanistik“ zu „Germanistik und Schule“ (u. a. Reinhold Schlicksbier, Winfried Nagel, Susan Gillespie). Heftige Konflikte innerhalb des Lehrkörpers des Deutschen Seminars, vor allem in der Neuen Abteilung über Fragen der Mitbestimmung des „Mittelbaus“ und der Studierenden bei der zu erwartenden Neuordnung des Instituts. „Teach-ins“ mit Lehrkörpermitgliedern und Studierenden.

Die Anfänge von „Rosa“

An einem nicht mehr zu eruierenden Termin in diesem turbulenten und konfliktreichen Jahr 1968 trafen sich einige Lehrende der Neuen Abteilung des Deutschen Seminars, vier Mittelbauer und ein Dozent, um ihren als Defizit empfundenen Rückstand an Wissen und Politikverständnis gegenüber „den Studenten“ aufzuholen. Sie alle waren seit längerem mit Studierenden im Gespräch, arbeiteten zum Teil bereits in ihren Seminaren intensiv mit ihnen zusammen und suchten nach eigenen Positionen ‒ als Lehrende gegenüber den Studierenden, als Mitglieder des Lehrkörpers gegenüber den konservativen Kollegen, als Germanisten auf dem Weg zu einer gesellschaftsbezogeneren Literaturwissenschaft, als Universitätsangehörige im Streit um eine demokratische Hochschulreform, als Bürger mit dem entschiedenen Willen zu einer demokratischeren und gerechteren Gesellschaft.

Am Anfang waren es Hans Peter Herrmann, Hanno König, Carl Pietzcker, Peter Wirth und Wolf Wucherpfennig, später kamen Manfred Karnick (bis 1974), Rüdiger Scholz (ab SS 1971), Jochen Dyck, Peter Jehn (April 1971 bis Ende 1974), und Rainer Noltenius (1969 bis 1977) hinzu, gelegentlich wurden auch andere Kollegen eingeladen, blieben aber nicht. Der Name „Rosa“ war eine spontane Erfindung von Jochen Dyck, die gefiel.

Man traf sich in der Regel wöchentlich reihum in den jeweiligen privaten Wohnungen (was u. a. zu Auseinandersetzungen darüber führte, warum die Frauen nicht dabei waren/sein sollten). Vorstöße einzelner Gruppenmitglieder, Studierende zu den Rosa-Sitzungen einzuladen, fanden keine Mehrheit. Protokolle von diesen frühen Treffen sind nicht überliefert, wurden wohl auch nicht geschrieben; 1973 war auf Vorschlag von Hanno König für kurze Zeit ein umlaufendes Protokollbuch (in den Archivmaterialien) im Gebrauch. Vieles konnte nicht mehr eruiert worden, doch ließ sich bei dem gemeinsamen Erinnerungsversuch am 6.9.2015 einiges rekonstruieren, das in den vorliegenden Überblick eingegangen ist.

„Rosa“ begann mit einer gemeinsamen „aufholenden“ Lektüre und Diskussion von gesellschaftswissenschaftlicher Literatur, wobei Jürgen Habermas’ Erkenntnis und Interesse (als allererster der besprochenen Texte) und dessen Thesen zur Theorie der Sozialisation, später Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein als von besonders nachhaltiger Wirkung geschildert wurden.

Es folgte über lange Zeit eine gemeinsame Lektüre von Karl Marx, Das Kapital I, später: Das Kapital III; dazu u. a. Juli 1971: Backhaus, Dialektik der Wertform, später weitere gesellschaftsanalytische und bald auch pädagogisch-didaktische Schriften (u. a. Paolo Freire: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek 1970).

