Robert de Montesquiou und Marcel Proust

Hochmut und Ironie im Dialog

Von Bernd-Jürgen FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd-Jürgen Fischer

»A genuine fake«
George D. Painter über Robert de Montesquiou[1]


Robert de Montesquiou-Fesenzac (1855–1921), der sich auch gern als RMF abkürzte (weshalb ich im Folgenden der Gerechtigkeit zuliebe Marcel Proust als MP abkürze), ist heute auch in Frankreich fast nur noch durch das äußerst hochmütige Porträt bekannt, das Giovanni Boldini 1897 von ihm anfertigte und auf dem er mit seinem berüchtigten Spazierstock (frz. »canne«) mit einem goldgefassten Türkis als Knauf zu sehen ist, den er bei der Auktion des Nachlasses von Edmond Goncourt erworben hatte und der zuvor Ludwig XV. gehört haben sollte (Jullian, S. 190)[2] – bei Montesquiou musste eben noch das kleinste Detail mit einer Geschichte verknüpft sein, sonst war es seiner nicht würdig. In diesem Fall allerdings dürfte er nicht mit allen Geschichten glücklich gewesen sein, die sich um das Stöckchen rankten: So erzählte man sich, dass Montesquiou sich bei dem Brand des Wohltätigkeitsbazars am 4. Mai1897, bei dem nur sechs Herren, aber 123 Damen umkamen, mithilfe von Schlägen eben dieses Stockes auf die Häupter der fliehenden Aristokratinnen einen Weg ins Freie gebahnt habe. Montesquious (und Prousts) Intimfeind Jean Lorrain, der Montesquiou später als Graf de Muzarett in seinem Roman Monsieur de Phocas (1901) »verewigte«, schrieb am 14. Mai 1897 anlässlich der Ausstellung von Boldinis Porträt des Grafen voller Gehässigkeit in Le Journal: »Und dieser arme Monsieur de Montesquiou, den man dieses Jahr am Champs de Mars zeigt und der wie hypnotisiert wirkt von seinem Stock, diesem Stock, der …, diesem Stock, mit dem …, naja, man hat schon verstanden; dieser Stock, Keule für die lebenden und Umwender für die toten Frauen, dieser Stock von traurigem Ruhm im einstigen Gepränge männlicher Eleganz, dieser Stock der üblen Erinnerung … Armer Monsieur de Montesquiou! Einem Unglücksraben steht diese Pechsträhne gut!« Zwar ist Montesquiou dem Proust-Biographen George D. Painter zufolge am fraglichen Datum gar nicht bei dem Bazar zugegen gewesen[3], aber darauf kommt es ja in der öffentlichen Meinung nicht an:[4]

 

(1) »Am vergangenen Donnerstag (5. Juni), am Ende einer Nachmittagsgesellschaft, bei der ich ihnen mehrmals freundschaftliche Gefühle ohne Aggressionen von meiner Seite bewiesen hatte, und trotz alter Familienbeziehungen, die auf den besten Umgangsformen beruhen, was diesen Auftritt noch überraschender machte, haben sich zwei Familienmitglieder von Monsieur Henri de Régnier, deren nächstverwandter Bürge er unter den Anwesenden war (ihr Name kann den Zeugen gegeben werden), mir mit dem offensichtlichen Ziel genähert, mich ernsthaft zu belästigen, und begonnen, sich vor Zeugen in einem lebhaften und frechen Ton an mich zu wenden, um über einen Rohrstock, den ich in der Hand trug, diese Bemerkungen zu machen: – Die erste: ›Ein guter Rohrstock aus dem Basar, dem Wohltätigkeitsbasar. Um Frauen zu schlagen, ist er solide genug, man könnte es mehrfach tun.‹

Und als ich mit Empörung protestierte, insistierte die zweite dieser beiden Personen noch heftiger und sagte, dass es gefährlich sei, einen solchen Stock für einen solchen Zweck zu verwenden – weil Farbfragmente des Knaufs im Haar der Opfer gefunden wurden und als die des meinigen erkannt wurden.

– Ich protestierte weiterhin und noch heftiger und sagte, dass eine solche Handlung mir niemals zugeschrieben werden könne und dass alle Dummheit und Bosheit zusammengenommen nicht in der Lage wären, die Menschen, die über meinen Charakter informiert waren, davon zu überzeugen, dies zu tun. – Dann intervenierte Monsieur de Régnier, nicht um zu versöhnen oder zu richtigzustellen, sondern mich zu fragen, wie es denn mit dem Degen aussehe (und immer im gleichen aggressiven Ton).

– Ich antwortete, dass man einen Degen nur gegen einen Mann einsetzen sollte. – Die Gruppe hatte sich aufgelöst. Da kam Monsieur de Régnier auf mich zu und sagte zu mir in unmissverständlichen Worten, immer noch in Hinblick auf besagten Stock, dass zwei Toilettenartikel, die noch gut zu mir passen würden, ein Muff und ein Fächer wären.

– Allein der Wunsch, bei dieser Zusammenkunft keinen Skandal zu verursachen, veranlasste mich, Monsieur de Régnier um Genugtuung durch zwei Zeugen zu bitten. Also tat ich das. – Die Zeugen von Monsieur de Régnier überbrachten diese erstaunliche Antwort, dass es in seinen Bemerkungen und denen seiner Familie bei dieser Gelegenheit nichts Beleidigendes gebe, keine Unterstellung könne abscheulicher sein (abgesehen von der Frechheit seiner eigenen Vorbringungen) im Vergleich mit den Handlungen, die in den Berichten über die Katastrophe in der Rue Jean-Goujon bestimmten Rohrstöcken zugeschrieben werden.«

Für eine Kopie des Originals von Herrn Robert de Montesquiou:
Henry Houssay, Jean Béraud, Maurice Barrès

(2) Juni 1897.

Handschriftliche Version von Herrn Henri de Régnier, die den […] Protokollen [(1) und (3)] beigefügt ist:

»Beim Abschied von Mademoiselle la Baronesse de … hat man sich vor der verglasten Haustür versammelt, die auf einen Hotelgarten blickt. Ein Dienstbote, nach dem Madame la Baronesse de … geklingelt hatte, bringt einige vergessene Stöcke mit, als er das Vestibül betritt. Ich nehme meinen. Graf Robert de Montesquiou, der seinen während des Besuchs behalten hatte, steht inmitten einer Gruppe. Sein Rohrstock aus Horn, verziert mit einem Porzellanknauf, erregt die Aufmerksamkeit von Mademoiselle de X.

Mademoiselle de X: Sie haben da einen wunderschönen Stock. Wie schwer der sein muss. Das ist ein echter Bazarstock.

Mademoiselle de Z: Ja, aber die Bruchstücke wären leicht zu erkennen.

Monsieur le Comte de Montesquiou. – Würden Sie annehmen, dass ich eine Frau schlagen könnte? Bei allen Gelegenheiten weiß ich, wie ich meine Pflicht als Ehrenmann zu erfüllen habe.

Monsieur Henri de Régnier. – Man schlägt vielleicht eine Frau mit einem Degen, aber nicht mit einem Stock.

Monsieur le Comte de Montesquiou. – Ich würde nicht zögern, eine Frau zu bestrafen, die mir untreu war.

Als der Graf von Montesquiou durch die offene Tür trat, sagte er zu mir: ›Dieser Stock stammt von meinem Vater. Sie wurden in seiner Jugend auf diese Weise getragen.‹

Wir befinden uns auf einer sandigen Einfahrt.

Monsieur Henri de Régnier fährt fort: – Es ist ein bemerkenswertes Objekt. Es muss angenehm sein, so eines zu tragen.

Monsieur le Comte de Montesquiou. – Es ist bedauerlich, dass die Mode den Männern das genommen hat, was zu ihrer Zier gereichte.

Monsieur de Régnier. – Ja. Es gibt zwei Dinge, die ich gern selbst benutzen würde. Ein Fächer im Sommer und ein Muff im Winter.«

Henry de Régnier.

(3) Gemäß dem Protokoll der Begegnung vom 8. Juni 1897 fand heute in der Nähe von Paris das Duell zwischen Henri de Régnier und Graf Robert de Montesquiou statt.

In der dritten Runde erlitt Graf Robert de Montesquiou eine Verletzung der Daumenwurzel im dorsalen Bereich seiner Hand, die die Hauptader seines Daumens durchtrennte und zu starken Blutungen führte. Die Verletzung machte es Graf Robert de Montesquiou nach Ansicht der Ärzte absolut unmöglich, den Kampf fortzusetzen.

Doppelt ausgefertigt, zu Paris, am 9. Juni 1897.
Henry Houssay, de Dion, Jean Béraud, Maurice Barrès.

Graf Robert de Montesquiou wurde von Professor Pozzi ärztlich betreut; Henri de Régnier von Doktor d’Espaigne.

Proust schrieb wenige Tage nach diesem Duell, am 16. Juni, an Montesquiou (Kolb Bd. II, Nr. 119), der sich auf dem Château de Charnizay seines Vaters in Preuilly (Touraine, Dep. Indre-et-Loire) von der Helden-Arebeit erholte:

Ich hoffe, dass Sie die Luft der Touraine ganz wiederherstellen wird, und dass Sie sich beim Pflegen der altmodischen Indischen Narzissen, falls es die dort noch gibt, vollständig von diesem Kampf erholen werden, in dem Sie, wie alle Welt bestätigt, so tapfer waren.[5]

         Beim Anblick diesen Nelken, die ein Held begoss
         mit einer Hand, die sonst nur Schlachtensieg genoss,
         Denk an Apoll, der einstmals Mauern ließ erstehen,
         Und sei nicht verwundert, Mars als Gärtner nun zu sehen.[6]

Und an der Biegung der Alleen, wo sich Ihnen der Gedanke und der Traum nähern werden, werden Sie lässig innehalten um

         Diese immer grünen, schönen Blätter,
         Die hohe Namen vor dem Altern schützen,[7]

zu pflücken.

Wussten Sie schon, dass »ein weiteres, an diesem Tag zu meinen Ehren gegebenes Fest« Theoderichs[8] eigene Worte am Morgen der Schlacht von Verona waren?

Montesquious Heldenmut, mit dem er sich als Amateur dem erfahrenen Degenkämpfer de Régnier gegenüberstellte, kam nicht von Ungefähr, denn schließlich gehörte Dumas’ berühmter Musketier Charles Ogier de Batz de Castelmore (ca. 1613–1673) zu Robert de Montesquious Vorfahren, wenn auch nicht in direkter Linie, wie der Graf gern glauben machte, sondern nur angeheiratet: Charles Vater Bertrand de Batz de Castelmore hatte die Schwester Françoise de Montesquiou d’Artagnan von Robert de Montesquious direktem Vorfahren Jean de Montesquiou d’Artagnan geheiratet; Charles nahm später den Namen Montesquiou d’Artagnan seiner Mutter an, weil deren Familie bessere Verbindungen zum Hof hatte – bessere und womöglich auch ältere, denn die Linie Montesquiou d’Artagnan lässt sich zumindest im Internet bis ins 7. Jh. zurückverfolgen; freilich, was davon Interpolation ist … Jedenfalls war Proust hinreichend beeindruckt, dass er in einem Brief vom 13. März 1904 den Grafen ermahnte (Kolb Bd. IV, Nr. 44)[9]:

Auf ein Wiedersehen, cher Monsieur, und kultivieren Sie nicht in d’Artagnan eine zu kriegerische Seele. Folgen Sie eher den Lehren von Gautier[10] als denen von d’Artagnan,

wozu Proust immerhin eine gewisse Berechtigung hatte, denn auch er war ein hartgesottener Kampfhahn, der gern alle möglichen Leute zum Duell forderte und auch 1896 oder 97 ein Gott sei Dank folgenloses Duell auf Pistolen mit dem Schandmaul des Journal und gemeinsamen Feind Jean Lorrain ausfocht. Anlass für die Mahnung an Montesquiou war dessen Duell am 18. Januar 1904 mit dem professionellen Degenfechter Jean Stern (Goldmedaille Olympia 1908), der die Ehre seiner Mutter, Ernesta Stern, durch einen Artikel von Montesquiou im Cri de Paris verletzt fühlte. Madame Stern hatte einen Widerruf oder einen Waffengang gefordert. Der Figaro vom 19. Januar berichtete über das Duell, bei dem Montesquiou vier leichtere Verletzungen davontrug; sein Mut, sich diesem Gegner zu stellen, wurde allgemein bewundert. Er hatte über das erste Buch von Mme Stern, die unter dem Pseudonym Maria Star publizierte, unter der Überschrift »Stern mittlerer Größe« geschrieben: »Das erste von besagter Dame Star publizierte Buch enthält einen ganzen Abschnitt, der sich der Wahl eines Liebhabers widmet.« Proust schrieb Montesquiou dazu am 19. Januar 1904 (Kolb Bd. IV, Nr. 12):

Cher Monsieur,

Sie wissen, dass Ihre teure Existenz unverzichtbar für die Literatur Frankreichs ist, für all die Geister, die Sie durch das Buch und das Wort befruchten, wie auch die Herzen, die Sie lieben und die wie das meinige verletzt werden durch Ihre Verletzungen. Doch welche Freude, Sie ruhmvoll aus diesem Kampf hervorgehen zu sehen, in dem Sie sich hervorgetan haben, denn Sie sind in allem hervorragend, von dem man jedoch die Dichter freistellen sollte, die Dichter, deren Schlachten andere sind und die erfordern, dass sie ihr Blut schonen und mit ihren Kräften haushalten. Doch in Ihrem Fall scheint zur Stunde der Schlacht Hilfe von Ihren Ahnen herabgestiegen und Ihnen einen Zaubertrunk aus Tapferkeit und Verwegenheit verabreicht zu haben, wenn ich den Bericht richtig lese, der so beredt ist wie ein Nachruf von Bossuet (wiewohl hier glücklicherweise von keinem Begräbnis die Rede ist) auf einen Prinzen von Condé. – »Dreimal sah man diesen tapferen Prinzen …«[11] usw. All das ist großartig, dieser Mut, das lebendige Bild von diesem Turnier, das sich so stolz zu dem Porträt gesellt, das Sie von sich selbst in Les Perles Rouges gegeben haben. Doch jetzt wollen wir nicht mehr, dass Sie weiterhin Ihr Leben riskieren, und aufs Spiel setzen, in Schönheit das Leben eines Byron zu leben. Wir wollen jetzt »Ordnung und Genie« und das sichtbar nüchterne Dasein eines Einsiedlers von Port-Royal. Sagen Sie Yturri, dass ich an ihn gedacht habe, der besorgt und unglücklich gewesen sein muss, und seien Sie meiner zugeneigten Hochachtung versichert.

