3.4.2017 – Nazareth

das erste Blatt sieht die Welt
an demselben Ast der dies versprochen hat
als er das letzte losgelassen hat

Auf einmal geht dann alles sehr schnell: der leise grüne Schimmer der Birken von gestern zeigt sich heute schon in winzigen Blättchen. Die Christrosen stehen jetzt auch bei mir in voller Blüte – war ja auch Zeit: in zwei Wochen ist Ostern. Ich werde ihnen einen neuen Namen geben müssen. Und an den letzten Jahr gepflanzten Bäumen glaube ich, winzige Veränderungen zu erkennen. Die Stare spielen verrückt um ihre Häuschen herum und immer wieder hinein und heraus, ins andere hinein und so weiter. Dann sieht man wieder stundenlang keinen und hört sie nur aus den Tannen. Auf den höchsten Tannenspitzen singen am Abend zwei Amseln ihr Lied. Um acht Uhr fangen sie an, meistens zehn Minuten, auch mal eine Viertelstunde dauert es, bis sie sich krächzend von der Spitze in einen Baum fallen lassen. Danach sind nur noch kleine feine ferne Stimmen zu hören, immer größere Pausen bis zum nächsten, dann zum letzten Ton. Mir ist es immer, als würde ich dem Atmen eines Sterbenden lauschen, wo ich darauf gefasst bin, dass es ein letzter Atemzug ist. Für diesen Tag.
Aber der Morgen! Mit solchem Jubel in den Tag gerufen zu werden, ist Glück genug bis zum Abend. Denke ich, schwinge mich aufs reparierte Rad und fahre mit dem Hund um die Felder.
Ich halte an einem Baumstamm, Yalla springt zu mir herauf und bleibt neben mir sitzen. Die Lerchen über uns singen im Fliegen – wenn es denn Männchen sind.

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Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de