Neben der „theoretischen“ Arbeit wurden die aktuellen lokalen, deutschlandweiten und internationalen politischen Ereignisse besprochen, Stellungnahmen zu den heftigen Konflikten am Institut und in den Gremien der Universität erarbeitet (in der Neuen Abteilung war die langwierige institutionelle Neuordnung des Instituts besonders umstritten und führte zu tiefgreifenden Zerwürfnissen), Kontakte zur GEW aufgenommen, ausgebaut und später enttäuscht wieder zurückgefahren. Die Mitglieder traten in die GEW ein, halfen bei der Gründung einer GEW-Studierendengruppe und arbeiteten in der GEW eine Zeit lang intensiv mit, u. a. in einem Deutschlehrerkreis mit GymnasiallehrerInnen, die an den Themen und Methoden der neuen Germanistik interessiert waren. Kontakte zum „Bund demokratischer Wissenschaftler“. König engagierte sich stark in der Bundesassistentenkonferenz, Scholz war als Mittelbauvertreter 1972/73 in der Phil.Fak. III und im Gemeinsamen Ausschuss, auch König und Pietzcker waren als Mittelbauvertreter in verschiedenen Universitätsgremien bis zum Großen Senat. Pietzcker war Sprecher des Konvents des akademischen Mittelbaus der Universität und als solcher Delegierter in der Bundesassistentenkonferenz.

Zwei jeweils eine Zeit laufende eigene Gesprächsthemen der Gruppe, die von allen als besonders wichtig und auch als geglückt angesehen wurden, waren Berichte fast aller Mitglieder über ihre bisherige Biographie, soweit sie ihnen mitteilenswert erschien, in jeweils einer eigenen Sitzung, und die anlassweise Besprechung von eigenen Arbeiten, Dissertations- und Habilitationsentwürfen. Bei allen Spannungen, Divergenzen, Positionskämpfen und (oft verdeckten) heftigen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppenmitgliedern gab es keine offenen oder verdeckten Konkurrenzverhältnisse im Hinblick auf Karriere, wissenschaftliches Ansehen oder Verhältnis zu den Studierenden.

Gemeinsame Einstellung der Gruppenmitglieder war u. a. ein intensives, bewusstes Interesse am akademischen Unterricht als zentraler Aufgabe eines Hochschullehrers. Dies und der Druck der StudentInnen zu grundlegenden Änderungen ihrer Studiensituation führte zu den gemeinsamen Aktivitäten der Gruppe, die „Lehre“ umzugestalten, den Unterricht auf die Situation der Studierenden und auf ihren künftigen Beruf auszurichten, Experimente mit unterschiedlichen Formen von Gruppenunterricht zu unternehmen und die Lehrveranstaltungen zur Entwicklung einer methodologisch reflektierten, gesellschaftskritischen, marxistischen und psychoanalytischen Literaturwissenschaft nach Inhalt, Methode und Didaktik aufeinander abzustimmen: die „Koordinierten Lehrveranstaltungen (KLv)“.

Das hat zu immer neuen Konflikten geführt. Als Einzelperson und hinter verschlossenen Seminartüren hätte jeder von uns mit neuen Formen der Lehre experimentieren können. Aber wir wollten „Öffentlichkeit” und „Transparenz“. Unsere kleine Gruppe verstand sich als Teil einer größeren Bewegung zur Reform der Universitäten, – wir agierten nicht als Einzelne, sondern im „Kollektiv“ und in Zusammenarbeit mit den Studierenden. Die Folge war: entschiedener Widerstand von den konservativen Mitglieder des Lehrkörpers am Institut und in der Fakultät. Was wir erreicht haben, konnten wir nur deshalb durchsetzen, weil wir als Gruppe handelten, weil wir gegebenenfalls von einem namhaften Teil der Studierenden am Institut unterstützt wurden – auch in eigens angesetzten öffentlichen Diskussionen –, weil ein Teil des Mittelbaus durchaus interessiert war an dem, was wir da unternahmen, – und weil wir immer wieder die Unterstützung von Wolfram Mauser gegen den harten Widerstand Gerhard Kaisers erhielten. Nur dadurch gelang es auch, die „Klv“ als eigenen Studiengang mit einer eigenen „hochschulpolitischen“ Grundsatzerklärung im offiziellen Veranstaltungskommentar des Instituts zu platzieren.