                                                                           Marcel Proust.

Das Selbstporträt Montesquious in  seiner Gedicht-Sammlung Les Perles Rouges über die Parkanlagen in Versailles bildet die ersten Strophe des Sonetts LXXXIX:

Wie einen Spender in die Ecke eines Triptychons,
Wie Tintoretto in sein Gemälde des heiligen Markus,
Zeichne ich mein Porträt unter die Schatten des Parks,
Sinnend und lächelnd, jung und von altem Geschlecht.

und dieses »von altem Geschlecht« ist wohl das Stichwort für Prousts Bewunderung für Montesquiou, denn wenn auch André Gides Verdikt über Proust als »Hofberichterstatter aus den Salons der Herzoginnen« der ironischen Distanz nicht gerecht wird, mit der er – nun ja, aus den Salons der Herzoginnen – berichtete, so war er eben doch der Gesellschafts-Chronist des Figaro und war als solcher auf Zugang zu den Veranstaltungen des »gratin« angewiesen. Hier nun war Montesquiou ein nicht zu unterschätzender »Sesam«, der mit dem halben europäischen Adel versippt und verschwägert war und Proust Türen öffnen konnte, an denen ein Jean Lorrain höchstens zu horchen verdammt war:

»Das ›Sesam‹ des Hauses Guermantes und all derer, bei denen es lohnt, dass sich ihre Türen weit vor Ihnen öffnen, das halte ich in der Hand. Ich werde beurteilen, wann die Stunde gekommen ist. Zurzeit sind Sie ein Katechumene. Ihre Anwesenheit dort [bei der Matinee der Madame de Villeparisis] hatte etwas Empörendes. Vor allem anderen gilt es, Anstoß zu vermeiden.« (SvZ Bd. III, S. 395)[12]

So allerdings nicht der Graf von Montesquiou-Fezensac zu Proust, sondern der Baron de Charlus zum Erzähler der Suche nach der verlorenen Zeit.

Proust hatte den »für die Literatur Frankreichs unverzichtbaren« Dichter am 23. März 1893 bei einer Soiree der Blumenmalerin und Salonnière Madeleine Lemaire kennengelernt und war von diesem offenbar zu einem Besuch eingeladen worden (Kolb Bd. I, Nr. 75):

9, Boulevard Malesherbes, Samstagabend [15. April 1893]

Monsieur,

Sie waren – an jenem Abend[13], an dem Mademoiselle Bartet[14] Ihre Verse bei Madame Lemaire[15] vorgetragen hat – so liebenswürdig, mir zu erlauben, Ihnen einen Besuch abzustatten. Aber ich wage nicht zu kommen, bevor ich nicht weiß, welche Uhrzeit Ihnen nicht ungelegen käme. Sie waren bereits am letzten Donnerstag[16] so gütig zu mir, dass Sie es vielleicht abermals sein möchten, indem Sie einen Termin festsetzen, vorzugsweise am Nachmittag,

für Ihren respektvollst ergebenen und bezauberten

Marcel Proust.

Montesquiou wohnte damals in der Erdgeschoss-Wohnung der Rue Franklin Nr. 8, deren Mietvertrag übrigens noch im selben Jahr Georges Clémenceau übernahm, und hatte sich im Garten des Hauses von dem japanischen Gärtner Wasuke Hâta[17], der bei der Weltausstellung 1889 den Garten des japanischen Pavillons gestaltet hatte, einen Bonsai-Garten anlegen lassen, der schon 1891 – nebst Montesquiou selbst und seiner Wohnung – Edmond de Goncourt beeindruckte:

 

Dienstag, 7. Juli [1891]

Besuch bei Montesquiou-Fezensac, dem Des Esseintes[18] von À Rebours.

Ein Erdgeschoss in der Rue Franklin[19], mit hohen, butzenverglasten Fenstern aus dem XVII. Jahrhundert, die dem Haus ein altertümliches Aussehen verleihen. Ein Logis angefüllt mit einem Holterpolter der verschiedensten Objekte, alten Familienporträts, schrecklichen Empire-Möbeln, japanischen Kakemonos, Radierungen von Whistler.

Ein origineller Raum: Das Badezimmer mit einer Wanne aus einem riesigen emaillierten persischen Tablett, daneben der gigantischste Wasserkocher aus gehämmertem und gestoßenem Kupfer aus Fernost, alles in Türen aus bunten Glasstreifen eingeschlossen, ein Raum, in dem Hortensien – zweifellos eine fromme Erinnerung der Familie an die Königin Hortense[20] –, Hortensien in allen Materialien und in allen Mal- und Zeichentechniken vertreten sind. Und in der Mitte dieses Badezimmers befindet sich eine kleine Glasvitrine, die die zarten Schattierungen von hundert Krawatten unter einem etwas päderastischen Foto von Larochefoucauld zeigt, dem Athleten des Zirkus Molier, in einem Trikot, das seine hübsche ephebische Gestalt zur Geltung bringt.[21]

Als ich vor einer Whistler-Radierung stehen blieb, erzählte mir Montesquiou, dass Whistler gerade zwei Porträts von ihm anfertige: Eines in einem schwarzen Anzug mit einem Pelz über dem Arm[22], das andere in einem großen grauen Mantel mit hochgestelltem Kragen und am Hals einem Nichts von einer Krawatte in einer Schattierung, einer Schattierung … welche, sagte er nicht, doch sein Auge bringt die ideale Farbe zum Ausdruck.

Und es ist sehr interessant, Montesquiou von Whistlers Malweise sprechen zu hören, für den er während eines einmonatigen Aufenthalts in London siebzehn Mal saß. Die Vorausskizze sei bei Whistler eine Attacke auf die Leinwand, ein oder zwei Stunden im Wahnsinnsfieber, aus dem die Sache dann in den Grundzügen fix und fertig herauskomme. … Dann aber Sitzungen, lange Sitzungen, in denen der Maler die meiste Zeit mit dem Pinsel dicht an der Leinwand nicht etwa den Farbtupfer anbrachte, der am Ende seines Pinsels harrte, sondern ihn, den Pinsel!, wegwarf und einen anderen nahm – manchmal brachte er in drei Stunden etwa fünfzig Tupfer auf seine Leinwand … wobei er mit jeder dieser Berührungen, seinem Ausdruck nach zu urteilen, einen Schleier von der Verhüllung der Skizze entfernte. Oh!, Sitzungen, in denen es Montesquiou schien, als nehme Whistler mit der Fixiertheit seiner Aufmerksamkeit sein Leben von ihm, pumpe etwas von seiner Individualität aus ihm heraus; und am Ende fühlte er sich so ausgesaugt, dass er so etwas wie eine Kontraktion seines ganzen Wesens verspürte und er glücklicherweise einen bestimmten Wein aus coca entdeckt habe, der ihn nach diesen schrecklichen Sitzungen wieder instand setzte!

An dieser Stelle tritt die Gräfin Greffulhe ein, und das Gespräch wendet sich der Frau von einst zu; Montesquiou spricht darüber mit dem Takt und der Anmut eines Abkömmlings einer wahrhaft alten Familie, erinnert sich der unverzagt grauen Haarbänder seiner Großmutter[23], in denen Holunderblüten so trefflich mit ihrem Alter harmonierten. Und er erzählt folgende Anekdote über diese Großmutter. Während einer Hochzeit einer ihrer Schwiegertöchter bat sie eine andere Schwiegertochter, ihr einen Mantel zu leihen, und gestand ihr, dass sie so nahe am Tod die Kosten für einen eigenen scheue. Dann aber gefiel ihr der Mantel, sie behielt ihn und sagte der Eigentümerin, dass sie als Entschädigung für die Leihgabe den kleinen Tisch nehmen könne, den ihre Schwiegertochter so schön fand. Dieser kleine Tisch sei jedoch das schönste Möbelstück des 18. Jahrhunderts gewesen, aus ziselierter Bronze, und gehöre heute der Gräfin von Beaumont.[24]

Montesquiou ist ganz und gar nicht der Des Esseintes von Huysmans. Wenn es an ihm verschrobene Seiten gibt, ist er doch nie karikaturenhaft, er schützt sich davor mit seiner Distinktion. Was seine Konversation betrifft, so ist sie, abgesehen von einer kleinen Manieriertheit im Ausdruck, voll von scharfen Beobachtungen, feinsinnigen Bemerkungen, originellen Einsichten, Trouvaillen an schönen Sätzen, und bei der es ihm oft gelingt, sie mit einem Lächeln des Auges, mit nervösen Gesten der Fingerspitzen zu beenden: Eine Konversation, in der ein gegen diesen Menschen voreingenommener Analytiker allenfalls in der etwas mysteriösen Konzentration des Sprechens ein Quentchen von der Redeweise eines intelligenten Verrückten entdecken könnte, der in den Momenten, da ihn sein Wahn verlässt, vernünftige Dinge sagt.

»Was sagen Sie, Monsieur de Goncourt, zu der Überraschung, die mir widerfahren ist?«, schleudert mir die Gräfin Greffulhe hin und erzählt uns Folgendes. Angelegentlich eines Balls, zu dem sie als Diana gehen wollte, wurde ihr von einer Diana-Büste von Houdon erzählt, die einem ihrer Nachbarn auf dem Land gehörte und nach der sie ihr Frisur würde gestalten können. Sie ging zu der besagten Büste, die sie inmitten eines mit Blumen gefüllten Raumes vorfand: Eine echte Kapelle, die der alten Ehefrau eines Pflegebedürftigen von einem Alter diente, wie es die Gräfin noch nie zuvor gesehen hatte. Zwischen der Gräfin und den alten Eheleuten werden Beziehungen aufgebaut. Die alte Frau stirbt. Die Gräfin schreibt einen Kondolenzbrief an den Ehemann und erfährt, dass er die Nacht damit verbrachte, mit ihrem Brief in der Hand auf und ab zu laufen. Die Jahre vergehen, vor Kurzem stirbt der alte Mann. Und die Gräfin erfährt, dass er ihr als Dankeschön für ihren Brief in seinem Testament die berühmte Büste vermacht habe, für die er 100.000 Francs abgelehnt hatte!

Und wir gehen um den kleinen Garten herum, den Garten wie auf der Spitze einer Festung, den Garten mit Blick auf Paris am linken Ufer und abgeschlossen mit einer Art Gewächshausbibliothek der Lieblingsbücher von Montesquiou, gleichzeitig aber auch ein kleines Museum mit Porträts ihrer Autoren, darunter mein Bruder und ich, wir stehen zwischen Baudelaire und Swinburne. Ein skurriler kleiner Garten, mit einem halben Dutzend der Eichen und Topfzedern, die er auf der japanischen Ausstellung gekauft hat, Zwergbäume, die 150 Jahre alt sind und die Größe eines Blumenkohls haben und über deren Spitzen man versucht ist mit die Hand zu streichen wie über den Rücken eines Hundes oder einer Katze.[25]

Nun also, 1893, war es an Marcel Proust, beeindruckt zu sein, was dieser auch in seinem Dankesbrief (Kolb Bd. I, Nr. 78) vom 29. April gebührend zum Ausdruck bringt:

Monsieur,

praktisch im selben Augenblick, in dem ich eine Depesche an Sie abgeschickt habe, bemerke ich, dass ich zu Ihnen zu viel und allzu sentimental (und zu wenig geistvoll, wie sie in Ihren Aufzeichnungen festhalten werden) von Ihrer Karte gesprochen und Ihnen zu wenig für Ihre Verse gedankt habe. Glauben Sie mir, dass ich mir bewußt bin, wie ungleich dieser Austausch ist und um wieviel Ihre eigenen Blumen schöner und wirklicher sind. Nie zuvor haben die vergänglichen Blumen der Gärten schöner geduftet. Was sie uns verworren erzählen und was wir so schlecht verstehen, sagen Sie mit göttlicher Klarheit, ohne doch ihr köstliches Geheimnis auszustreuen. Ihre Seele ist ein kostbarer und erlesener Garten gleich jenem, in dem Sie mir kürzlich zu spazieren gestatteten. Die großen Bäume Frankreichs fehlen darin ebensowenig wie das »für Paris hinreichend große« Stück Himmel für jedermann. Sie müssen oft auf seinem Ultramarin navigiert sein, so deutlich spiegeln Ihre Verse und Ihre Augen jene Kontinente wider, die wir niemals sehen werden. Jetzt, wo meine Dankesschuld bereinigt ist, können Sie beruhigt sein. Ich werde Sie nicht länger belästigen.

Mit dem Ausdruck äußerster Hochachtung,

Marcel Proust.

