Kritische Universität und Universitätskritik

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Quellennachweis: Auditorium – Hamburger Studentenzeitung, Jg. 8, Nr. 49, Oktober 1967, S. 6-7.[1]

 

Die etablierte Ordinarienuniversität gehört aufgrund ihrer wertfrei-unkritischen Wissenschaftshaltung, ihrer autoritären Lehrpraktiken und ihres undemokratischen, ständehierarchischen Aufbaus zum Reproduktionsinstrumentarium einer unfreien und unmündigen Gesellschaft, die wehrlos den Manipulationen ihrer Machthaber ausgesetzt ist; als elitäres Modell bestimmt sie die Verfassung des gesamten Schulsystems.

 

Studentische Aktivität

Zum ersten Male seit fast genau fünfzig Jahren ist im vergangenen heißen Sommer die herrschende akademische Ordnung in Frage gestellt worden: Zuletzt zwischen 1917 und 1920 haben in Berlin, Hamburg und München die Studentenräte den universitären Elfenbeinturm mit vergleichbarer Entschlossenheit in Zweifel gezogen.

Während der rasch erlahmte revolutionäre Elan der Nachkriegsstudenten nicht einmal eine anhaltende Liberalisierung des akademischen Lehrbetriebs eingeleitet hat, haben sich die Berliner Demonstranten in diesem Jahr nicht in bloßen Mißfallenskundgebungen erschöpft, sondern spontan und unangemeldet eine konkrete Utopie erstellt, das Gegenmodell einer „Kritischen Universität“.

Studenten anderer Universitäten sind dem Berliner Beispiel gefolgt. In Hamburg entwarf ein vom AStA unterstützter lnitiativausschuß ein „Studentisches Kontrastprogramm“. In Münster, Bochum und Bonn sind von Vertretern der politischen Hochschulgruppen „Wissenschaftspolitische Clubs“ gegründet worden, die Gegenveranstaltungen zur verfestigten Seminar- und Vorlesungsordnung der alten Universität organisieren sollen.

Internationale Kontakte

Die Gründer der Berliner „Kritischen Universität“ waren sich durchaus über den Zusammenhang mit den studentischen Aktivitäten in großen Teilen der „Freien“ und der „Dritten“ Welt im Klaren. Seit Jahren bestehen zu Angehörigen einzelner südamerikanischer Universitäten, die seit Generationen im Kampf gegen diktatorische Eingriffe der staatlichen Bürokratien geübt sind, intensive Kontakte, und nach dem 2. Juni nahm die Berliner Studentenopposition Verbindung mit Vertretern der London School of Economics (LSE) und der Free University New York auf, um die dort gemachten antiuniversitären Erfahrungen mitverwenden zu können.

Die nach den Studentenrevolten von Berkeley als Gegenuniversität konzipierte Free University zählt gegenwärtig 1200 Studenten und ist zumindest organisatorisch wesentlich weiter fortgeschritten als die Berliner Gründung im derzeitigen Zustand ihrer Planung. Ihre Zeitschrift „Treason“, die auch das regelmäßige Vorlesungsverzeichnis enthält, hat sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten theoretischen Organe des amerikanischen New Left entwickelt. Sie wird neuerdings auch in Deutschland aufmerksam gelesen und trägt so zur Internationalisierung der Studentenbewegungen bei.

Kritische Lehrplanergänzung

Die bisher vorgelegten Lehrprogramme der Studenten durchbrechen mit voller Absicht die überkommenen Fakultätsgrenzen, deren strenge Einhaltung durch den akademischen Apparat bisher wirkungsvoll die Erkenntnis von Zusammenhängen zwischen den einzelnen Disziplinen und die Orientierung an übergreifenden, gesellschaftlich relevanten Fragestellungen verhindert hat.

Vom Elfenbeinturm reiner und praxisabgewandter Wissenschaft hat sich der Akzent auf die soziale Problematik des Fachs verlagert. Überall werden bevorzugt solche Themen behandelt, die bisher von den beamteten Hochschullehrern sorgfältig vermieden wurden. Die angepackten heißen Eisen sind in der Regel ausgesprochen politischer Natur. Die KU will Arbeitsbereiche erschließen, die man bisher in den Vorlesungsverzeichnissen vergeblich suchte.

Gegen unkritische Wissenschaftsideologien

Gemeinsame Intention der gegenuniversitären Programme ist die Politisierung der wissenschaftlichen Fragestellungen. Die Studenten wollen den gültigen unkritischen Wissenschaftsideologien der „Wertfreiheit“ und des Neopositivismus gesellschaftspolitisch orientierte und engagierte Forschungsmethoden entgegensetzen und das systemkonforme Verhalten reiner Gelehrsamkeit mit aufklärerischen, an Kritik und Widerspruch geschulten Arbeitsprinzipien konfrontieren.

