„…bei ihr fühlte ich mich als Lernende ernstgenommen…“

Erinnerungsbruchstücke einer Studienabbrecherin, die heute offen lebisch lebt und Geflüchtete beim Deutschlernen unterstützt

Von Anja WolkowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Wolkowski

Lübeck, 24.2.2019

Sehr geehrte Frau Koloch,

ziemlich verrückt, wie ich auf Ihre biografischen Annäherungen an Gansberg gestoßen bin! Ende letzten Jahres vertippte ich mich bei der Stichworteingabe in Google ‒ hatte Appetit auf „Gänsebraten“ ‒, gelangte dergestalt in Ihr Achtundsechziger-Projekt, las mich fest, registrierte Ihren Zeitzeuginnen-Aufruf, folgte ihm ohne langes Zögern.

Wie Sie in Ihren Projektbeiträgen Gansbergs Lebensweg nachzeichnen, seelische Wunden, Krankschreibungen und Psychoanalyse einbegriffen, hat mich überrascht und berührt.

Als ich vor beinahe dreißig Jahren mein Studium der Literaturwissenschaft aufnahm, war mir der Unibetrieb total neu. Niemand hatte mich auch nur annähernd auf diese hochspezielle Welt mit ihrer unheiligen Allianz aus Hackordnung, Konkurrenzwahn, Seilschaften, Überheblichkeit und männlicher Dominanz vorbereitet. Frauenthemen interessierten mich besonders. Wie viele andere fraß ich gleichsam Bücher, hungrig auf’s Leben, wünschte mir einen Mann an meiner Seite, Kinder, wollte Journalistin oder Lektorin werden. Kaum vorstellbar, aber Marie Luise Gansberg war zum damaligen Zeitpunkt die einzige Institutsangehörige, die kontinuierlich frauenthematische Seminare und Kolloquien anbot. Zu ihr ging ich, bei ihr fühlte ich mich als Lernende ernstgenommen, dementsprechend aufgehoben. Was sie alles wusste! Und wie ich sie dafür bewunderte! Sie kannte und zitierte Frauen, von denen ich nie auch nur ein Sterbenswörtchen gehört hatte. Zum Beispiel die aus einer jüdischen Familie stammende Susan Sontag ‒ Sie erwähnten ja Gansbergs in der Jugend entwickeltes Faible für amerikanische Literatur ‒ oder auch die Exilschriftstellerin Annette Kolb, deren Werke 2017 in der von Wallstein verlegten „Bibliothek Wüstenrot Stiftung. Autorinnen des 20. Jahrhunderts“ in einer kommentieren Neuedition erschienen sind. Mein handschriftlich notierter Themenplan zum Mittelseminar „Annette Kolb. Romane und Essays“ (WS 1988/89) macht die Schwerpunkte von Gansbergs Erkenntnisinteresse an dieser leidenschaftlichen Europäerin sichtbar:

MS Annette Kolb                                                                                                            25.10.88

THEMENPLAN

1.11.                                 Die Frau in der Politik
                                         Berlin 1931
                                         Bestelltes Selbstporträt für Quartaner

8.11.                                 Torso (1905) in: Wera Njedin

15. + 22.11.                      Das Exemplar (1913)
                                         1. Die Gestalt der Marieclée
                                         2. Die Erzähltechnik des Romans
                                         – An welchen Stellen mischt die Erzählerin sich ein? Funktion?
                                         – Verhältnis erzählte Zeit – Erzählzeit
                                            Wo wird gerafft, gedehnt? Warum?

29.11. + 6.12.                   Daphne Herbst (1929)
                                         1. Geschlechterbeziehungen – Frauenbücher
                                         dazu: Inge Stephan/Sigrid Weigel: Die verborgene Frau AS. 1983
                                         Übernimmt Kolb Clischées? Wie geht sie damit um? Neue Darstellung?
                                         2. Gesellschaftsdarstellung in D.H.
                                         Zenaide / Antonie Bland del Nero / Fam. Herbst usw.
                                         Der Familienroman als politisches Gleichnis

Zur Analyse von Erzähltechnik:
Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa
Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens
Franz K. Stanzel (Anglist): Die typischen Erzählsituationen im Roman

13.12.                               Frauenfreundschaften im Werk Annette Kolbs
                                         (Romane / Festspieltage in Salzburg / Abschied v. Österreich)
                                         Annette Kolb/René Schickerle:
                                         Briefe im Exil 1933-1945
                                         Freundschaft mit Mary Gräfin Dobrzensky
                                         Thea (Mopsa) Sternheim
                                         Lou Mayrisch

10.+ 17.1.                         Die Schaukel (1934)
                                         1. Die Geschwister Lautenschlag
                                         2. Vergänglichkeits-/Todesthematik
                                         –> Verweis auf Politik?