Und da auch in Frankreich doppelt genäht besser hält, dankte Proust dem Grafen für diese Gunst wenig später abermals, nun sogar mit einem Blumengebinde samt überschwenglicher Danksagungskarte (Kolb Bd. I, Nr. 76):

                                                                  [nach dem April 1893]

Monsieur,

ich wünschte, ich wüßte, wie ich Ihnen für diese – für mich so gegenwärtigen! – Augenblicke danken soll, die ich gestern verbringen durfte. Doch diese Blüten sind von einer Frische, einer Feinheit, eine kultivierten Anmut, die meine Danksagungen nicht hätten. Ich hoffe, in Ihren Augen von bescheidenem Rang zu verbleiben, da ich meine Blüten nur zum Nachteil meines Geistes zur Geltung bringen könnte. Ich habe die schwierige Aufgabe, Ihnen zu gefallen, den »einfältigen Lilien« und den fahlen Florentinischen Iris[26] überlassen, die ohne Zweifel »auf eine Rose« gepropft sind. Um mich im übrigen in Ihrer Wertschätzung zu erhöhen, vertraue ich mich den Flügeln Ihrer Fledermäuse an.[27]

Man muss bei diesem etwas peinlich devoten Stil berücksichtigen, dass Proust erst knapp 22 Jahre alt war und nur erst kleine Studien in Schülerzeitungen und in der allerdings angesehenen Revue blanche veröffentlicht hatte, während Robert de Montesquiou, zu dem Zeitpunkt bereits 38 Jahre alt, im Jahr zuvor den stark beachteten Gedichtband Les Chauves-Souris (»die Fledermäuse«) herausgebracht hatte, dessen in Zusammenarbeit mit Gallé entworfene Möbel bei Ausstellungen 1892 und 1893 bei dem Salon du Champs de Mars große Beachtung gefunden hatten und dessen zweite Gedichtsammlung Le Chef des odeurs suaves (»Der Herr der lieblichen Düfte«) sich im Erscheinen befand (im Buchhandel allerdings erst Jan. 1894 verfügbar) und für deren Übersendung Proust am 25. Juli 1893 ähnlich enthusiastisch dankte (Kolb Bd. I, Nr. 83):

                                                                  Sonntagabend [25. Juni 1893]

Monsieur,

seit heute Morgen liege ich auf dieser Sternenweide, um diesen Blütenhimmel zu bestaunen, und ich bin geblendet von all diesen Düften, berauscht von all diesem Licht, und wie die Lotophagen[28] denke ich nicht mehr an Rückkehr und wünsche auch nicht, dass es eine gebe. Ich bin zu verwirrt, um dieses Buch[29] mit den Chauves-Souris vergleichen zu können. Aber für all das, was nicht Ge­genstand des Denkens ist, denn die göttliche Vernunft, die solches erfasst, ist befreit von Zeit, Raum und Zusammenhängen, für all das, was reines Mysterium ist wie die Musik oder der Glaube, finden sich hier vor allem, wie ich meine, Verse, die es erahnen lassen und es offenbaren, indem sie es verkörpern. Nach den vierzehn wunderbarsten Versen, die Sie geschrieben haben (sie beginnen mit:

Beim Untergang der Sonne tanzen sie ihre Pavane)[30],

kommt dieses göttliche Movimento:

Pfauen erloschenen Auges, beraubt all ihrer Lichter,
Und doch umso mehr noch verehrt
Zumal von dem Dichter!

Es lässt das Herz stillstehen, man weiß nicht, warum. Auf diesem Niveau führt die Kunst ihre Erläuterung nicht mehr mit sich. In manchen Phrasen Wagners und manchen Blicken Leonardos liegt diese Sanftheit – und auch diese Verse:

… weinet mit,
Mit dem goldenen Stern, den seine Sanftmut versilbert.
[31]

Ihre venezianischen Gläser, diese Humpen von so stolzer und so trauriger Gestalt,5 weisen Farbtöne auf die, wie Michelet von den Perlen sagt[32], »das Herz delirieren lassen«[33]. Ihre Verse sind jener ge­heimnisvolle Honig, dessen Waben so süß sind wie die Strahlen des Himmels. Ich müsste Ihnen endlos danken, wenn ich Ihnen so danken wollte, wie ich glücklich bin. Aber ich muss Ihnen abschließend auch für die erhabenen Worte danken, die ich gestern von Ihnen hören durfte und die noch in der volltönenden Musik Ihrer Stimme in mir widerhallen. Seien Sie gewiss, dass Sie in mir einen aufrechten, zartfühlenden, ehrerbietigen und unbedingten Bewunderer haben.

Marcel Proust

Montesquiou dankte für alle diese Aufmerksamkeiten am 3. Juli mit der Übersendung einer – allerdings erbetenen – Fotografie,die er mit dem Zitat des ersten Verses des Gedichts Maestro in seinen Chauves-Souris signierte, »Ich bin der Herr der vergänglichen Dinge. 1893«. Im September 1893 zog Montesquiou offiziell um in den Pavillon Montesquiou an der Avenue de Paris 53 in Versailles, nahm sich aber außerdem eine Wohnung in der Rue de l’Université 80, wo er von Dezember 1895 bis April 1898 hauptsächlich wohnte und die ihm so gut gefallen zu haben schien, dass er sie 1896 in seiner dritten Gedichtsammlung, Les Hortensias bleus,mit einem Gedicht besang, das zugleich seinem Selbstdarstellungsbedürfnis Genüge tat:

Sedimente

Adeo animae hominis quaesita maxime placent.

Plinius.[34]

Meine süße Wohnung, mit Goldstickereien beblümt und verziert, kennt keine schlechten Launen;
Und wenn ich nach Hause komme, ausgelaugt und traurig, streicht sie den Balsam ihrer schlichten Zärtlichkeit auf meinen Missmut,
Wo gespannt und wie umweht
Von gedämpfter, fernher klingender Musik,
Die Seele des Universums schwerer, erzwungener Geständnisse,
Wo zögernd Edelsteine seiner Flanken, Metalle seiner Nieren,
Perlen und seltene Hölzer, Textilien aus Haaren weilen,
Die der Zeiten Entwicklung, der Stile,
dem Ausdruck aufzwingt, den Avataren abnötigt,
Möbel, Objekte, schüchtern oder mit Bunten Blicken wie diese japanischen Regenschirme,
Die im Feuerwerk von Schachtelhalm,
Pfingstrosen, Iris in dem Gänsemarsch
Der roten Mikados, der blauen Samurai triefen.
Und Fledermäuse sich unter die Krebse mischen.

Russische Pelze und arabische Stoffe,
Emaillen, persische Kupfer, Lackarbeiten mit schwachem Glanz
Die mir die Arbeit, die Kämpfe, den Schweiß
Ferner, verschwundener Handwerker bringen; – Staub,
leuchtend von den Vorlieben, Schulen, Epochen,
Den die Mode in ihrem Zug verstreut und erwählt,
Das Meer, das heranrollt, um am Fuß meines Divan zu sterben.
Und, auf dem goldenen Brokat, Sand von diesem Strand,
Münden all diese fernen Mühen in meinen Traum;
Mit dem einen und höchsten Ziel, dass mein Vers sich besser
Dem Regenbogen beuge in rosa Tönen und grünen,
Und der Schläfrigkeit meiner verdrießlichen Stunden;
Neben den Farb-Concetti bezaubern mich
Die Verläufe des Lichts, die ihr Tagesgeglitzer
Wie einen Gesangestriller an die Firste hängen,
Und mich die Folter der Rache der unersättlichen Natur,
Genießen lassen, unvollendet geblieben in ihren rudimentären
Spuren embryonaler Fakten und grober Entwürfe;
Und die nicht erfand – o ironische Wendung! –
Einen lebendigen blauen Vogel, der aus Türkisen wäre!

Die letzte Zeile, die auf ein Geschenk Prousts verweist, änderte Montesquiou übrigens für die Neuausgabe 1909 in die Zeile

Meine Schildkröte des goldenen Rückens, bestreut mit Türkis![35]

Diese Schildkröte, die Huysmans bereits 1884 in seinem Roman À rebours dem Montesquiou-Doppel des Esseintes zuschreibt, hat sich Montesquiou ja vielleicht erst daraufhin zugelegt; Goncourt scheint sie jedenfalls 1891 nicht zu Gesicht bekommen zu haben; der Korrespondent des North American hingegen erwähnt sie 1903.

Im Pavillon Montesquiou begann der mittlerweile anerkannte Dichter nunmehr, mit Vortragsabenden ein literisches Gesellschaftsleben von höchster Pracht zu entfalten, an dem Proust jedoch kaum teilnahm, da seine Gesundheit ihm dies nicht zu erlauben schien:

                                                        Samstag abend [13. Januar 1894]

Cher Monsieur,

wenn ich nicht eine Pleurodynie[36] gehabt hätte, wäre ich zu Ihnen gekommen, um Ihnen alles zu wünschen, was Sie begehren und was ich selbst auch so brennend begehre. Ich bin jetzt wieder gesund und werde demnächst nach Versailles kommen, um mich zu entschuldigen, falls Sie dem zustimmen wollen; doch noch nicht morgen, da Colonne etwas aus dem Parsifal spielt, den ich noch niemals gehört habe, etwas aus der Szene mit den Blumen-Mädchen, die ein anderer Meister[37] für mich so kostbar gemacht hat. Ich danke Ihnen unendlich, dass Sie an mich für diesen Vortragsabend gedacht haben.[38] Ich denke viel darüber nach und glaube, dass er von großem historischem Interesse sein wird, hinsichtlich der Geschichte Ihres geistigen Lebens ebenso wie hinsichtlich derjenigen der Kritik poetischer Werke in Frankreich – und ganz speziell der mündlichen Kritik. Was sein Interesse an sich angeht, so wird er für mich umso erhebender sein, als die »allmächtigen Akkorde« Ihrer Stimme und Ihres Tonfalls für mich eine wahrhaft magische Qualität aufweisen (ich würde schlicht »musikalisch« sagen in der Absicht, damit unendlich viel zu sagen, wenn dieses Adjektiv nicht schon längst seine Bedeutung verloren hätte durch die Anwendung auf die banale Stimme so vieler vermeintlicher Circes, die sie nun allerdings »in Tiere verwandelt« haben). Falls ich die Ehre haben sollte, Sie zu sehen, so würde ich – denn Sie dürfen keinesfalls der letzte sein, der es erfährt – Ihnen gestehen müssen, dass ich einen kleinen Artikel über Sie geschrieben habe. Er befindet sich zur Zeit in den Händen von Monsieur Ganderax, dem Gründer der Revue de Paris, den der Start seiner Revue derart in Anspruch nimmt, dass er noch nicht die Zeit finden konnte, ihn zu lesen und zu sagen, wo er erscheinen könnte.[39] Ich sage nicht mehr, damit noch eine Überraschung für Sie bleibt. Vom rein Äußerlichen her wissen Sie über mich nicht mehr als eine Neigung zum guten Essen, ich hoffe jedoch, dass Sie durch diese andere Weise der Bekanntschaft, wie die Lektüre sie vermittelt, entdecken werden, dass mir, wenn nicht ein tiefgreifendes Verständnis, so doch zumindest eine aufrichtige Bewunderung der schönen Dinge innewohnt. In dieser Hoffnung bitte ich Sie, zusammen mit meinen besten Wünschen für Ihren Erfolg am Mittwoch, die hochachtungsvollen Beteuerungen meiner tiefsten Ergebenheit entgegenzunehmen.

Marcel Proust.

Die herzlichsten Grüße an den köstlichen Autor der Chasse au perroquet[40] dessen Wesen so viel lebendige Anmut und Schnörkellosigkeit aufweist.

(Kolb Bd. I, Nr. 134)

Natürlich, die Pleurodynie kann man schon mal haben, aber es fällt in dem Briefwechsel zwischen Proust und Montesquiou doch auf, dass Proust gern unpässlich ist, wenn Montesquiou sich produzieren möchte; auch Montesquiou ist das aufgefallen –

                                                        Dienstag [13. Dezember 1904]

Cher Marcel,

ich veranstalte hier am Dienstag, dem 27., eine sehr schöne Lesung für ein Dutzend Teilnehmer, unter denen ich Sie zu sehen hoffe. Aber ich weise Sie darauf hin, dass Sie gegen Viertel vor 2 oder 3 spätestens da sein müssen, und bis gegen acht Uhr bleiben – auch spätestens.

Für den Fall, dass Ihre Kräfte dieser Prüfung nicht gewachsen sind, sagen Sie mir Bescheid. Ich würde es bedauern (auch für Sie). […] (Kolb Bd. IV, Nr. 211)

– und Proust der ironische Unterton in Montesquious Brief nicht entgangen:

                                                        Montag [19. Dezember 1904]

Cher Monsieur,

Ich werde diese Güte, diese Bevorzugung, diesen Ruf, diese Wahl, diese »Gnade« nicht vergessen können.[41] Auch nicht das grausame Gefühl unfreiwilliger Unbeholfenheit, die Krankheit den Gesten der Dankbarkeit entgegensetzt und aus der unverfälschtesten Begeisterung die ungeschickteste Ablehnung macht. […] (Kolb Bd. IV, Nr. 220)

Doch gelegentlich ist es Proust trotz allem gelungen, anzutreten, denn in seinem Essay »Une fête littéraire à Versailles« (in: Contre Sainte-Beuve, S. 360–365; dt. »Ein literarisches Fest in Versailles«, in: Essays, S. 72–81) für den Gaulois vom 31. Mai 1894 beschreibt Proust, welches Ansehen Montesquiou inzwischen genießt – ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie diese »Sternenweide« abgrasen, doch einen Hauch vom parfum du gratin sollten Sie doch mitnehmen:

Der Saal ist gefüllt. Und was für ein Saal! Was für ein »Tout-Paris«!