In Mainz, Heidelberg und Hamburg veranstalten die AStAs Vorlesungsreihen, die sich unter dem Aspekt der Wertfreiheit kritisch mit dem wissenschaftlichen Werk und der akademischen Lehrtätigkeit verschiedener, für ihr Fach repräsentativer Forscherpersönlichkeiten auseinandersetzen. Am Ende der Zyklen ist beabsichtigt, den Vertretern unpolitischer Wissenschaftshaltungen alternativ die Leistungen von Forschern entgegenzustellen, die in vorbildlicher Weise soziologische und politologische Argumente in ihre Untersuchungen einbeziehen.

Für politisch verantwortungsbewußte Disziplinen

Die germanistischen Mitarbeiter der KU, Berlin, treten erklärtermaßen für eine politische verantwortungsbewußte und verantwortungsbereite Philologie ein, weil sie erkannt haben, daß besonders in ihrer Disziplin das geforderte Heraushalten aus der Politik nichts anderes als das fraglose Sichabfinden mit den bestehenden Verhältnissen zur Folge gehabt hat.

Allgemein setzt sich die Einsicht immer mehr durch, daß eine Wissenschaft, die sich blind gegenüber dem in großen Teilen der Welt ausgeübten Terror, gegenüber politischer Gewalt und Brutalität verhält, objektiv zur Verlängerung und Verfestigung des Unrechts beiträgt.

Sie fordern deshalb programmatisch, daß sich die akademische Forschung und Lehre ihrer gesamtgesellschaftlichen Funktion bewußt wird und ihren Beitrag zur Demokratisierung alter Lebensbereiche übernimmt.

Die KU geht explizit von der Erkenntnis aus, daß die Mängel, Mißstände und Widersprüche der etablierten Universität „adäquat die Widersprüche in der Gesellschaft widerspiegeln“ und daß deshalb eine demokratische Umgestaltung der akademischen Lehrmethoden erste Schritte zur Demokratisierung, zur Aufklärung und Befreiung der Gesamtgesellschaft einleiten kann.

Reform von unten

Die Spontaneität, mit der die studentischen Gründungs- und Programmausschüsse ans Werk gegangen sind, hat die Gegenuniversität quer zum bürokratischen Apparat gestellt. Die Sezessionsbeschlüsse wurden gefaßt, ohne daß die Universitätsverwaltung oder die Professorenschaft um ihre Genehmigung ersucht worden wäre.

Mit rätesystematischer, radikaldemokratischer Entschlossenheit haben sie die Vorbereitung und die Organisation der Studentenuniversität selbst in die Hand genommen und damit offenkundig die Überflüssigkeit der professoralen Bevormundung demonstriert.

Erst als die Entwürfe ausgearbeitet waren, wurden progressive Professoren um Unterstützung gebeten ‒ gegen beamtete Förderer der studentischen Aktivität drohte der Berliner Senat mit Disziplinarstrafen.

„Experimentelle Kolloquien“

Für die üblichen akademischen Methoden exkathedraler Wissensvermittlung ist in den Veranstaltungen der Kritischen Universität und der Kontrastprogramme kein Platz. Die in den alten Hörsälen durchgeführte Arbeitsteilung in einen dozierenden Wissensproduzenten und zahlreiche studierende Wissenskonsumenten ist zugunsten gleichberechtigter Zusammenarbeit aufgegeben worden.

In Hamburg sind die Kurse der Studenten als „experimentelle Kolloquien“ gedacht: „Das Thema ist absichtlich allgemein formuliert. Auf Verlangen der Mehrheit der Teilnehmer läßt sich im Verlauf des Semesters die Themenstellung und die Verfahrensweise jederzeit ändern. Die Leiter beschränken sich auf die Darlegung des Arbeitsmaterials und die Führung der Diskussion. Auf Wunsch der Mehrheit können sie jederzeit durch einen anderen Teilnehmer abgelöst werden.

Das Ziel der Kolloquien ist es, durch experimentelle Veränderung der Lehr- und Lernverhältnisse die Initiative aller Teilnehmer zu entfalten und ihnen eine bestimmende und entscheidende Funktion bei der Gestaltung der wissenschaftlichen Arbeitsweise zu sichern.“

Im Programm der Berliner KU brauchte die Verfahrensweise studentischer Gruppen nicht mehr eigens dargelegt zu werden. In Vollversammlungen, in den zahlreichen Veranstaltungen der politischen Hochschulgruppen und bei ungezählten freien Diskussionsforen haben die Berliner Studenten mittlerweile einen Stil der offenen Aussprache entwickelt, der sich selbstverständlich überall dort durchsetzt, wo der studentischen Selbsttätigkeit Gelegenheit zur Entfaltung geboten ist.

Permanente Hochschulkritik

Die Kritische Universität stellt sich jedoch nicht als neuer Elfenbeinturm exterritorial neben die alte Universität, sondern hat sich die Kritik und die Einflußnahme auf die traditionelle Hochschule zur vordringlichen Aufgabe gesetzt. Das provisorische Verzeichnis formuliert als seinen Schwerpunkt „permanente Hochschulkritik und praktische Studienreform“. Vorgesehen ist die Veröffentlichung von Vorlesungsrezensionen und Prüfungskritiken „nach wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen, didaktischen, wissenschafts- und hochschulpolitischen Kriterien“.