24.1.                                 Gelobtes Land – Gelobte Länder (1951) In: Spitzbögen

31.1.                                 MEMENTO (1960)
                                         – Glückliche Reise (ergänzend)

7.2.                                   Kolbs weltanschaulich-politische Positionen:
                                         Briefe einer Deutschfranzösin (1917)
                                         (Gibt’ im Institut)
                                         (Utopie: gesittete Welt, geeintes Europa auf kultureller Basis)
                                         Bayern[1]

Um 1990 machte im Phil-Fak-Turm A das Gerücht die Runde, Gansberg sei lesbisch; in diesem Zusammenhang fiel der Name Christa Reinig (im gleichen Zeitraum kursierte die schockierende Nachricht, sie habe Krebs). Für einen Teil der politisch interessierten Frauen, ich denke hier etwa an Anne Fleig, die in der Fachschaft aktiv war, bedeutete konsequent gelebter Feminismus, mit Frauen liiert zu sein. Mich überzeugte das nicht. Als ich mich später in Frauen zu verlieben begann, war das reine Herzenssache, keine politische Entscheidung.

Ja, Gansberg hat solche und ähnliche Fragen in ihren Seminaren thematisiert, etwa am Beispiel Erika Mann. Und sie? Ging sie je ein Liebesverhältnis zu einer Frau ein? Ich selbst sah sie nicht mit einer Frau so nah, wie auch. Andere Profs erzählten unbefangen von der Dissertation ihrer Frau oder dass sie am Vorabend diesen oder jenen Kinofilm gesehen hatten… Sie nicht. Ihr Privatleben war Tabu. Einmal saß ich in ihrer Sprechstunde und fragte sie, ob es sein könne, dass auf ihrem Pulli Senf gelandet sei. Die Wirkung meiner Worte war so, als hätte ich ihr ans Schienbein getreten.

Eine Weile war ich Veranstaltungshiwi beim „Märchenprinzen“ (Prinz zu Solms-Hohensolms-Lich). Natürlich ging ich da häufiger durchs Institut und sah dann Gansberg zu ihrem Büro, Raum A 216, gehen, aber nicht, wie andere, auf dem Flur stehend Gespräche führen.

Bei Lesungen, die Wilhelm Solms organisierte, saß ich hinter der Kasse. Sarah Kirsch, Helga Königsdorf, Herta Müller erwiesen uns in der Alten Uni die Ehre. Gansberg blieb diesen Anlässen fern.

An die Film-Enthusiastin Gansberg kann ich mich nur zu gut erinnern. In einer der Sitzungen ihres Einführungsproseminars im Wintersemester 1988/89 erhielten wir von ihr den Hinweis, am Abend stehe Josef von Sternbergs Eifersuchtsdrama Marokko (USA 1930) auf dem TV-Programm. Es enthalte den ersten Frauenkuss der Filmgeschichte. Der Clou: Marlene Dietrich küsst als Mann gekleidet eine Frau.

Bei anderer Gelegenheit erwähnte sie im Seminar das Lied Hannelore von Claire Waldoff, Auslöser für meine Beschäftigung mit dem Gesangsrepertoire der lesbischen Kabarett- und Chanson-Sängerin und ihrer Autobiografie Weeste noch …! (1953).