Die Gräfin Greffulhe, kostbar gekleidet: ein Kleid aus fliederrosa Seide, übersät mit Orchideen, bedeckt von Seidenmusselin im gleichen Farbton, der Hut mit Or­chideen geschmückt und ganz von lila Gaze umhüllt; Mademoiselle Geneviève de Caraman Chimay, die Grä­fin von Fitz-James, schwarzer und weißer Popeline, blauer Sonnenschirm, mit Türkisen besetzt, Jabot im Stil Ludwigs XV.; die Gräfin von Pourtalès, perlgrauer Taft, übersät mit dunklen Blüten, die Aufschläge hell, der Hut überragt von einer gelben Aigrette; der Herzog von Luynes, die Gräfin Aimery de La Rochefoucauld, Heliotrop-farbener Crêpe de Chine mit schwarzer Rüsche, Heliotrop-Hut; die Marquise von Hervey de Saint-Denis, weißer Crêpe, weißer Reisstrohhut mit weißen Federn, weißer Alpaka-Umhang mit grauer Stickerei; die Gräfin Pierre de Brissac in weiß-gelb gestreiftem Kleid, schwarzer Hut mit Rosen; die Herzogin von Gramont, die Gräfin Adhéaume de Chevigné, Madame Arthur Baignères und Monsieur Baignères, Madame Henri Baignères, die Prinzessin von Chimay, Robe aus veilchen- und mimosen-besticktem Tuch, schwarzer Hut mit heliotropfarbenen Schleifen; die Fräulein von Heredia, rosa Musselinkleid; die Gräfin Louis de Montesquieu, in Schwarz; die Vicomtesse von Kergariou, grauer Crêpe de Chine mit hortensienblauen Schleifen, schwarzer Hut mit Hortensienschleifen; die Marquise von Lubersac, Hermelinumhang über schwarzweißem Kleid; Gräfin Potocka, Madame de Brantes, die Prinzessin von Wagram, die Gräfin von Brigode, die Marquise von Biencourt, die Prinzessin von Brancovan, in gestreiftem Kleid; Madame Austin Lee, die Prinzessin von Broglie, die Gräfin Jean de Montebello, die Gräfin von Périgord, silbergrau, Iris-Hut; Madame Arcos, die Marquise von Massa, die Herzogin von Albuféra, der Baron und die Baronin Denys Cochin, Monsieur Paul Deschanel, der Graf und die Gräfin von Lambertye, der Graf und die Gräfin von Ganay, der Graf von Ravignan, die Baronin von Poilly, der Graf und die Gräfin von Janzé, die Prinzessin von Poix, der Prinz von Sagan, der zusammen mit dem Grafen von Dion[42] im Dampfwagen gekommen ist; der Graf und die Gräfin von Aramon, der Graf von Saint-Phalle, der Graf von Gabriac, der Graf und die Gräfin Bertrand de Montesquiou, der Marquis von Lau, Madame Madeleine Lemaire, pflaumenblaue Bengaline[43], Pompadour-Bluse, malvenfarbener Hut; Mademoiselle (Suzette)[44] Lemaire, weißer Musselin und gelber Satin, schwarzer Hut besät mit Rosen; der Prinz von Lucinge, die Vicomtesse von Tredern, der Graf und die Gräfin von Guerne, die Gräfin von Chaponay, die Prinzessin Bibesco, die Gräfin von Kersaint, die Gräfin von Chevigné, die Gräfin von Berkheim, der Graf und die Gräfin von Chandieu, die Marquise von Lur-Saluces, der Marquis und die Marquise von Adelsward, der Mar­quis und die Marquise von Ganay, Monsieur Joubert, die Marquise von Balleroy, der Baron von Saint-Ainand, der Graf von Castellane, Monsieur Charles Ephrussi, Monsieur und Madame Jules Claretie, Monsieur und Madame Francis Magnard, Monsieur und Ma­dame Ganderax, Monsieur und Madame Gervex, Monsieur Rodenbach, Monsieur und Madame Maurice Barrès, Madame Alphonse Daudet; Monsieur und Madame Leon Daudet, Monsieur und Madame Duez, Monsieur und Madame Helleu, Madame Jeanniot, Monsieur und Madame Roger-Jourdain, Monsieur und Madame Jacques Saint-Cère, Monsieur Émile Blavet, Monsieur und Madame Adolphe Aderer, Monsieur Jean Béraud, Mademoiselle Louise Abbema, Monsieur und Madame Pozzi, Monsieur Henry Simond, die Herren Boldini, Tissot, Haraucourt, Henri de Régnier, Madame Judith Gautier, Monsieur und Madame de La Gandara, Monsieur und Madame Dubule, Monsieur Aurélien Scholl, Monsieur und Madame Detelbach, Monsieur Dieulafoy, Monsieur de Heredia, der Graf von Saussine.

Eine dezente Klingel gebietet Ruhe. Monsieur Léon Delafosse begibt sich an den Flügel […]

(CSB, S. 360–362)

Monsieur Léon Delafosse! Proust hatte den Pianisten, Komponisten und einstiges Wunderkind Léon Delafosse (1874–1951) 1893 im Salon des Grafen de Saussine kennengelernt und ihn auf seinen eigenen Wunsch hin mit Robert de Montesquiou bekannt gemacht,

                                                                  Samstag [10. Februar 1894]

Cher Monsieur,

ein junger Mann, mit dem ich mich – wie auch mit Monsieur de Saussine[45] – des öfteren über die Schönheiten Ihres Werkes unterhalten habe – Monsieur Léon Delafosse[46] – (derselbe, der die Piano-Partie in Monsieur de Saussines Fantaisie[47] über die Chauves-Souris spielen wird), hat Melodien zu Salve Malva, Kiss-Ess und Pecus[48] komponiert. Da er nicht den Vorzug hat, Sie zu kennen, hat er mich beauftragt, Sie um die Genehmigung zu ersuchen, sie zu publizieren. Nach meiner bescheidenen Meinung sind sie vorzüglich. […] (Kolb Bd. I, Nr. 139),

der den ansehnlichen Zwanzigjährigen auch sogleich unter seine Fittiche nahm

                                                        Dienstag Morgen [1. Mai 1894]

Cher Monsieur,

verzeihen Sie (es ging mir ziemlich schlecht), dass ich Ihnen nicht früher geantwortet habe. Ich glaube, Ihre wichtigen vorgesehenen Beschäftigungen und den liebenswürdigen Gedanken, der folgte, miteinander in Einklang bringen zu können, indem ich von letzterem die Erlaubnis bewahre, am Freitag gegen zwei oder drei Uhr nach Versailles zu kommen. Sie dürften schon vorher mit Léon Delafosse gearbeitet haben. […] (Kolb Bd. I, Nr. 152)

und seine Karriere in ähnlicher Weise förderte wie der Baron de Charlus die des Violinisten Morel (den Proust übrigens in Entwürfen noch als Pianisten beschreibt):

»Sie haben kürzlich die Transkription für Klavier des 15. Quartetts gespielt, was allein schon absurd genug ist, denn nichts ist weniger für Klavier geeignet. Sie ist für Leute geschrieben, denen die zu straffgespannten Saiten des großartigen Tauben in den Ohren schmerzen. Nun, gerade dieser fast grelle Mystizismus ist göttlich. Jedenfalls haben Sie sehr schlecht gespielt, Sie haben alle Tempi verändert. Man muss so etwas spielen, als würde man es komponieren: Der junge Morel, plötzlich von einer vorübergehenden Taubheit befallen und einem nichtexistenten Genie, verharrt einen Moment unbeweglich; dann spielt er, komponiert er, vom heiligen Delirium ergriffen, die ersten Takte; dann, erschöpft von solch einer Eröffnungsleistung, sinkt er zusammen, lässt eine hübsche Locke in die Stirn fallen, um Madame Verdurin eine Freude zu machen, und verschafft sich außerdem damit die Zeit, die exorbitante Menge grauer Hirnsubstanz zu erneuern, die er auf die pythische Objektivierung hatte verwenden müssen; dann, nachdem er seine Kräfte wieder gesammelt hat und von einer neuen, ganz unerhörten Inspiration gepackt wird, stürzt er sich in die erhabene, unvergängliche Phrase, die der Berliner Virtuose« (wir vermuten, dass Monsieur de Charlus damit Mendelssohn meinte) »unermüdlich nachahmen sollte. In dieser Weise, nur wirklich übersinnlich und beseelend, werde ich Sie in Paris spielen lassen.« Wenn Monsieur de Charlus ihm Ratschläge dieser Art gab, war Morel darüber viel mehr erschreckt, als wenn der Oberkellner seine Rosen und seine verschmähte »cup« wegtrug, denn er fragte sich angstvoll, welchen Eindruck das auf die »Klasse« machen würde. (SvZ Bd. IV, S. 565f)

Bei einem solchen Ratgeber muss es unweigerlich zum Zerwürfnis kommen, insbesondere, wenn er wie Montesquiou berühmt für seine Neigung ist, Fehdehandschuhe aufzunehmen –

                                                                [Kurz vor dem 21. März 1912][49]

Sie waren es, der mir geschrieben hat, Sie haben es vielleicht vergessen, ich war es nicht: »Sie erheben sich über die Feindschaft, wie die Möwe über den Sturm, und Sie würden es nicht ertragen, dieser Auftriebskraft beraubt zu werden«[50].

Für Marcel Proust, im Bett zu lesen (oder aufrecht zu schlafen). (RMF an MP, Kolb Bd. XI, Nr. 27)

– und so wurde Delafosse, der seit drei Jahren bei allen künstlerischen Veranstaltungen Montesquious gespielt hatte, im Sommer 1897 im Zusammenhang mit einem von Montesquiou veranstalteten Konzert in Sankt-Moritz aus unbekannten, sicherlich aber nichtigen Gründen zur persona non grata:

                                                        Mittwoch [16. Juni 1897]

Ich glaube, das zerbrochene Ei ist Delafosse. In diesem Fall »ist dies ein Gericht, das ehrlich gesagt nicht ganz nach meinem Geschmack ist.«[51] (MP an RMF, Kolb Bd. II, Nr. 119)

Man merkt, Proust kannte sich aus, denn 1895 hatte auch ihn der Blitzstrahl getroffen:

                                                                  [Freitag, 13. Dezember 1895]

[…] Was die Rolle eines Handelsvertreters Ihres Geistes anbetrifft, dessen er gar nicht bedarf, so habe ich diese längst aufgegeben, und sie wieder aufzunehmen ist das Einzige, was ich nicht tun würde, um Ihnen ein Vergnügen zu bereiten. Tatsächlich rhythmisierten sich zweifellos durch jenen Effekt, der den Körper mit der Seele mitreißt, die Stimme und der Akzent entsprechend der Lockung dieses geliehenen Denkens. Wenn man Ihnen mehr gesagt hat, wenn man gar von Karikatur gesprochen hat, rufe ich Ihr Axiom in Erinnerung: »Eine hinterbrachte Äußerung ist niemals wahr.«[52] (Kolb Bd. I, Nr. 296)

Was war geschehen? Proust hatte am Vorabend bei einem Diner bei den Daudets für für Adeline und Marthe Allard und noch anschließend in der Kutsche für Albert Flament Montesquiou nachgeäfft, »wobei er mit Virtuosität die durchdringenden Schreie des Monsieur de Montesquiou ausstieß« (Albert Flament: Le Bal du Pré-Catelan, 13. Aufl.: Fayard 1946, S. 39–42). Die »hinterbrachte Äußerung« führt auf direktem Wege zu dem Strafgericht, das Charlus über den verdutzten Erzähler niedergehen lässt und von dem man nur hoffen kann, dass Montesquiou ein wenig mehr Mäßigung an den Tag gelegt hat:

»Und wer sagt Ihnen, dass ich beleidigt sei?« rief er zornbebend und richtete sich heftig in seiner Chaiselongue empor, auf der er bis dahin unbeweglich verharrt hatte, während sich die fahlen, schaumigen Schlangen in seinem Gesicht wanden und seine Stimme abwechselnd grell und dumpf wurde wie ein ohrenbetäubender, entfesselter Sturm. (Die Lautstärke, mit der er für gewöhnlich sprach und die Unbekannte auf der Straße veranlasste, sich umzudrehen, war verhundertfacht, wie ein forte, wenn es nicht auf dem Klavier gespielt wird, sondern vom Orchester, und zudem zum fortissimo geworden. Monsieur de Charlus tobte.) »Ja glauben Sie denn, Sie seien in der Lage, mich zu beleidigen? Wissen Sie immer noch nicht, mit wem Sie reden? Glauben Sie, der vergiftete Speichel von fünfhundert Männeken Ihres Schlages könnte, selbst man sie aufeinanderstapelt, auch nur meine erhabenen Zehen besudeln?« Seit ein paar Minuten war mein Wunsch, Monsieur de Charlus davon zu überzeugen, dass ich niemals Schlechtes über ihn gesagt oder gehört hatte, einer rasenden Wut gewichen, verursacht durch die Worte, die ihm, nach meiner Einschätzung, einzig sein ungeheurer Dünkel diktierte. Vielleicht gingen sie wenigstens zum Teil wirklich auf diesen Dünkel zurück. Doch fast der ganze Rest entsprang einem Gefühl, von dem ich noch nichts wusste, so dass man mir keinen Vorwurf machen kann, wenn ich es nicht in Betracht zog. Hätte ich mich an die Worte der Madame de Guermantes erinnert, so hätte ich statt dieses unbekannten Gefühls dem Dünkel wenigstens ein bisschen Verrücktheit beimischen können. Doch in diesem Augenblick kam mir der Gedanke an Verrücktheit nicht einmal in den Sinn. In Charlus war nach meinem Eindruck nichts als Dünkel, und in mir war nichts als Wut. Diese Wut war (in jenem Augenblick, in dem Monsieur de Charlus aufhörte zu toben, um mit einer Hochherrlichkeit, die von einer Brechreiz-Grimasse aus Ekel vor seinen obskuren Verleumdern begleitet war, von seinen erhabenen Zehen zu sprechen) nicht mehr zu bändigen. In einem plötzlichen Impuls wollte ich auf irgendetwas einschlagen, und da mich ein Rest von Besinnung von einem Mann zurückhielt, der so viel älter war als ich, und sogar, wegen seines künstlerischen Rangs, von dem Dresdner Porzellan, das um ihn herum stand, stürzte ich mich auf den neuen Zylinderhut des Barons, warf ihn zu Boden, trampelte auf ihm herum, ließ nicht ab, bis er völlig kaputt war, fetzte das Futter heraus, riss die Krone entzwei, ohne auf das Gegeifer von Monsieur de Charlus zu hören, das immer weiterging, durchquerte den Raum, um fortzugehen, und öffnete die Tür. […] »Monsieur«, sagte ich und entfernte mich, »Sie beleidigen mich, ich bin wehrlos, weil Sie sehr viel älter sind als ich, das ist ein ungleicher Kampf; andererseits kann ich Sie nicht überzeugen, ich habe Ihnen geschworen, dass ich nichts gesagt habe.« – »Lüge ich also!« rief er in furchterregendem Ton und machte einen solchen Satz auf mich zu, dass er nur noch zwei Schritte vor mir stand. – »Man hat Sie getäuscht.« Mit nunmehr sanfter, liebevoller, schwermütiger Stimme,wie in Symphonien, die ohne Pausen zwischen den Sätzen gespielt werden und in denen ein anmutiges, liebenswürdiges, idyllisches Scherzo demDonnerschlag des ersten Satzesfolgt: »Das ist gut möglich«, sagte er. »Im Prinzip ist eine hinterbrachte Äußerung selten wahr. […]« (SvZ Bd. III, S. 748f).

wobei im Falle des real existierenden Proust die Begnadigung überraschend schnell erfolgte: Montesquiou schickte ihm einen Neujahrsgruß, der ihn aufatmen ließ:

                                                                           [31. Dezember 1895]

Mon cher Maître,

dank diesem Geschenk, mit dem sich ein gewöhnlicher Scherz wieder auf die Höhe des verfeinerten Geistes bringt, der sich aus ihr niederbeugt, wird mein Neujahrstag nicht weniger geadelt sein als es, durch Ihre exquisite Weihnacht[53] zu drei Stimmen und Weiteres, meine Weihnacht gewesen ist. (MP an RMF, Kolb Bd. I, Nr. 300),

doch damit war die Sache höchstens vergeben, aber nicht vergessen: Noch 1921 prangert Montesquiou im Kapitel »L‘Enfant Gâté« (›Das verwöhnte Kind‹) von Les Délices de Capharnaüm (1921), S. 129f, »diese armselige äffische Simulation« an,

die zur Reproduktion von Intonationen, zum Nachahmen von Körperhaltungen eingesetzt wird; eine Art von phonetischer und verbaler Karikatur, mit dieser moralischen Unterlegenheit der von unseren Komikern veröffentlichten Alben, unterstrichen durch Grimassen und Gesten, die sie den schriftlichen und mündlichen Forderungen der Achtung gegenüber den Modellen folgen lassen, der Versuch, sie in ihrer Abwesenheit herabzuwürdigen bis hin zu ihrer Verwendung als Après-Diner-Amüsement für ein Publikum, das nach diesen Mätzchen lechzt

und resümiert, dass Hello, der Autor von L’Homme, »das schlichte Urteil fällt, man müsse sie [die Imitatoren] ›an der Stirn mit einem rotglühenden Eisen brandmarken‹.«

Proust fühlte sich angesprochen:

                                                                   [Kurz nach dem 7. Juni 1921]

Cher Monsieur,

ein schrecklicher Gesundheitszustand (und nicht die Undankbarkeit!) war Schuld daran, dass sich mein Dank für Ihren schönen Brief verzögerte (in dem Floris’ Name fehlt)[54]. Es ist im Übrigen ganz natürlich, dass Sie diesen Namen nicht preisgeben. Seit ich Ihnen geschrieben habe, habe ich diesen Floris noch einmal gelesen und kann Ihnen gar nicht sagen, wie berührt, bewegt ich war von dieser mysteriösen und tiefen Erzählung. Wenn es »meine Angelegenheit« wäre, so würde ich Ihnen nur eines vorwerfen: Nämlich gesagt zu haben, dass das arme Kind sich in seinem Wert oder zumindest in einigen seiner Begabungen geirrt hat. Er scheint aus seinem Grab heraus um Bewunderung für Sie zu bitten, sei sie auch erlogen. Das würde der Geschichte mehr Schönheit verleihen, indem es den Eindruck beseitigt, Sie wollten die berechtigte Bewunderung zur Schau stellen, die Sie in ihm hervorrufen. Wenn ich weniger krank bin, werde ich Ihnen besser erzählen können, wie ich mich gefühlt habe, als ich diese erstaunlichen Bücher las. Das Einzige, was mich stört, ist der Kontrast, den Sie zwischen den glühenden Briefen und den »Äffereien« anprangern, bei denen ich nicht anders kann, als ein wenig des ungerechten Vorwurfs auf mich zu nehmen, denn ich war die Erste, auch wenn ich dieses Talent und diese Gewohnheit längst verloren habe, die Wendungen Ihrer Sprache und den Akzent Ihrer Stimme – ganz unvollkommen – nachzuahmen. Seit zehn Jahren habe ich nun diese Imitationen nicht mehr gemacht. Sie verdienten weder Hellos Zorn noch das Attribut äffisch.[55] Sie werden mir antworten: »Wer auch immer in meinen Portraits enthalten ist, wird sich wiedererkannt haben«, etc. Aber ja, ich habe mich wiedererkannt, aber beurteile nicht so wie Sie, was mir in meiner Jugend und auch in den letzten Jahren noch erschien, als gebe es der Bewunderung eine lebendige und fröhliche Form, die Ergebenheit nicht ausschloss. […] (Kolb Bd. XX, Nr. 181)

Doch um auf de Charlus’ Wutanfall zurückzukommen, so entsprang vielleicht »fast der ganze Rest einem Gefühl, von dem ich [der Erzähler] noch nichts wusste«, mit dem Proust jedoch bestens vertraut war und mit dem der Leser der SvZ zumindest Bekanntschaft geschlossen hat. Montesquiou lebte seit 1885 mit seinem »Sekretär« Gabriel »de« Yturri (1860–1905) zusammen, den er dem Baron de Doazan, einem weiteren, schwächeren Vorbild für den Baron de Charlus, ausgespannt hatte; Doazan wiederum hatte den 1860 in Argentinien geborenen angeblichen Peruaner als Krawattenverkäufer in einem Pariser Herrenbekleidungsgeschäft kennengelernt. Yturri starb 1905 nach längerem Leiden an Diabetes. Montesquiou gab 1907 ein Gedenkalbum mit Zeugnissen zu Yturris Leben in einer Auflage von 100 Stück heraus, Le Chancelier de fleurs; douze stations d’amitié.

Was Montesquiou veranlasst hat, seinen »Pavillon Montesquiou« in Versailles aufzugeben, den er doch nur fünf Jahre zuvor eingeweiht hatte, ist nicht ganz klar – womöglich waren ja auch andere Literaturliebhaber als nur Proust den langen Anfahrtsweg leid –, jedenfalls bezog er 1899 im Pariser Vorort Neuilly den »Pavillon des Muses« am Boulevard Maillot 96 und (rückseitig) Rue Charles-Laffitte 95, nicht aber, ohne sich zuvor die Räume von dem bekannten Ebenisten Georges Hœntschel (1855–1915) täfeln, parkettieren und möblieren zu lassen.[56] Das kostet natürlich. Und darum ist das Gerücht, Montesquiou habe seine Amerika-Tournee 1903 nur des Geldes wegen unternommen (so zum Beispiel E. de Clermont-Tonnerre, S. 90), vielleicht nicht ganz aus der Luft gegriffen, obwohl er ja andererseits noch das Stammschloss Artagnan in den Pyrenäen besaß und sich schon 1908 das »Palais rose« bei Versailles für eine Summe leisten konnte, mit der er gern prahlte … womöglich war er einfach nur neugierig auf eine »neue« Welt – und: Diese neue Welt war auch neugierig auf ihn, »den schönsten Mann Frankreichs« (so eine Schlagzeile)[57], der versprochen hatte, »Kunstverstand in den stumpfen amerikanischen Geist einzupflanzen« (Telegraph, 18. Jan. 1903)! Er wurde dann auch allen Erwartungen gerecht: »In zahnstochergelben Schuhen, den gelbesten Schuhen, die sich diesseits des Atlantiks je blicken ließen« (Sun, 18. Januar 1903) erschien er am 17. Januar 1903 in New York in Begleitung von über 30 Koffern und von Yturri, der den schlimmsten Erwartungen noch Nahrung verschaffte, als er während eines Interviews mit der Evening World Montesquiou mit Blüten bewarf und purpurne Muffs daraufhin prüfte, ob sie zu seinen lavendelfarbenen Handschuhen passen würden.

Doch obwohl Montesquiou kein Englisch sprach und sein Image als effeminierter décadent in krassem Gegensatz zum Macher-Idol der Roosevelt-Zeit stand, wurden seine jeweils sieben thematisch differenzierten Vorträge (u. a. »Das Geheimnis«, »Reisen«, »Geschichte«, »Der Garten«, »Die Schmuckschatulle«) in New York (im glanzvollen »Sherry’s«) zu einem grandiosen Erfolg, nicht zuletzt, weil die für den amerikanischen Markt zuständige, erfolgreiche und umtriebige französische Literaturagentin Elisabeth Marbury ihm in den USA den Weg ebnete und der Pariser Korrespondent Percy Mitchell des New York Herald die Tournee des »brillianten Literatur-Missionars« »von aristokratischer Haltung und künstlerischer Empfindsamkeit« schon am 27. Dezember dem amerikanischen Publikum mit einem längeren und sehr schmeichelhaften Artikel schmackhaft gemacht hatte. Auch diskret fallengelassene Hinweise auf den »He-man«-Urahn d’Artagnan verfehlten nicht ihre Wirkung. Dummerweise war ihm aber auch die Saga von seinem Spazierstock (engl. »cane«) und dessen angeblichem Gebrauch vorausgeeilt. – In Philadelphia dann war allerdings der Philadelphia Inquirer rundum enttäuscht: Bei dem Grafen reiche es »in Sachen skurril nicht einmal fürs Variété«, der im übrigen »nur halb so interessant wie seine Karikaturen« sei (7. März 1903).

Abb. 4
»Ein modebewusster Vortragsredner – Robert de Montesquiou in Amerika«, wie Sem ihn sah. – Vorn rechts: »That is the cakewalk« (ursprünglich Tänze, in denen  Schwarze das Auftreten von Weißen parodierten). Dahinter stehend Yturri mit dem Ausruf »Prodigieux«. Vor ihm Boni de Castellane, der sich unabhängig von Montesquiou zur selben Zeit in New York aufhielt.

Zu Hause wurde Montesquiou derweilen sehnsüchtig erwartet –

                                                                  [Freitag, 10. April 1903]

Cher Monsieur,

mit Freuden habe ich erfahren, dass die Wellen uns endlich die Barke herbeigeführt haben, die Virgil trug.[58] Aber nein; welches Vergnügen auch immer eine hingebungsvolle, »von den Göttern gestiftete« Freundschaft an solchen Vergleichen mit einem anderen Dichter finden mag, so ist es doch vor allem die Apostelgeschichte[59], sind es diese streitgerüsteten Boote, die die Meere durchpflügten um wie sie allein unter Zeichen des Heiligen Geistes zu siegen, dessen »nicht nur pythisches, sondern christliches Orakel« Sie sind, woran Ihre schöne Reise als Bekehrer durch den Geist (denn es gibt die Taufe durch das Wasser und die Taufe durch den Geist) denken lässt, auf der sich Ihr schöner Eifer zu siegen und zu überzeugen ergossen haben dürfte. Welche Freude hätte es mir bereitet, Sie sagen zu hören: »Dort war ich und erlebte dies und das«[60], während Sie darauf warteten, diese heiteren »Bostonnerien« im Geiste des Parcours du Rêve au Souvenir[61] oder ernsthaftere Studien vorzutragen.

Aber ich hatte nur den »Gesang der Rückkehr«[62] anstimmen wollen und Ihnen meine Freude über den Gedanken ausdrücken, dass diese für Ihre ganze Schrift-Moral und für die bekehrten Völker so notwendige Reise für Ihre zurückgelassenen und ungeduldigen Freunde ein Ende genommen hat.

Ihr hochachtungsvoller

                                                                           Marcel Proust.

