Oskar Schlemihl aus Helsingör

Günter Kunerts merkwürdiger Romanversuch (1967)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Ein deutscher Jüngling knöpft seine Hose auf – in durchaus prosaischer Absicht zwar, aber an einem nicht ganz alltäglichen Ort: Er steht unter einem mächtigen Portikus mit der noch entzifferbaren Inschrift „Dem deutschen Volke“. Zu sehen sei dieses Volk – lesen wir – „unten vor den Säulen, wo es zum ersten Male in seiner Geschichte selbständig handelt, wenn auch nur mit amerikanischen Zigaretten und Kartoffelsprit“.

Obwohl jener Jüngling glaubt, er befinde sich in einer „überdimensionalen Bedürfnisanstalt, die auf solche Art die Bedürfnisse des an ihrer Stirnseite namhaft gemachten Volkes befriedigt“, wird er doch „von der Ausübung dringlicher Notwendigkeit abgehalten“: Plötzlich erblickt er die vor ihm auf der Erde liegende Leiche eines erschlagenen Mannes. Und da der Jüngling mit überirdischen Fähigkeiten gesegnet ist, erkennt er sofort, was ihm sonst verborgen geblieben wäre: Der hier wenige Tage oder Wochen nach Kriegsschluß von einem Nazi ermordet wurde, ist kein anderer als sein eigener Vater, ein Jude, der in einem Versteck überleben konnte und den der Sohn, ein uneheliches Kind, nie gekannt hat.

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Aus Marcel Reich-Ranicki: Über Günter Kunert. Hg. von Thomas Anz. Marburg 2019 (weitere Informationen auf der Verlagsseite).