Vorbemerkung für Leser aus Korea (2004)

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Korea und Deutschland haben eine gemeinsame Erfahrung: die Erfahrung, über viele Jahre hinweg ein geteiltes Land mit unterschiedlichen politischen Systemen zu sein. In Deutschland brach diese Teilung vor fünfzehn Jahren mit einer erstaunlichen und unvorhergesehenen Plötzlichkeit in sich zusammen. Von dieser Zeit handelt dieses Buch. Es dokumentiert die intellektuellen Auseinandersetzungen, die mit dem Prozess der Vereinigung beider Teile Deutschlands verbunden waren.

1990 löste die in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen prominente Schriftstellerin Christa Wolf mit ihrer Erzählung Was bleibt unter Literaturkritikern einen heftigen Streit aus, dessen Resonanz rasch über die Grenzen Deutschlands und Europas hinausreichte. Dabei ging es von Beginn an um weit mehr als um Christa Wolf: um das Verhältnis der literarischen Intellektuellen zur Macht, um die Vergleichbarkeit des zusammengebrochenen Regimes in Ostdeutschland mit dem totalitären und mörderischen Staat der Nationalsozialisten, um den „Utopieverlust“ der Linken, um den westdeutschen Umgang mit der Kultur der DDR, um die Beziehung zwischen Moral und Ästhetik und nicht zuletzt um die Frage: Was bleibt nach dem Ende der deutschen Teilung von der Literatur der ehemaligen DDR und der alten Bundesrepublik? Der Literaturstreit hatte dabei Anteil an kulturellen Umorientierungsprozessen, die mit den politischen Umbrüchen in Europa einhergingen und bis heute nicht abgeschlossen sind.

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