1.4.2017 – Palmyra

Die Amseln singen wieder am Abend und am Morgen, auf meiner Tanne, im Wacholder und von meinem Dach herunter, als hätten sie mich dabei im Auge. Sie singen dann nur für mich, ist ja sonst niemand mehr da, der sie hört. Die Spaziergänger sind schon zuhause.
Und ich denke: wenn ich soviel leben darf bei Tag und bei Nacht, dann kann ich doch früher gehen? Ich möchte mir diesen Wunsch vielleicht wieder erlauben dürfen, wo er nach dem Tod meiner Tochter, für den sie sich selbst entschieden hat, bis heute tabu für mich war.
Vielleicht ist ja meine Angst vor dem Ende, die immer so nah ist und mich bei jeder noch so kleinen Gelegenheit anspringt, eine Angst vor dem Wunsch. Und ich möchte ihm das Verbot wieder nehmen. Unverboten soll er sein. Dann ist Bleibenwollen erst richtig gut.

Ich hatte eine Freundin, die mich kannte, wie sonst niemand. Wir haben über alles miteinander sprechen können. Nachdem sie umgezogen war, ging das fast nur noch mit dem Telefon. Oft rief sie an, um mich zu fragen, ob das eine oder andere körperliche Symptom gefährlich sei. Diese Hypochondrie hatte zur Folge, dass ich nicht mehr alles ganz ernst nahm. Als sie so gar keine Ruhe finden konnte und immer wieder nachhakte, sagte ich, was sie dachte – aus der Erfahrung heraus, dass wir oft mit Lachen aus so einem Strudel herausgekommen waren – „das ist bestimmt ganz schlimm und du stirbst daran bald –“
Schlimm war es wirklich: als ich aus Algerien zurückkam, wohin wir gemeinsam hatten fliegen wollen, war sie tot.
Sie soll zuletzt davon gesprochen haben, dass ich gerade allein in Algerien sei.

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Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de