Konflikte gab es, weil wir gemeinsam mit Studierenden Seminare vorbereiteten und durchführten und Themen oder AutorInnen behandelte, die die Studierenden vorgeschlagen hatten („Ein Seminarleiter, der nicht Thema und Methode des Seminars bestimmt, ist kein Seminarleiter!“). Konflikte gab es über die verschiedenen Formen der „Gruppenarbeit“, mit denen wir experimentierten, – über das von uns nach gründlichen Überlegungen den Studierenden angebotene „Du“, mit dem wir das leistungsmindernde Autoritätsgefälle der Lehrsituation aufbrechen und diskutierbar machen wollten („Sie biedern sich an die Studenten an!“), – und über die Bewertung gemeinsam erarbeiteter Seminararbeiten („Leistung ist immer die Leistung eines Einzelnen“). Und für die Habilitierten unter uns gab es enervierende Konflikte mit dem Oberschulamt über die Legitimität unserer Prüfungsthemen und Prüfungspraxis.

Am Institut hatten wir in Bezug auf die Inhalte unserer Lehre freie Hand. Trotz aller hochschulpolitischen Gegensätze, oft heftiger, lang andauernder und das private durchaus tangierender Auseinandersetzungen gab es hier eine weitgehende, gegenseitige Achtung der jeweiligen wissenschaftlichen Interessen, Themen und Ergebnisse. Auch den „Mittelbauern“ wurde in ihre Lehrveranstaltungen („Prof. X durch Assistent“) von den Ordinarien nur insoweit hineingeredet, als es für ein ordentliches Lehrangebot am Institut notwendig war.

Anders jedoch die Schulbehörde, die bei den Staatsexamensprüfungen die Aufsicht führte und deren ältere Mitglieder zum Teil mit Schrecken sahen, was wir von den Studierenden in der Prüfung an neuen Themen der Sozialgeschichte, der marxistischen und der psychoanalytischen Literaturwissenschaft erwarteten (anlässlich von Büchners „Woyzeck“: „Sie müssen noch nach dem Allgemein-Menschlichen fragen!“). Nur die Androhung rechtlicher Schritte gegenüber dem Oberschulamt konnte einige unserer konservativen Prüfungsvorsitzenden von inhaltlichen Eingriffen in unsere Prüfungspraxis abhalten und sie auf ihre Rolle als formale Aufsichtspersonen beschränken.

Daten, die ermittelt werden konnten

SS 1969  Beginn des Tutorenprogramms der VW-Stiftung am Deutschen Seminar.

SS 1971  Erster KLv-Vorspann. Im Veranstaltungskommentar des Deutschen Seminars erschienen jetzt sechs (später bis zu 16) Lehrveranstaltungen als auf einander abgestimmter Studiengang unter dem Titel „Koordinierte Lehrveranstaltung“ mit einer programmatischen Erklärung vorneweg.

Vorausgegangen waren Auseinandersetzungen mit den Ordinarien am Deutschen Seminar über die Notwendigkeit/Überflüssigkeit einer stärkeren Systematisierung und über die inhaltliche Ausrichtung des Angebots an Lehrveranstaltungen.

Das Projekt eines eigenen „linken“ Studienganges ging auf den Druck von SDS- und verbündeten Studierenden zurück; Berichte aus Berlin über die dortige „Kritische Universität“ hatten als Anregung gedient.

Zum offiziellen Auftreten der „KLv“ gab es eine öffentliche Veranstaltung von Mittelbau und Studierenden am Semesteranfang; Einführung: Hanno König.

Die Planungen zu den KLv fanden anfangs gemeinsam mit Studierenden in einer eigenen, wöchentlich tagenden „Koordinationskonferenz“ statt, später im teils engen, teils lockeren Kontakt mit Studierenden, dann nur noch unter den Lehrenden von „Rosa“. Es ging neben der semesterweisen Festlegung von Themen und Formen der Seminare vor allem auch um die längerfristige Organisation bestimmter Vorhaben: die Organisation von Einführungen in die marxistische und psychoanalytische Literaturwissenschaft und die Planung von über mehrere Semester laufenden „Schwerpunkten“ ‒ „Schwerpunkt Kaiserreich“, „Schwerpunkt 18. Jahrhundert“, „Literatur 1870‒1970“, „Literatur der Weimarer Republik“ ‒ zu denen jeweils der Erwerb von historischem und sozialwissenschaftlichem Grundlagenwissen nötig war. (Die Einzelheiten in den digitalisierten Veranstaltungskommentaren im ASB; zum Schwerpunktkonzept s. mehr am Ende dieser Übersicht). Für den Schwerpunkt 18. Jahrhundert erarbeiteten Hans Peter Herrmann und Rüdiger Scholz über mehrere Semester und Ferien hinweg zusammen mit interessierten Studierenden eine eigene historische KLv-Schrift: „Deutschland im 18. Jahrhundert“.