Grüße an den Timotheus[63], Markus oder Barnabas[64], will sagen Yturri, der Sie begleitete wie diese einst den heiligen Paulus (Kolb Bd. III, Nr. 162)

– und beging seine Rückkehr (9. April 1903) mit einem literarischen Fest in Neuilly, das Proust ausführlich in der Sprache Saint-Simons in einem Artikel für den Figaro beschrieb, der ausgerechnet am 18. Januar 1904 erschien, ebendem Tag, an dem Montesquiou sein Duell mit Jean Stern ausfocht:

Einige Tage später bat mich Montesquiou in sein Haus in Neuilly, nahe dem des Herzogs von Orléans, den er mich kennenlernen lassen wollte. Ich war dort mit den Herzögen von Luynes, Noailles, Lorges, Gramont, den Herzoginnen von La Rochefoucauld und von Rohan. Er war ein Sohn von T. de Montesquiou[65], der mit meinem Vater gut bekannt war und von dem ich an entsprechender Stelle sprach, und der geistreichste Mann, den ich je kannte, mit einem fürstlichen Auftreten wie kein anderer, von edelster Gestalt, manchmal lächelnd und manchmal sehr ernst, mit vierzig Jahren das Aussehen eines Mannes von zwanzig, der schlanke Körper, und das ist noch zu wenig gesagt, hoch aufgerichtet und wie rückwärts gebeugt, der sich aber auch, wenn ihm danach war, in großer Freundlichkeit und Hochachtungsbezeugungen aller Art verbeugte, aber schnell zu seiner natürlichen Position zurückkehrte, die ganz und gar aus Stolz, Hochmut und der Entschlossenheit bestand, sich vor niemandem zu beugen und in nichts nachzugeben, geradeaus zu gehen, ohne sich um freien Durchgang zu kümmern, Leute beiseite zu drängeln, ohne sie anscheinend zu sehen, oder, wenn er sie ärgern wollte, zeigend, dass er sie sah, der mit großer Geschäftigkeit auf dem Weg war, immer umgeben von Menschen höchster Herkunft und höchsten Geistes, vor denen er sich manchmal rechts und links verbeugte, ihnen aber meistens, wie man so sagt, nicht auf ihre Rechnung kommen ließ, ohne sie zu sehen, die Augen geradeaus gerichtet, sehr laut und sehr gut zu denen aus seinem vertrauten Kreis sprechend, die über all die lustigen Dinge, die er sagte, laut lachten, und das aus gutem Grund, wie ich schon sagte, weil er geistig weit über das hinaus war, was man sich vorstellen kann. Er verband mit diesem ernsthaftesten, merkwürdigsten, brillantesten Geist eine ihm ganz eigene Anmut, die alle, die sich ihm näherten, versuchten, oft ohne es zu wollen und manchmal sogar ohne es zu ahnen, zu kopieren und zu übernehmen, aber ohne Erfolg zu haben oder es weiter zu bringen, als in ihren Gedanken, in ihren Reden und fast auch im Schriftduktus und im Stimmklang, die beide bei ihm ganz einzigartig und sehr schön waren, einen Abglanz von ihm aufscheinen zu lassen, in dem man ihn sogleich erkannte und der durch seine hauchdünne und unauslöschliche Oberfläche zeigte, dass es ebenso schwierig war, ihn nicht nachzuahmen, wie, darin Erfolg zu haben. […] (CSB, S. 710f.)[66]

Die meisterliche Mischung aus Bewunderung und Ironie ist wohl deshalb Montesquiou erst recht spät aufgegangen, denn den allfälligen Nasenstüber erhält Proust erst am 21. oder 22. November 1904:

[…] Doch bitte (und das ist das Wahrhaftigste …), Sie glauben, den Schlüssel zu allen meinen stimmlichen Geheimnissen in der Hand zu halten. Lassen Sie mich Sie von diesem Irrtum befreien, oder Sie zumindest zu der Einsicht bringen, dass diesen phonetischen Nachahmungen immer ein gewisses Etwas fehlt …[67] Ein Wahn, der mir vielleicht ein wenig Hoffnung gibt, Sie wiederzusehen! (Kolb Bd. IV, Nr. 187)

Auf das Thema »Nachahmung« reagiert der Graf noch immer allergisch! Vielleicht hat Proust deshalb in seiner wundervollen Eloge Ein Lehrer des Schönen[68] von 1905 auf Montesquiou, in der er ihn nicht etwa als einen Nachahmer Ruskins charakterisiert, sondern als einen zweiten Ruskin, die Ironie besser versteckt:

Schon hat Monsieur de Montesquiou Ihnen die Akelei benannt und Sie darauf hingewiesen, wie naturgetreu sie gemalt sei. In der gleichen Weise benannte Ruskin noch in der vagesten, simplifizierten floralen Darstellung einer Manuskript-Illumination des 16. Jahrhunderts sogleich den Rotdorn und die Polygala alpina,[69] in einem von Collins’ Gemälden einen prächtigen Alisma plantago[70], und in Hunts The Hireling Shepherd eine nicht weniger genaue Geranie, von der Monsieur de la Sizeranne (La Peinture anglaise contemporaine, S. 262) uns sagt, dass es sich Monsieur Chesneau zufolge um eine Geranie Robertianum[71] handle, der man wahrhaftig keinen glücklicheren Beinamen hätte geben können. (CSB, S. 515)

In gleicher Weise? Schon viele Ruskin- und Pflanzen-Kenner, und Proust darf man zweifellos zu beiden zählen, haben sich gefragt, wo der prächtige gemeine Froschlöffel (Alisma plantago) denn wohl stecken mag? Und inzwischen ist auch wissenschaftlich erwiesen[72], was offensichtlich ist: Er ist nicht da! Freilich, vielleicht ist auch die Ironie gar nicht da, die ich inzwischen ständig bei Proust auf der Lauer liegen sehe – Montesquiou jedenfalls hat sie ganz offenkundig nicht gesehen, denn zum ersten Mal in der ganzen Korrespondenz mit Proust (soweit erhalten) bedankt sich der Graf, sozusagen (Kolb Bd. V, Nr. 163) –

 

                                                               

   [Erste Augusttage 1905][73]

Cher Marcel,

ist es nicht merkwürdig, dass ich mich in dem Moment, in dem Sie eine so schöne Entschuldigung, eine Apotheose meines Wortes vorbringen[74], so sprachlos und lustlos fühle, dass ich höre, was Sie sagen und was Sie über mich sagen, ohne es zu glauben und als ob ich die Geschichte eines anderen hören würde? Ich hoffe, Ihnen ein anders Mal besser für dieses Meisterwerk zu danken, und für heute bitte ich Sie um Ihre Erlaubnis, eher von Demjenigen zu sprechen, der sich an diesem »Ort der Erfrischung« erfreut hätte und Sie vielleicht dazu inspiriert hat, wo er ohne jeden Zweifel weiterhin brennt.

Was mich berührt, ist die Art und Weise, in der Sie mir davon erzählen, dass Sie mir von ihm erzählen, und nicht von mir, wie es die meisten Menschen tun, die mir von ihm erzählen, unter Bezug auf mich, anstatt von mir zu erzählen, unter Bezug auf ihn, was mich, ich sage es noch einmal, hundertmal mehr bewegt.

Er war ein wirklich schönes Wesen, eine hohe Gestalt, ein einzigartiger und unbeugsamer Charakter, eine große Seele, ein großmütiges Herz. Die wunderbare Würde, mit der er aus dem Leben trat, bot mir ein so schönes Schauspiel, dass ich mein Denken und mein Fühlen nicht von ihm lösen kann, dass es eine persönliche Demut hervorruft, wenn ich bedenke, dass ich, den er seinen Meister nannte, wahrscheinlich nicht diesen Grad der Vollkommenheit in der stillen Entsagung und im klaglosen Opfer erreicht hätte.

Ich stelle mir gerne geheimnisvolle Korrespondenzen zwischen Ihnen und ihm vor. Seine einfallsreiche Ergebenheit von jenseits des Grabes sucht und findet zweifellos ein Zuhause in den Köpfen und Herzen, was es mir ermöglicht, mich besser zu verstehen und mich lieber zu mögen. [Ende fehlt]

– denn tatsächlich geht es Montesquiou offenbar um Yturri, der am 6. Juli gestorben war.

Nach einem Abschiedsfest am 18. Juni 1909 vom »Pavillon des Muses«, an dem Proust wie gewohnt nicht teilnehmen konnte,

                                                                  [Samstag, 19. Juni 1909]

Cher Monsieur,

Ich hatte gestern so darauf gehofft, kommen zu können![75] Um elf Uhr morgens war ich aufgestanden und gebadet, wie Esther, um vor dem »höchsten König«[76] zu erscheinen. Und dann war ich so krank wie noch nie. Was für ein Tag, was für eine Nacht! (Kolb Bd. IX, Nr. 57)

zog Montesquiou in das »Palais rose« an der Allée des Fêtes Ecke Rue Diderot in Le Vésinet um, einen Vorort von Versailles, was es Proust fortan erleichterte, Ausreden zu erfinden, um sich von dem sicherlich auch wirklich bewunderten, aber auch zugleich gefürchteten Diktator der Dichtung fernzuhalten, bzw., in späteren Jahren, diesen von sich fernzuhalten. Mitte 1909 ist die Zeit, in der Proust sein Konzept gefunden hatte und sich ernstlich an sein Meisterwerk machte.

Der erste Band der Suche nach der verlorenen Zeit erschien am 14. November 1913, und zu diesem Ereignis schrieb Montesquiou einen höchst merkwürdigen Brief an Proust, denn neben der allfälligen Lobpreisung enthält er zugleich eine Kündigung der Freundschaft, beinahe, als wäre nun, nachdem der subdominante Freund mit einer großartigen Leistung hervorgetreten war, die Erkenntnis, dass die Dominanz des Grafen in der Beziehung zu Proust nicht etwa auf einer tatsächlichen Überlegenheit beruhte, sondern vielmehr auf dem Großmut, mit dem Proust ihm diese Rolle zugeschoben hatte in der realistischen Einschätzung, dass eine andere Rolle für den zu Krächen neigenden Montesquiou ganz sicherlich unerträglich sein würde, für Montesquiou gänzlich unerträglich – was dann auch Prousts Bemühen erklärt, ihn auf »Distanz bei aller Nähe« zu halten:

                                                                                     Januar [1]914

Mon cher Marcel,

Ein Gedanke, der mir recht bald kam, als ich Sie las, war, dass Sie Ihr L’Avenir de la Science[77] geschrieben haben, nämlich: ein Buch, das viele Bücher enthält[78]; und da sie alle interessant sind, ist es sowohl für den Leser als auch für den Autor von Gewinn.

Eine weitere Bemerkung ist die, dass es, wenn es während der Lektüre passiert, dass man diesen oder jenen Vorwurf an Sie richten möchte, ebenfalls passiert, dass man ihn vergisst oder sogar seine Meinung ändert und schließlich dem beistimmt, was einem zuvor missfallen hatte. Das liegt zunächst zweifellos daran, dass sich die Dinge auf ihre eigene Weise anordnen; doch dann denkt ein Leser, der diesen Namen verdient, schnell über den lächerlichen Gedanken nach, eben das zum Vorwurf zu machen, was einen so angesehenen Autor viel Überlegung gekostet hat.

Allerdings möchte ich hinzufügen, dass Ihr Roman dem Weißdornstrauch ähnelt, den Sie lieben, mit seiner Fülle an Ideen und Worten, so reichhaltig wie die gepunkteten Blütenblätter, deren Geruch Sie berauscht hat, ein zugleich lustvolles und frommes Ensemble.

Was Sie, wie mir scheint, besonders gut getroffen haben, da ich sonst nirgendwo ein weiteres Beispiel sehe, ist die großartige und rührende Leichtgläubigkeit der Kinder, wenn sie »hart wie Eisen« wörtlich nehmen, wie Ihre ausgezeichnete Françoise sich ausdrücken würde[79], die es verdient, Platz zu nehmen zwischen der Cibot[80] und Chesnel[81].

Es geschieht nicht ohne Grund, dass ich die großartige Erinnerung an Balzac heraufbeschwöre. Sie haben es durch Schöpfungen wie die Verdurins, die Coquards[82] und andere verdient, die es ihrerseits verdienten, ihren Platz unter den Menschlichen Komödianten einzunehmen, die verjüngend und verjüngt sind, deren Reihen sich öffnen, um Brüder und Kinder zu zeigen, wie wir gar nicht kannten und die ihre gute Herkunft nicht verleugnen können.

Eine Sache, die mir besonders gut gefällt und die ich für völlig neu halte, ist die Mischung von (mehr oder weniger) fiktiven Figuren mit echten.

Wie viele andere Besonderheiten wären noch herauszuarbeiten und lobend hervorzuheben! Das wäre keine »verlorene Zeit«. Ich mag Ihren Übertitel, und ich bedaure, dass nicht er auf in Großbuchstaben auf den Umschlag gedruckt wurde, wie Splendeur et Misère, zum Beispiel, über Esther Heureuse[83].

Zu Ihrem Stil (was Goncourt Ihre Handschrift genannt hätte) würde ich gern ein paar – übrigens lobende – Bemerkungen machen; aber das würde zu einer Kritik werden, und Korrespondenz hat damit nichts im Sinn. Ich würde sie lieber für mich behalten, um mit Ihren Lesern darüber zu sprechen.

Ich schließe, mein lieber Freund, mit diesen beiden charmanten und traurigen Versen:

Adieu, denn in diesem Leben, so glaube ich,
Werde ich Sie nicht mehr wiedersehen …
[84]

Die Umstände, Ihre Gesundheit, die weite Entfernung, unsere beidseitige Zurückgezogenheit, divergente Vorlieben, feindliche Beziehungen und widrige Freundschaften, all das hat uns getrennt, um nicht zu sagen entzweit.