Vorlesungsrezensionen

Im Hamburger Philosophischen Seminar haben die Studenten durchgesetzt, daß das Schwarze Brett allen Seminar- und Vorlesungsteilnehmern zum Anbringen von kritischen Kommentaren zu allen Lehrveranstaltungen zur Verfügung steht. Die Kritik soll laut Fachschaftsbeschluß „der Information und der Kontrolle für Studenten und Dozenten“ dienen. „Sie ist zugleich Ausdruck des Anspruchs an die Universität, ihre Institutionen sinngemäß zu demokratisieren, und des Anspruchs an die Studenten, aus der Haltung bloßer Rezeptivität zu öffentlicher kritischer Stellungnahme überzugehen.“

Am Ende des Sommersemesters war fast jede Vorlesung rezensiert.

In Bonn, Kiel, Frankfurt und Freiburg haben sich die von den AStAs herausgegebenen Studentenzeitungen bereits seit einiger Zeit zu Organen für eine umfassende Kollegkritik entwickelt; in Bonn organisierten sogar die Teilnehmer statistische Umfragen unter den Hörern und veröffentlichten sie auf Anschlägen und Flugblättern.

Studien- und Prüfungsführer

In Berlin sind weiterhin „Parallelseminare und vorlesungskritische Arbeitskreise, die kollektiv kritische Analysen bearbeiten und publizieren“, vorgesehen.

In Hamburg haben sich die bisher von den Ordinarien protegierten Mentorengruppen an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät entschlossen, ihre Ergänzungskurse für die permanente Kritik an den Lehrveranstaltungen zu öffnen. Die Berliner haben, ‒ was bisher nur in Bonn, Hamburg und München illegal geschehen ist ‒ in aller Öffentlichkeit die „Herstellung und den Verkauf von Vorlesungsskripten“ vorbereitet, sie planen die Edition eigener Lektürepläne und von „Studien- und Prüfungsführern, als Komprimierung von und als Ersatz für viele zeitraubende, unrationell organisierte Pflichtveranstaltungen“ und tasten damit ein Tabu an, das das sakrosankte Prüfungsmonopol der Ordinarien unmittelbar tangiert.

Die Elfenbeinturmhockerfabrik …

Mehr als alle Eingriffe der Staatsaufsicht, die zur Zeit der Wirtschaftskrise bestrebt ist, den Elfenbeinturm in eine Elfenbeinfabrik zur Deckung des akademischen Nachwuchsbedarfs umzufunktionieren, sind die studentischen Aktivitäten und Aktionen geeignet, die Hochschulverhältnisse praktisch zu verändern. Die antiinstitutionelle Initiative der studentischen Hochschulpolitik erschöpft sich nicht mehr in der selbstzufriedenen Hinnahme institutioneller, scheindemokratischer Zugeständnisse, sondern entwickelt eigene Formen selbsttätiger und solidarischer Zusammenarbeit, die wirksam genug erscheint, um die an den Universitäten über das Normalmaß ausgedehnte Durststrecke zwischen Theorie und Praxis zu verkürzen.

Ein gemeinsamer Grundzug der kritischen Universitätsmodelle ist der Versuch, die Ergebnisse theoretischer Kritik zum Gegenstand von praktischen Erfahrungen zu machen. Mit den Komitees, die nach dem 2. Juni in Berlin und an vielen anderen Universitäten Westdeutschlands gebildet wurden, sind die opponierenden Studenten beträchtlich über die bisherigen Modelle lizensierter Mitbestimmung hinausgegangen, sie entrissen den staatlichen und akademischen Institutionen einen Teil ihrer bürokratischen Privilegien und boten damit auch den Studenten, die weder organisiert noch angestellt waren, die Möglichkeit zu aktiver hochschulpolitischer Betätigung.

gilt es zu verändern

Die Kluft zwischen einem bloß rezeptiven Erlernen demokratischer Verhaltensformen und dem Umsetzen des Erlernten in greifbare Aktion wurde wenigstens vorübergehend überwunden.

Dadurch wurde unter den bewußten Teilen der Studentenschaft ein Lernprozeß. eingeleitet, als dessen erstes Ergebnis am Ende des Sommersemesters die Pläne für eine „Kritische Universität“, für ein „Studentisches Kontrastprogramm“ und für „Wissenschaftspolitische Clubs“ vorgelegt worden sind.

 

[1] Der Artikel fand Aufnahme in das Quellenkorpus der an der Universität Bielefeld entstandenen Dissertation von Michael Schmidtke: Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt am Main, New York/NY: Campus 2003, S. 237, Anm. 58. Anmerkung der Herausgeberin.