Die Vorbereitung, Planung und Durchführung dieses Lehrprogramms nach Inhalten und Formen nahm in „Rosa“ neben der Meinungsbildung zu den aktuellen Konflikten am Institut immer größeren Raum ein.

WS 1971/72  Der KLv-Vorspann erscheint in neuer, stark von marxistischen Begriffen bestimmter Form.

1972  21.3. Erste Sitzung des „Projekts 70/70“ (s. Vorlesungskommentare).

1973  VW-Projekt (dazu eigene Abteilung im Archivmaterial).

Antrag 1973; Bewilligung 15.7.1974; erste Seminare SS 1975; erste Schulphase Januar/Februar 1976; Ende Herbst 1978.

August: Rosa-Sitzungen mit Planungen; Beschäftigung mit Freire’s Pädagogik.

Herbst: Intensive Beschäftigung mit Klassenanalyse: Problem der „Neuen Mittelklassen“ zwischen Bourgeoisie und Proletariat (dazu Literaturliste, Arbeitspapiere und viele Notizen).

23./24. Arbeitstagung von „Rosa“ im Fachschaftshaus der Freiburger Universität auf dem Schauinsland: KLv-Probleme der Organisation und der Lehre und „Das VW-Projekt“ mit seinen pädagogischen und theoretischen Problemen.

Teilnehmer: Jochen Dyck, Roland Elsner, Hans Peter Herrmann, Peter Jehn, Manfred Karnick, Hanno König, Rainer Noltenius, Carl Pietzcker, Rüdiger Scholz, Wolf Wucherpfennig.

November KLv-Flugblatt Nr. 1.

Dezember KLv-Flugblätter 2 und 3.

1974  (Krisenjahr)

Januar KLv-Flugblatt 4 („Kritik bürgerlicher Wissenschaft“).

April KLv-Flugblatt 5 „Überlegungen und Vorschläge zur Gruppenarbeit“ (Entwurf: Wolf Wucherpfennig).

Mai bis Juli: Aus diesen Monaten sind datierte und undatierte Protokolle und Arbeitspapiere erhalten (nachträglich in einem Hefter gesammelt), mit Vorschlägen zur Umorganisation von Rosa und KLv, und mit z. T. scharfer Kritik am Stil, an den Inhalten und der politischen Ausrichtung der gemeinsamen Arbeit.

Zur Krise gehört u. a., dass Hanno König sich weigerte, turnusmäßig den „Grundkurs Marxismus“ zu halten, dass in den Auflösungsanträgen von König und Wucherpfennig das Nichtaustragen persönlicher Divergenzen als zentraler Grund genannt wurde, dass für manche Mittelbauer, v.a. die Assistenten, die Konzentration auf die Lehre unter Hintansetzung eigener Veröffentlichungen nicht durchzuhalten war.

August 30./31. Treffen in Weisweil, im Gasthof „Fischerinsel“ (Eigentümer und Wirt der Fischer Balthasar Ehret, der in der gleichzeitigen Kaiserstühler Anti-Atomkraftbewegung eine wichtige Rolle spielte).

Teilnehmer: Jochen Dyck, Hans Peter Herrmann, Peter Jehn, Rainer Noltenius, Carl Pietzcker, Rüdiger Scholz, Peter Wirth, Wolf Wucherpfennig.