Doch die Erinnerung an Sie bleibt bei mir, wie ein Blumenstrauß im Eis, das dafür sorgt, dass er erst an dem Tag verblasst, an dem es nicht mehr da ist. (Kolb Bd. XIII, Nr. 9)

Noch düsterer sieht es 1918 beim Erscheinen von Im Schatten junger Mädchenblüte aus und 1919 bei der Verleihung des renommierten Prix Goncourt für ebendieses Werk: beide Male tiefstes Schweigen. Nun könnte man einwenden, dass ja wahrscheinlich viele Briefe Montesquious an Proust verloren seien, da Prousts Schwägerin bekanntlich den nachgelassenen Papierkram Prousts zum Feueranmachen verwendete. Prousts Briefe an Montesquiou jedoch sind sauber gebündelt zur Auktion gelangt, und wie man aus dem erhaltenen Briefwechsel entnehmen kann, pflegte Proust sich für Briefe Montesquious zu bedanken und auch aus ihnen zu zitieren, wie um zu beweisen, dass er sie auch gelesen hat. Man kann sich also ein recht gutes Bild davon machen, wo etwas fehlt und wo einfach nichts ist. Statt einer Gratulation zum Prix Goncourt findet sich aber eine Gratulation zum Erscheinen von Pastiches et mélanges (Kolb Bd. XVIII, Nr. 239):

                                                                           Oktober [1]919

Cher Marcel,

Ihre »Pastiches« sind ein wunderbarer Erfolg, besser gesagt ein Wunder ihres Genres [der Goncourt, unter anderen, erstaunlich][85]. Ich habe weder die von La Jeunesse[86] noch die von Muller[87] (die was wert waren) gelesen, noch die eines Dritten, dessen Name mir entfallen ist, kürzlich geschlüpft und zitiert. Ich bezweifle, dass sie an Ihre heranreichen, und wenn es kein Meisterwerk ist, dann ist es nur ein Spiel. Das ist es, was es braucht: Kapitol oder Tarpejischer Fels[88]; ersteres ist für Sie.

Die Passage, die Sie mir gedankenvoller- und wohlwollenderweise gewidmet haben[89], wird durch neue Merkmale bereichert, von denen das Angenehmste eine Größe annimmt, die bis zur Erfüllung jener Billigkeit reicht, die ich über alles stelle; sie anerkennt meinen Vorrang[90] im Lob von Madame de Noailles, ein Loblied, das so lange andauern wird wie die kleine zehn Zentimeterfigur »harmlos und monströs«[91]. Es ist bereits schön, Lob zu erteilen; aber dem Lob, das reift, statt zu welken, gebührt die Palme.

Das hört sich erst einmal gut an – allerdings sind Prousts Pastiches aus dem Figaro hier nur gebündelt neu aufgelegt und stammen aus dem Jahr 1908; Montesquiou jedoch sieht sie zum ersten Mal? Etwas Nachsicht mit einem gewissen Maß an Verbitterung ist jedoch geboten (und Ende 1919 schreibt er dann ja schließlich doch noch ausführlicher zum zweiten Band der SvZ): Zum einen hatte sich Montesquiou um die Jahreswende 1917/18 vermutlich aus gesundheitlichen Gründen im Wesentlichen nach (o wunderbare Ironie des Schicksals!) Cannes [!] zurückgezogen[92], und zum anderen sank sein Stern in dem Maße, in dem Prousts aufstieg: Von dem Literatursalon-Löwen der Jahrhundertwende wollte kaum jemand mehr wissen, das Senfgas der flandrischen Schützengräben hatte dem französischen Publikum die Wohlgerüche des Maître des odeurs suaves gründlich verleidet.[93] Die Beziehung zwischen »Mentor« und »Mündel« hatte sich derart in ihr Gegenteil verkehrt, dass Proust am 18. April 1921 an den Herausgeber Jacques Boulenger der Wochenzeitschrift L‘Opinion schrieb:

Neulich habe ich Ihnen ich weiß nicht mehr welchen Mitarbeiter empfohlen. Heute denke ich, dass der beste Kunstkritiker unserer Zeit Robert de Montesquiou ist, den niemand mehr um Beiträge bittet. Eine Empfehlung, die umso selbstloser ist, als wir, nachdem ich mit ihm fünfundzwanzig Jahre ungetrübt befreundet war, was, wie mir scheint, bei einem Charakter wie dem seinigen einzigartig ist, seit einiger Zeit verkracht sind, und Gott sei Dank dafür, denn meine Gesundheit ist den Anforderungen seiner überwältigenden aber erschöpfenden Konversation nicht mehr gewachsen. (Kolb Bd. XX, Nr. 97)

Apropos fünfundzwanzig Jahre Freundschaft: Man sollte annehmen, dass Proust eine breite Spur in den dreibändigen Memoiren Les Pas effacés (etwa: verwehte Spuren) hinterlassen hätte, die Montesquiou um 1920 verfasste; doch weit gefehlt: Es wird gerade mal eine Seite (S. 186f) im zweiten Band, von der er jedoch den größten Teil wieder für sich selbst abzweigt, so dass für den Freund, mit dem er fast 400 Briefe gewechselt hatte (in Philip Kolbs Correspondance sind 298 Briefe von MP an RMF und 98 von RMF an MP enthalten), im Grunde nur zwei Sätze übrigbleiben,

Wenn der Mann, der diese Zeilen geschrieben hat, die ganze Zeit dieser Mann gewesen wäre und ein Buch mit dieser Durchdringung und diesem Stil geschrieben hätte, wäre dieses Buch ein Meisterwerk gewesen. Er wird es aber nicht schreiben, er ist immer krank, liegt zumindest stets im Bett, von Atemgeräten umgeben zur Abwehr von Asthmaanfällen; es gibt auch da auch Töpfe mit Konfitüren und auch Nachttöpfe.

Eines Tages lässt er einen wissen, dass er sich auf den Weg machen wird, um das einzig wahre Streben seiner Seele, einen etwa eine Stunde von Paris entfernt zu besuchen, zu verwirklichen; aber leider ist es ein Tag, an dem man nicht länger auf ihn warten kann, der es nicht fertigbringt, ein Fortbewegungsmittel zu finden, und sein Bedauern kennt keine Grenzen.*

denen er allerdings bei Durchsicht des Manuskripts 1921 kurz vor seinem Tod noch eine missgünstige Fussnote im dritten Band mit auf den Weg gibt (S. 200f):

* Mit einem Schlag, hier kann man das wohl sagen, gab es einen Knall wie auf der Bühne, einen Knalleffekt wie in einer Theateraufführung; aber die Umstände sind so fadenscheinig, dass ich auf sie eingehen möchte, ich möchte dies ohne Bedeutungsschwere tun, denn ich liebe denjenigen, der den Vorwand liefert, ich bewundere ihn, ich freue mich für sein Abenteuer und habe nicht vor, es irgendjemandem vorzuwerfen, ich möchte nur die Entwicklungen in seinem Fall untersuchen. Lassen Sie uns also gleich sagen, dass diesem Knalleffekt, anstatt, wie es normalerweise der Fall ist, auf unzureichender oder gar keiner Leistung zu beruhen, ein realer Wert zukam; das macht ihn außergewöhnlich und eine Prüfung wert. Was ihn übertrieben aussehen ließe, wäre der Wunsch, ihn als ein Ergebnis der Bescheidenheit, als eine violette Vergiftung darzustellen. Lassen Sie uns ein paar Unterscheidungen machen.

Wie schrieb Proust in der Flüchtigen, dem sechsten Band der SvZ?

Der Zweifel, der mir durch Aimés Worte verblieben war, nahm unserer ganzen Freundschaft in Balbec und in Doncières den Glanz, und wenn ich auch nicht an die Freundschaft glaubte, sie auch niemals wirklich für Robert empfunden hatte, musste ich mir doch, als ich wieder an diese Geschichten mit dem Lift und dem Restaurant dachte, in dem ich mit Saint-Loup und Rachel gegessen hatte, Mühe geben, die Tränen zurückzuhalten. (S. 386)

Für diejenigen aber, der noch an die Freundschaft glauben und an den Mechanismen ihrer Entstehung, ihres Bestehens und Vergehens interessiert sind, liefert der leider immer noch nicht auf Deutsch publizierte Briefwechsel zwischen Marcel Proust und Robert de Montesquiou-Fezensac ein unvergleichliches Studienmaterial.

 

Abb. 6
Der »Engel des Schweigens« über den Gräbern von Robert des Montesquiou und Gabriel d’Yturri

Anmerkungen

[1] In The New York Review of Books, 25. April 1968. – Alle Übersetzungen aus dem Französischen oder Englischen im nachfolgenden Text stammen von mir, soweit nicht anders vermerkt. – Die bibliographischen Angaben zu Werken von Montesquiou finden sich im Anhang; alle anderen bibliographischen Angaben werden hier in den Anmerkungen gegeben. – Bei französischen Ausgaben wird der Verlagsort weggelassen, wenn es sich um Paris handelt.

[2] Philippe Jullian: Robert de Montesquiou. Un prince 1900;  Perrin, 1987.

[3] Siehe George D. Painter: Marcel Proust; Suhrkamp, 1980; Bd. I, S. 327.

[4] Auszug aus Montesquious Memoiren Les Pas effacés, Bd. III, S. 207–210. Montesquiou hatte seine Memoiren bereits 1920 abgeschlossen, dann jedoch 1921 noch etliche, zum Teil sehr umfangreiche Anmerkungen hinzugefügt, die im dritten Band gesammelt sind und diesen im wesentlichen ausmachen; hier wird der Abschnitt (m) der Anmerkung (*) zu S. 10 von Bd. III wiedergegeben. Es handelt sich um (1) eine beglaubigte Kopie des Protokolls der Darstellung Montesquious vor drei der vier Sekundanten, (2) eine briefliche Stellungnahme des Gegners und (3) eine beglaubigte Kopie des Protokolls des Duells durch die je zwei Sekundanten der beiden Duellanten.

[5] Bei deinem Duell mit Henri de Régnier am 9. Juni 1897 wurde RMF in der dritten Runde an der Hand verletzt. Danach hatte er sich allem Anschein nach vorübergehend nach Preuilly (Indre-et-Loire) auf das Château de Charnisay seines Vaters zurückgezogen.

[6] Frei nach einem Gedicht von Madeleine de Scudéry, das diese an den Grand Condé schickte, als er sich in Vincennes in Gefangenschaft befand.

[7] Aus Malherbe: Ode. À la Reine sur les heureux succès de sa régence; 15. Strophe, Verse 143f. Die Ode (1611) richtet sich an die Regentin Maria de Medicis. Gemeint ist der Lorbeer.

[8] Theoderich »der Große« (Flavius Theodericus Rex, 451–526): Ostgotischer König; nach der Schlacht von Verona 490 und der am Adda 491 beherrschte Theoderich Oberitalien. In dt. Legenden und dt. Epik wurde Theoderich als Dietrich von Bern bekannt.

[9] Philip Kolb (Hrsg.): Correspondance de Marcel Proust; Plon, 1970–93. [21 Bände, den Zeitraum 1880–1922 umfassend.]

[10] Théophile Gautier (1811–1872): frz. Dichter. Auf der Website des Schlosses d’Artagnan wird ohne nähere Einzelheiten behauptet, die Empfängnis Théophile Gautiers habe dort stattgefunden (»On dit aussi que c’est ici qu’aurait été conçu Théophile Gautier«); sein Geburtsort Tarbes liegt zumindest nur 20 km entfernt. Ein solches Gerücht würde immerhin Prousts etwas überraschende Juxtaposition von Gautier und Artagnan motivieren. Mit seinen Lehren ist zweifellos das Leben der Bohème gemeint, als dessen spiritus rector man Gautier ansehen kann.

[11] Anspielung auf Bossuets Oraison funèbre de Louis de Bourbon, prince de Condé: »Dreimal bemühte sich der junge Held, diese Linie unerschrockener Kämpfer zu durchbrechen, dreimal wurde er von dem kühnen Grafen von Fontaines zurückgedrängt […].«

[12] Prousts Suche nach der verlorenen Zeit wird hier als SvZ abgekürzt. Die Stellenangaben beziehen sich auf die Übersetzung von Bernd-Jürgen Fischer bei Reclam, 2013–2016.

[13] Am Donnerstag, dem 23. März 1893, gab Madame Madeleine Lemaire eine Soiree, bei der durch Julia Bartet Gedichte von R. de Montesquiou vorgetragen wurden und bei der Proust Montesquiou kennenlernte. Proust hatte Zugang zu Mme Lemaires Salon über die Mutter, Mme Straus, seines Klassenkameraden Jacques Bizet gefunden. Philippe Jullian gibt in Robert de Montesquiou – Un prince 1900 ohne Nennung der Quelle Prousts Auftritt in einem Zitat von Mme Lemaire wieder: »Er stirbt, ja, buchstäblich, er wird sterben, denn er hätte nicht ausgehen dürfen, um Sie zu treffen, aber Sie machen ihm Angst, versprechen Sie, nett zu ihm zu sein, er ist mein kleiner zarter Page, Monsieur Marcel Proust.« (S. 171).

[14] Julia Bartet (1854–1941): Schauspielerin an der Comédie-Française.