Plakat von Joseph Steiner aus dem Jahr 1914, 98 x 73 cm, Stiftung Stadtmuseum Berlin

Wie es dazu kam, dass Gansberg mir Hörbares (Musik-CDs) und ich ihr Lektüre (Bücher, Zeitungsartikel) verlieh, ist mir nicht mehr erinnerlich. Dank guter Freunde in Schwerin besaß ich DDR-Ausgaben von Helga Königsdorf, die in der BRD noch nicht erhältlich waren. Außerdem borgte ich ihr Schriftsteller/innen-Interviews, die ich interessehalber aus Zeitungen ausgeschnitten hatte: Helga Königsdorf, Irmtraud Morgner, Christa Wolf, Heiner Müller über Inge Müller.

Ihren Darlegungen zufolge besaß Gansberg in jüngeren Jahren Sinn für Mode. Über dieses biografische Detail war ich gelinde gesagt erstaunt, kannte ich sie doch nur in Bollerhosen (ein bequemes, nicht unbedingt gut sitzendes Kleidungsstück), Shirts und Rollis. Bluse? Gebügelt? Einmal zu sehen bekommen, als Sigrid Weigel im Zuge eines Berufungsverfahrens, bei dem sie leer ausging, einen Vortrag hielt.

Sie thematisieren Gansbergs innerpsychische und äußere Hemmnisse. Das eine wie das andere entzog sich meiner Wahrnehmung. In Psychodingen ein unbeschriebenes Blatt, las ich meine Alice Miller und besuchte eine Mitbewohnerin in der Psychiatrie am Ortenberg. Ja, Gansberg war oft krank, was mich planerisch in Bedrängnis brachte. Nie war sicher, ob das favorisierte Seminar überhaupt zustande kommt und, wenn ja, ob es bis zum Semesterende würde stattfinden können. Ich erinnere mich, wie ich in der vorlesungsfreien Zeit auf Baustellen jobbte. Nebenher las ich in Vorbereitung auf das von Gansberg angekündigte Mittelseminar „Lion Feuchtwangers Erfolg“ stapelweise Werke dieses Autors. Scheinerwerb? Fehlanzeige.

Ausgelassen und mit einem Glas Rotwein in der Hand erlebte ich Gansberg auf dem Abschlussabend der „4. Tagung der Frauen in der Literaturwissenschaft“ (Paderborn, 19.9.‒22.9.1989) zum Thema Frauen ‒ Literatur ‒ Revolution. Eine weitere Revolution stand unmittelbar bevor: der Fall der Berliner Mauer. Der Kongress tanzte nicht, für Spaß und Vergnügen war mit den Missfits (wohl eine Anspielung an den Film Misfits ‒ nicht gesellschaftsfähig mit Marilyn Monroe in der weiblichen Hauptrolle) aber reichlich gesorgt. Der Sketch „Feminispräch“ des um 1985 gegründetes Frauenkabarettduos, bestehend aus Gerburg Jahnke und Stephanie Überall, endete mit dem Appell, die unterrichtete Sprache zu erlernen. An diesem langen Abend übten alle im Saal. Die Hierarchien waren aufgebrochen…

Anmerkung

[1] Siehe auch die Seminarbeschreibung im Kommentierten Vorlesungsverzeichnis (S. 25): „Annette Kolb (1870-1967), zu ihren Lebzeiten, vor allem in der Weimarer Republik, eine hochgeschätzte Autorin, ist heutigentags trotz eines Taschenbuch-Neudrucks ihrer Hauptwerke immer noch eine Unbekannte. Diesem Versäumnis der (Männer-)Germanistik abzuhelfen und mit einer sensiblen und scharfzüngigen Schriftstellerin bekanntzumachen, ist das Ziel des Seminars.
Im Zentrum des Seminars stehen einmal ihre drei Romane: „Das Exemplar“ (1913); „Daphne Herbst“ (1927); „Die Schaukel“ (1934) – dann zwei Texte, die Exilerfahrungen als Reiseberichte schildern: „Glückliche Reise“ (1940); „Memento“ (1960). Der zweite Schwerpunkt ist ihre Essayisik, wobei sowohl Texte herangezogen werden, die im Neudruck vorliegen („Zeitbilder 1907-64“), „Spitzbögen“, „Wera Njedin“), wie auch bislang nicht wiedergedruckte Stücke, die in einem Reader zugänglich gemacht werden.
Alle genannten Texte sind im Neudruck als Fischer-Taschenbuch-Ausgaben erhältlich.“