Themen: 1. Interne Probleme von Rosa (dazu das Papier von Wolf Wucherpfennig), 2. VW-Projekt

Carl Pietzcker in der Rückerinnerung an die Tagung: „Auf der Fischerinsel haben wir über aktive politische Arbeit im außeruniversitären Raum dikutiert, u. a. über Arbeit im Untergrund und gleichzeitige Universitätsarbeit. Das haben wir verworfen und uns für die Universität entschieden, wenigstens erinnere ich das so.“

Nach „Weisweil“ betrachteten einige Mitglieder die Lehrkörpergruppe „Rosa“ als aufgelöst, andere verwendeten den Namen weiter; Manfred Karnick verließ die Gruppe. Auf die Beziehung der Personen untereinander hatte das nur geringen und auf ihre gemeinsame inneruniversitäre und politische Arbeit keinen Einfluss; man traf sich weiter, wenn auch kürzer, zur Koordination der KLv-Seminare, zur Durchführung des VW-Projekts (Herrmann, König, Wirth) und zu Absprachen bei Konflikten im Lehrkörper oder in der allgemeinen politischen Landschaft (z.B. zu Protesten gegen den offiziellen Abwiegelkurs der Universität nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl).

WS 1974/75  Veränderter („zahmerer“) KLv-Vorspann im Vorlesungskommentar.

(Über die Jahre zwischen 1975 und 1977 ist außer den Angaben im Vorlesungsverzeichnis und den Veranstaltungskommentaren des Deutschen Seminars kein Material vorhanden.)

1975  „Deutschland im 18. Jahrhundert“, KLv-Schrift, 1975, 199 Seiten. (Schreibmaschinenmanuskript gedruckt); dazu s. o.

1977  November: Carl Pietzcker stellt einen Antrag auf „Auflösung der Klv“; zu den verschiedenen Auflösungsanträgen siehe die eigene Textsammlung in den „Materialien zu Rosa“.

WS 1977/78  Letzter KLv-Vorspann im Lehrveranstaltungskommentar des Deutschen Seminars.

Auch jetzt änderte sich an der Konzeption der Lehrveranstaltungen vorerst nichts (s. Vorlesungskommentare); es blieb das Konzept von inhaltlich-historisch aufeinander bezogenen Seminaren in (weiterhin so benannten) „Schwerpunkten“ und das didaktische Konzept unterschiedlich gehandhabter „Arbeitsgruppen“; ebenso blieb vorerst die Zusammenarbeit zwischen den weiland „Rosa“-Dozenten, die ihre Lehrveranstaltungen miteinander abstimmten und deren Durchführung besprachen. Erst mit der Zeit erodierte das Konzept und lockerten sich die politischen Verbindungen zwischen den in Freiburg gebliebenen Mitgliedern der Gruppe.

1978  Herbst: Ende des VW-Projekts.

SS 1993  Zum letzten Mal wurde der „Schwerpunkt 18. Jahrhundert“ angeboten und damit das für die KLv konstitutive Konzept eines „Grundkurses“, der die zum Verständnis der Literatur notwendigen sozialhistorischen Grundlagen vermittelte, wie auch mehrerer (mehr oder weniger auf einander abgestimmter) Literaturseminare, die Werke der deutschen Literaturgeschichte behandelten. „Schwerpunkte“ gab es in anderer Form und von anderen Lehrenden weiterhin im Lehrangebot der Neuen Abteilung.

Endgültiges Ende der „Koordinierten Lehrveranstaltungen“.

5. Hans Peter Herrmann: Mein Interesse am Experiment der „Koordinierten Lehrveranstaltungen“

Aus einem Brief an einen Freund, Januar 2016 (Text 2019 leicht überarbeitet)

In meinen Seminaren habe ich mit den StudenInnen daran gearbeitet, die erstaunlichen Texte der deutschen Literatur, die vom humanistischen Ideal der Deutschen Klassik, seinem Subjektbild und anderem zeugen, in ihrer Bedeutung und ihrer historischen Begrenztheit zu erkennen und zu beschreiben und mit der jeweiligen Seminargruppe zu bestimmen, was sie für uns hier im Raum als Mitglieder einer anderen Epoche noch bedeuten können und was nicht. Mein Selbstbild als Literaturprofessor, genauer: als Prof. der Literaturgeschichte, war/ist das eines Menschen, dem diese Literatur etwas bedeutet (bei mir: weil ich mit ihr aufgewachsen bin) und der sie nun den Mitgliedern einer anderen Zeit (und einer anderen Lebensweise) anbietet, um gemeinsam zu sehen, was davon noch verwendbar ist. Bei Brecht fand ich ein ähnliches Verhältnis zur Tradition ‒ und zur Gegenwart übrigens auch.

