Roman und Autorin

Der Tagebuchroman von Heide Tarnowski entfaltet auf sehr eigene Weise tiefsinnig und vergnüglich den Plot des spannungsreichen Lebens einer 74-jährigen welterfahrenen deutschen „Heimatvertriebenen“.

Die Autorin lebt in selbstgewählter Einsamkeit in einem kleinen Haus am Waldrand irgendwo in Süddeutschland und schreibt entlang des Jahres 2017 Tagebuch.

Die Perspektive des Flüchtlingskindes im Schwäbischen, der Hausfrau und Mutter, später der geschiedenen Universitätsdozentin und der allein Reisenden, bilden einen prallen Resonanzraum, der die Geschehnisse des Jahres 2017 auf eine eigene Art zum Klingen bringen kann.

Selbst Flüchtling aus dem ehemaligen Ostpreußen erreichen die Tagebuchschreiberin die Krisen der Gegenwart. Die Autorin verfolgt die aktuellen Ereignisse, und lässt assoziativ ihre eigene Familiengeschichte – das Erlebnis der Flucht, der traumatisierte Vater, das ambivalente Verhältnis zu ihrer Mutter und das Leben als Flüchtling in Bayern in Rückblenden mit Hilfe alter Tagebuchaufzeichnungen und Texte auftauchen.  

Dazu kommen Geschichten, die sie über ihre Reisen geschrieben hat. Sie nimmt die Leser mit, wenn sie von Syrien und Israel – am liebsten allein und mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs – in den neunziger Jahren erzählt: Aleppo, Palmyra, Damaskus, Jerusalem und Nazareth. Auch die Erfahrungen als Gastdozentin in Ouagadougou, Burkina Faso, und Cotonou, Benin, tauchen immer wieder auf. Zuletzt die vielen Aufenthalte in Mali, Timbuktu und immer wieder Timbuktu, bis es dort zu gefährlich wurde. Timbuktu ist durch regen E-Mail – und Telefonkontakt in ihrem Alltag, wenn sie die Freunde bis heute aus der Ferne unterstützt und von Deutschland aus ein Internetcafé einrichtet – vergeblich: die Islamisten kamen wieder und zerstörten alle Geräte.

Dieser Weitwinkel wechselt ab mit manchmal lyrischen Nahaufnahmen. Der Alltag der Autorin ist sehr überschaubar geworden. Das Wasser kommt aus dem Brunnen und die Wärme von dem Holz, das der Garten abwirft. Sommers wie winters schläft sie unter freiem Himmel. Nach einer Reihe von einschneidenden Erlebnissen in ihrer Vergangenheit hat sie bewusst dieses Leben in Abgeschiedenheit gewählt – inklusive der damit verbundenen Schattenseiten, wie dem Alleinsein oder mangelnden Komfort. Das Tagebuch ist eine melancholische Liebeserklärung an die Natur und gleichermaßen an ihr Leben.

Sie reflektiert über Egoismus und Ehrlichkeit, Freude und Trauer. Erzählt von ihren Sorgen rund um das Altwerden, von spannenden Begegnungen, lieb gewonnenen Weggefährten und den letzten Tagen mit einem an Krebs erkrankten Freund. Existenzielle Themen wie Trauer, Tod und Krankheit scheinen auf, bis zu dem tiefsten Schmerz, den ein Mensch erleben kann, den Verlust ihrer älteren Tochter, die sich im Alter von 29 Jahren das Leben genommen hat.

Wandlungen im Blick auf die Welt im Lauf eines langen Lebens werden angedeutet, als Stufen eines Weges bis hin zu dem Übergang, den sich die Tagebuchschreiberin dort vorstellt, wo sie noch heute lebt.

Eine Nachbemerkung noch zu den veröffentlichten Fotos: Leider konnte kein Einverständnis der abgebildeten Personen eingeholt werden. Sollten persönliche Einwände gegen Veröffentlichung sprechen, bittet die Autorin um Kontaktaufnahme unter: heidetarnowski@web.de.

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Heide Tarnowski wurde 1943 in Masuren, damals Ostpreußen, geboren. 1945 floh sie mit ihren Eltern erst nach Sachsen und dann nach Oberfranken und schließlich nach Augsburg, wo sie bis zum Abitur lebte. In Tübingen und München studierte sie Literaturwissenschaft. Heide Tarnowski arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Augsburg, übernahm Kurzdozenturen an den Universitäten von Ouagadougou, Burkina Faso, und Cotonou, Benin. Sie schreibt Romane und Reisereportagen. Als freie Fotografin gestaltete sie Ausstellungen zu Westafrika.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de