In der jahrelangen Arbeit mit Rüdiger Scholz und einigen interessierten StudentenInnen haben wir versucht, die historischen, sozialökonomischen und politischen, Voraussetzungen zu erforschen, die diese Texte möglich gemacht haben mit ihrer Ästhetik, den Subjektkonstruktionen ihrer Autoren, den Formen ihres persönlichen und literarischen Kommunikation und ihrer „Weltanschauung“. Wir wollten zeigen, dass die von Madame de Staël bis zur DDR-Germanistik und Gerhard Kaiser vertretene These nicht stimmt, die deutsche Literatur vom Sturm und Drang bis zur Romantik sei in einem gesellschaftlich rückständigen Land entstanden und habe die zukunftsweisenden ästhetischen und inhaltlichen Konzepte, die ihre weltweite Wirkung im 19. Jahrhundert begründeten, nur durch Blicke nach Frankreich und England und durch eigene Genialität entwickelt.

Das war damals harte wissenschaftliche Arbeit an der Spitze der Forschung. Andere Linke, Sozialhistoriker und später auch eher konventionelle Wissenschaftler (z.B. Wirtschaftshistoriker) haben Ähnliches gemacht, unsere Ergebnisse bestätigt und dann das Interesse an der zugrunde liegenden Fragestellung verloren. Da Rüdiger und mir dabei die Zusammenarbeit mit diesen und unseren sonstigen StudenInnen wichtiger war als die öffentliche Präsentation unserer Ergebnisse, haben wir den dabei entstandenen umfangreichen Text „Deutschland im 18. Jahrhundert. Zwischen Feudalismus und Kapitalismus“ (1975/76), KLv-Schrift Nr. 1, nicht bis zur fachgerecht abgesicherten Veröffentlichungsreife gebracht – was nicht optimal war. Es gab aber auch noch andere Gründe: Wir hätten ein eigenes Institut haben oder doch über die Hilfsmittel eines eigenen Lehrstuhls verfügen müssen. Und wir hätten uns aus den zeitraubenden Mühen und Querelen der laufenden „Hochschulreform“ heraushalten müssen. Das eine hatten wir nicht, das andere wollten und konnten wir nicht.

Und in dem von Rainer Noltenius konzipierten „Schulversuch“ unseres „VW-Projekts“ (1973‒1978) unternahmen wir eine neue Kooperation mit „der Schule“ wie auch mit zwei Gymnasiallehrern ‒ nicht etwa einfach nur, um Gruppenunterricht an die Schule zu bringen (was damals noch neu war und als subversiv und gefährlich galt), sondern vor allem um unsere Form des Literaturunterrichts mit SchülerInnen zu erproben, bei der es eben nicht darum ging, „zu begreifen, was uns ergreift“. Sondern wir wollten die SchülerInnen (wie unsere StudenInnen) anregen, in eine Auseinandersetzung der eigenen zu entwickelnden Phantasiefähigkeit mit einer fremden, durchgestalteten Phantasieproduktion zu kommen – (mit einem anspruchsvollen Begriff von Phantasie als wunsch- und utopieorientierter Aneignung der gesellschaftlichen Realität in unserem Kopf); zugleich sollten sie dabei im Ansatz einiges über die frühere Zeit – also über die Geschichte der eigenen Kultur – erfahren. Und für unsere StudenInnen wollten wir mit dem Projekt einen Weg ausprobieren, ihnen ihren Gang aus ihrem stark selbstbestimmten und auf Veränderung der Gesellschaft ausgerichteten Studium in das fremdbestimmende und veränderungsresistente Schulsystem zu ebnen. Sie sollten bereits im Studium Erfahrungen mit der Schule sammeln können, quasi im „Schutzraum“, und die gemachten Erfahrungen reflektieren. Was bei denen, mit denen wir arbeiteten, auf sehr unterschiedliche Weise gelungen ist: Einige haben die Schule brüsk abzulehnen gelernt, andere, und hier gerade die, mit denen Rüdiger und ich auch den zweiten Teil des Projekts zu Ende brachten, sind sehr engagierte, gute Lehrer geworden. Als institutioneller Weg zu einer besseren Verbindung von Lehrerausbildung und Schulwirklichkeit (den zu erproben wir das Geld von der VW-Stiftung und die Genehmigung vom KM bekommen hatten) ist das Projekt aber gescheitert. Unsere Erfahrung: Universität und Schule sind zwei zu unterschiedliche Institutionen, als dass sich die Interessen und Zeitrhythmen der in ihnen Arbeitenden miteinander vereinen ließen.

Als dann der Antrieb der „Studentenbewegung“ erlahmte und immer neue ministerielle Eingriffe die Universität von Grund auf veränderten, wodurch sinnvolle Reformen unmöglich wurden, setzten wir Übriggebliebenen auch nach dem offiziellen Ende der KLv (WS 1977/78) unsere Form eines aufeinander abgestimmten, materialistisch-historisch orientierten und auf die Mitgestaltung durch die StudenInnen bauenden Literaturunterrichts fort. Einige Folgewellen studentischer Aktivitäten, z. B. zur Zeit der Hausbesetzerszene Anfang der 1980er oder zuletzt während der Proteste gegen den Golfkrieg 1991, trugen dann studentische Aktivität und aus den gesellschaftlichen Konflikten erwachsene eigene Fragestellungen in unsere Veranstaltungen. Sie bestätigten uns (Carl, Rüdiger, Peter, Hanno und ich verständigten uns darüber), dass unsere Art des Unterrichts immer noch möglich war, wenn auch nicht als Regel und in herabgestufter Form.

So richtig hatte das mit der studentischen Mitbestimmung ohnehin nur ganz am Anfang funktioniert. Danach mussten wir als Seminarleiter immer wieder neu die Balance zwischen Führen und dem Wecken von Eigenaktivität herstellen, was oft nur unvollkommen gelungen ist. Aber ich weiß aus genügend vielen und unterschiedlichen Reaktionen Ehemaliger, dass der Anspruch, den wir aufrecht erhielten, für viele immer noch eine wichtige und ins nachuniversitäre Leben hineinwirkende Aufforderung darstellte, die eigene intellektuelle und berufliche Praxis als Aufgabe und als Teil eines kritisch mitzugestaltenden gesellschaftlichen Lebens zu verstehen.

Der „Studentenbewegung“ hatte ich mich in meinen Anschauungen stärker als andere meiner Generation angeschlossen. Weniger in meiner Lebensweise; denn anders als viele jüngere Assistenten und akademische Räte hatte ich meine eigene Pubertät lange hinter mir und  musste die emotionalen, sexuellen und intellektuellen Experimente der StudenInnen nicht mehr benutzen, um mich selbst auszuprobieren. Aber intellektuell, in meinen wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Anschauungen, und in meinen beruflichen Rollen waren die örtliche Revolte der StudenInnen und der weitreichende kulturelle und intellektuelle Umbruch, dem sie sich verdankte und den sie vorantrieb, für mich eine Befreiung. Von den Freiburger jungen SDS-Leuten saß ein Großteil in meinen Lehrveranstaltungen. Ich kannte sie und lernte von ihnen und sie gaben mir die Möglichkeit, meinen Widerwillen gegen die autoritären Strukturen der deutschen Universität produktiv werden zu lassen. In der gemeinsamen Arbeit mit den jüngeren Kollegen in „Rosa”, durch die Kontakte mit den KollegInnen im „Dringenberger Kreis” und in den Auseinandersetzungen am Institut arbeitete ich an den Veränderungen in Freiburg und in der Bundesrepublik zur Schaffung einer anderen Universität mit, einer demokratischeren Universität und einer Universität, in der die „Lehre“ ein neues Gewicht beanspruchen sollte. Der Umbruch 1968 ermöglichte mir eine weniger formalisierte, eine individuellere Arbeit mit „meinen“ StudenInnen, er rückte die Bedeutung von „Erfahrung“ und „Erfahrungsverarbeitungen“ statt „Wissen“ ins Zentrum („Erfahrungshunger“ hat einmal jemand als Merkmal der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre und als Auslöser der Studentenbewegung konstatiert). Der Umbruch zeigte mir auch einen Weg, meine eigene bildungsbürgerliche Herkunft als solche zu erkennen, für mich zu akzeptieren und zugleich historisch als einer soeben vergangenen Epoche angehörig einzuordnen. Er eröffnete mir darüber hinaus einen Zugang zu den verschütteten linken Traditionen der deutschen Kultur, zwang mich zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der marxistischen Gesellschaftstheorie von ihren Anfängen bis in die Gegenwart und half mir, ein eigenes Bild und vertieftes Verständnis unserer spätkapitalistischen Gesellschaft und meiner Position in ihr zu finden. Aber dieses Selbsterständnis teile ich mit vielen anderen, die „68” als produktive Herausforderung erfahren haben.

6. Literatur zur 1968er-Geschichte der Neuen Abteilung des Deutschen Seminars Freiburg

Hans Peter Hermann: Die Widersprüche waren die Hoffnung. Eine Geschichte der Reformen am Institut für Neuere Deutsche Literaturgeschichte der Universität Freiburg im Breisgau 1956‒1977. In: Klaus-Michael Bogdal und Oliver Müller (Hrsg.): Innovation und Modernisierung. Germanistik von 1965 bis 1980, Heidelberg: Synchron 2005, S. 67‒108; Wiederabdruck in: Hans Peter Herrmann: Krisen. Arbeiten zur Universitätsgeschichte 1933‒2010 am Beispiel Freiburgs i. Br., Freiburg, Berlin, Wien: Rombach 2015.

Gerhard Kaiser: Rede, dass ich dich sehe. Ein Germanist als Zeitzeuge. Stuttgart, München: Deutsche Verlagsanstalt 2000, S. 160‒258 (allgemein zur Studentenbewegung); S. 244f. (kurze Bemerkung zur „Koordinierten Lehrveranstaltung“).

Rainer Noltenius: Zwischen Elfenbeinturm und gesellschaftlichem Dialog. Ein Gespräch Heinz Hillmanns mit Rainer Noltenius. In: Kultur als Fenster zu einem besseren Leben und Arbeiten. Festschrift für Rainer Noltenius. Hrsg. Fritz-Hülser-Gesellschaft und Volker Zaib (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen; Bd. 9), Bielefeld: Aisthesis-Verlag 2003, S. 681‒702.

Carl Pietzcker: Die Studentische Rebellion in Freiburg und ihre Folgen. Tl. 1: Das Jahr 1968: Die studentische Rebellion in Freiburg. Bernd Martin (Hrsg.): 550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Bd. 3: Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts. Freiburg, München: Alber 2007, S. 638‒654.

Carl Pietzcker: Mein Weg zu einer psychoanalytisch orientierten Literaturwissenschaft. In: Carl Pietzcker: Psychoanalytische Studien zur Literatur. Bd. 1, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 315‒332.

Rüdiger Scholz: Ende. Germanist am Deutschen Seminar der Freiburger Universität 1968‒2004. Blick zurück ‒ eher im Zorn. Eine Rede an die Studierenden. Freiburg: Eigendruck 11. Februar 2004.

Rüdiger Scholz: Nicht gehaltene Rede zum 85. Geburtstag von Hans Peter Herrmann, 2014. http://omnibus.uni-freiburg.de/~scholzr

Wolf Wucherpfennig: Leben im Übergang oder Vom Kloster zur Wissensfabrik. Erinnerungen und Reflexionen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007 (Autobiogaphie, zu den KLv S. 113‒121).

Anmerkungen

[1] Archiv für soziale Bewegungen e.V., Adlerstr. 12, 79098 Freiburg, +49 761 33362, URL: http://www.soziologie.uni-freiburg.de/asb.

[2] Im Umfang von über zwei laufenden Regalmetern.