[15] Jeanne Magdeleine Lemaire, geb. Colle (1845–1928), gen. Madeleine: anerkannte Blumenmalerin; verh. mit dem Kunstmaler Casimir Lemaire (1836–1904). Dumas d. J. sagte von ihr: »Nach Gott hat sie die meisten Rosen erschaffen«. Sie unterhielt in ihrer Wohnung in der Rue Monceau 31 einen der glänzendsten Salons in Paris, den sie im Sommer in ihr Schloss Réveillon (Dép. Marne) verlegte, wohin sie Proust und Reynaldo Hahn 1894 gemeinsam einlud, die sich bis dahin nur oberflächlich gekannt hatten. Madeleine Lemaire illustrierte Prousts Erstling Les Plaisirs et les jours (dessen ursprünglicher Titel Le Château de Réveillon lautete) und sorgte dafür, dass Anatole France ein Vorwort dazu schrieb (das sie, der Legende nach, auch gleich selbst verfasste).

[16] Der Gaulois berichtete am Freitag, dem 14. April, von einem Diner bei Madame Lemaire, nach dem mehrere Gedichte von José de Heredia und von RMF durch Mademoiselle Bartet vorgetragen wurden.

[17] Zu Hâta siehe Junji Suzuki: »Le jardinier japonais de Robert de Montesquiou – ses évocations dans les milieux littéraires« in den Cahiers Edmond et Jules de Goncourt, Jg. 2011, S. 103–112.

[18] Jean des Esseintes: Protagonist des damaligen »Kultromans« der Décadence, À rebours (1884; dt. Gegen den Strich, 1897) von Joris-Karl Huysman, als dessen Vorbild Montesquiou vielfach angesehen wurde. In seinem Gedicht über seine Wohnung (siehe unten, »Sedimente«) stellt Montesquiou selbst eine deutliche Verbindung zwischen sich und Des Esseintes her, wenn auch womöglich in ironischer Absicht. Es ist dann allerdings etwas verstörend zu lesen, wie sehr der Lebensabend von Des Esseintes dem Lebensabend von Montesquiou (immerhin deutlich nach dem Erscheinen des Buches) gleicht: Des Esseintes ruiniert seine Gesundheit, seine Neurosen prägen zunehmend sein Dasein; er siecht vergessen dahin. Barbey d’Aurevilly schrieb in seiner Besprechung im Constitutionnel vom 28. Juli 1884: »Nach einem solchen Buch bleibt dem Verfasser nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes.«

[19] Rue Franklin Nr. 8, Erdgeschoss mit Gartenzugang und einem japanischen Diener. Die »Butzenscheiben« sind heute eine karierte Glasfront. Das Haus beherbergt heute in der ersten Etage das Musée Georges Clémenceau, der dort bis zu seinem Tod 1929 wohnte.

[20] Montesquiou gibt in Les Pas effacés (Bd. II, S. 143) diesen Abschnitt wieder und kommentiert in einer Notiz die Erwähnung der Königin Hortense mit »Nicht im Geringsten.«

[21] Comte Hubert de La Rochefoucauld (1855–1936), der am Trapez und auch als Maler in Erscheinung trat. Der Acrobat von Jules Garnier wurde für Les jeux du cirque et la vie foraine von Hugues Le Roux angefertigt und stellt nur vermutlich den Grafen Hubert de La Rochefoucault dar. Der Zirkus auf dem Grundstück Ernest Moliers in der Rue Benouville beschäftigte 1880–1904 neben Tänzerinnen, Pferden und Kaninchen insgesamt 87 Aristokraten zweimal jährlich in zwei Vorstellungen vor über 300 geladenen Gästen, die eine laut Einladung für »Junggesellen, ältere Herren, Witwer und Witwen«, die andere für »Verheiratete und Unverheiratete beiderlei Geschlechts« (Ernest Molier: Cirque Molier 1880–1904; Dupont, 1904; S. 19–23).

[22] Bei dem Pelz über Montesquious linkem Unterarm handelt es sich um das Chinchilla-Cape seiner Cousine Élisabeth Greffulhe (1860–1952). – Am 3. Juli 1885 hatten sich Whistler und Montesquiou auf Vermittlung von Henry James im Londoner Reform Club kennengelernt. Wenig später bat Montesquiou den Maler, ihn zu porträtieren. Whistler sagte zu, die Porträtsitzungen fanden aber erst ab Frühling 1891 in Whistlers Pariser Atelier statt. Im folgenden Sommer war das Bild fertiggestellt, blieb aber noch für zwei Jahre im Atelier, bis es erstmals 1894 auf dem Salon du Champ-de-Mars gezeigt wurde, wo es lebhaftes Interesse bei Publikum und Fachpresse hervorrief. Als Dank für das gelungene Porträt verfasste Montesquiou 1891 ein vielstrophiges (französisches) Gedicht für Whistler mit dem (englischen) Titel »Moth« (›Motte‹; Nr. LXXXVIII in Les chauves-souris, 1892). Der Titel spielt auf den Schmetterling an, den Whistler seit 1869 als Signatur verwendete und der später bei Montesquiou zur Fledermaus metamorphosierte. – Von einem Whistler-Porträt Montesquious in grauem Mantel mit hochgestelltem Kragen ist nichts bekannt.

[23] Vermutl. ist hier die Großmutter väterlicherseits gemeint, Marie-Joséphine Elodie de Montesquiou-Fézensac (1790–1875); sie hatte drei Schwiegertöchter.

[24] Montesquiou berichtigt in Les Pas effacés (Bd. II, S. 144) »Beaumont« in »Gramont«.

[25] Edmond et Jules de Goncourt: Journal. Mémoires de la vie littéraire; Laffont, 1989 (3 Bde.); Bd. III, S.  604–606.

[26] »einfältige Lilie«: »béats« auch »selig, beseligt«. »Florentinische Iris«: Iris florentina, eine weiße Zuchtsorte der Iris germanica. Proust spielt hier offenbar auf Gespräche im Garten bei seinem Besuch RMFs an.

[27] Begleitkarte zu einem Blumengebinde für RMF.

[28] Lotophagen: Lotus-Esser, bei denen Odysseus im 9. Gesang der Odyssee unfreiwillig Station macht, weil seine Mannschaft sich nicht vom Genuß des »honigsüßen« (Voß) Lotos losreißen kann und Heimat und Rückkehr vergisst.

[29] Gemeint ist RMFs zweiter Lyrikband, Le Chef des odeurs suaves, der im Buchhandel erst im Januar 1894 erschien und sich fast ausschließlich um Blumen dreht. Im dritten Gedicht (Invite) spielt Montesquiou auf die Lotophagen-Episode der Odyssee an. – Montesquious erster Lyrik-Band, eben die Chauves-Souris, war schon 1892 erschienen; Georges Rodenbach schrieb dazu im Figaro vom 6. Juli 1892: »Ein Band von 600 Seiten. Ein Band im Elzevirformat; und einem Einband in blassblauer Seide wie ein Nocturne von Wisthler [sic], der übrigens zu den vom Autor am meisten bewunderten Künstlern zählt und gerade sein Porträt in Frack und weißer Krawatte im Lauf von sechzig Sitzungen fertiggestellt hat.« Montesquiou verkaufte das Porträt 1902 für 60.000 Frs. (»Bedürftigkeit verpflichtet Adel. […] Glückwunsch!«, bemerkte Whistler dazu (CMW 227)) an den amerikanischen Sammler Richard A. Canfield (»welche unwiderstehliche Summe wurde angenommen?«, fragte ihn Whistler (CMW 228)). [CMW: La Chauve-Souris et le Papillon. Correspondance Montesquiou-Whistler, éditée par Joy Newton; Univ. of Glasgow, 1990]

[30] Erster Vers der 4. Strophe des Gedichts Pavones in Le Chef des odeurs suaves. Gabriel Fauré unterlegte dem Chor in seiner Pavane (1887), die er RMFs Cousine Gräfin Greffulhe widmete, Verse von RMF.

[31] Ende der letzten Strophe von »Laus noctis« in Les Chauves-Souris.

[32] In La Mer (1861), im letzten Absatz des 8. Kap. des zweiten Buches (S. 175 der folio-Ausg. 1983.

[33] Zitat aus den Gedichten »Arcencielès«, »Et in pulverem« und »Santés« in Le Chef des odeurs suaves.

[34] Plinius d. Ä.: Historia naturae, 9. Buch, Nr. LIII.: »Des Menschen Seele befriedigen nur die schwerst zu erlangenden [Dinge].«

[35]  Proust hatte Montesquiou 1894 einen blauen Vogel geschenkt (s. Kolb Bd. I, Nr. 140 und Nr. 143). – Der amerikanische Journalist Percy Mitchell berichtete am 20. Dezember 1902 im New York Herald von Montesquious juwelenbesetzter Schildkröte. In Joris-Karl Huysmans Roman À rebours (1884) wird zum Sinnbild des lebenstötenden Stilwillens des Protagonisten Des Esseintes eine Riesenschildkröte, die er sich anschafft, um einen seiner Teppiche zu schmücken. Da sie ihm aber farblich doch nicht zu passen scheint, lässt er den Panzer des Tieres derart mit Gold und Edelsteinen verzieren, dass es daran stirbt. Ich konnte nicht feststellen, ob Huysmans hier Montesquiou zum Vorbild genommen hat, oder ob Montesquiou schließlich seine gängige Identifikation mit Des Esseintes angenommen hat; die Goncourts scheinen 1891 (noch) keine Schildkröte gesehen zu haben.

[36] Pleurodynie: Seitenstechen; der Kontext lässt aber Schlimmeres vermuten, etwa eine Rippenfellentzündung (Pleuritis).

[37] In seiner Gedichtsammlung Le Chef des odeurs suaves spielt Montesquiou auf Wagners Blumen-Mädchen mit den Gedichten Simples und Blumenmädchen an.

[38] Montesquiou hielt am 17. Januar 1894 im Théâtre d’Application einen Vortrag über La Poésie de Mme Desbordes-Valmore. Dem Figaro zufolge war unter den Gästen alles, was Rang und Namen hatte, insbes. Verlaine, der wenig später einen Aufsatz »À propos de Desbordes-Valmore« im Figaro veröffentlchte, in dem er Montesquiou lobend mit Valmore verglich. – Marceline Desbordes-Valmore (1786–1859), geb. in Douai: Sängerin und Schauspielerin an der Opéra-Comique und am Odéon; Autorin zahlreicher Gedichtbände. Sie wurde von Prousts Vorbildern Baudelaire, Verlaine und Rimbaud geschätzt und gilt als die bedeutendste französische Lyrikerin des 19. Jahrhunderts.

[39] Die erste Ausgabe der Revue de Paris erschien am 1. Februar 1894.

[40] »La Chasse au perroquet« (›Die Jagd nach dem Papagei‹): Der erste Essay im Kapitel Le Quatuor des masques in Montesquious Sammlung Roseaux pensants (1897). Gabriel Yturri hatte Kolb zufolge diesen Essay vermutlich als Brief redigiert.

[41] Trotz Prousts Erwartung (s. Kolb Bd. IV, Nr. 202), dass Montesquiou ihn nach der Absage der Einladung vom 7. Dezember nie wieder einladen würde, hat Montesquiou ihn doch wieder (s. Kolb Bd. IV, Nr. 211) zu einer Lesung am 27. Dezember eingeladen.

[42] Graf von Dion: Gründer der Dampfwagen- und späteren Benzinwagen-Fabrik »Dion«.

[43] Ein Mischgewebe aus Seide und Baumwolle.

[44] Im Gaulois steht irrtümlich »Mademoiselle Madeleine Lemaire«.

[45] Henri-Marie-Thérèse, Comte du Pont de Gault-Saussine (1859–1945): Komponist und Bühnenautor, mit dem Proust korrespondierte; er widmete ihm 1893 die Studie »Fächer« (dt. in: Freuden und Tage) und verfasste noch im gleichen Jahr einen bewundernden Artikel (dt. in: Essays) über seinen Roman Le Nez de Cléopâtre (s. auch Kolb Bd. I, Nr. 89). 2017 wurden von Alex Bèges die Mémoires du Comte Henri de Saussine (1859–1914) herausgegeben.

[46] Léon Delafosse (1874–1951): Komponist und Pianist. Proust stellte ihn Montesquiou vor, der ihn drei Jahre lang protegierte, bis es zu einem Bruch kam. Montesquiou widmete ihm ein Gedicht in der ersten Auflage der Hortensias bleus und die Studie »Table d’harmonie« in Roseaux pensants. In dem sehr viel späteren Essay »De l’arrivisme au muflisme« (›Vom Strebertum zur Flegelhaftigkeit‹), der 1912 in der Pierre Loti gewidmeten Essay-Sammlung Têtes d’expression (Emile-Paul) erschien, zeichnet Montesquiou (ohne ihn ausdrücklich zu nennen) ein wenig günstiges Bild seines einstigen Schützlings.– Delafosse hat zahlreiche Züge für Prousts Violinisten Charles Morel in der Suche geliehen.

[47] Diese Komposition für Piano, Gesangsquartett und Intrumentalquartett wurde am 5. Mai 1894 mit dem Komponisten am Piano in der Salle Erard aufgeführt

[48] Diese drei Lieder wurden am 22. Mai 1894 bei und von Madeleine Lemaire vorgetragen.

[49] Widmung in einem Exemplar von Montesquious Essaysammlung Brelan de Dames, das Montesquiou Proust übersandt hat.

[50] Vgl.  Kolb Bd. VII, Nr. 139. Proust hatte »Unverständnis«, nicht »Feindschaft« geschrieben.

[51] Nach Molière: Le Misanthrope, II. Akt, 4. Szene (in der dt. Übers. 5. Szene), Verse 629f: »C’est un fort méchant plat que sa sotte personne, / Et qui gâte, à mon goût, tous les repas qu’il donne« (›[Man speist gut bei ihm. – ] Seine törichte Person ist ein ziemlich übles Gericht, / das für meinen Geschmack alle Mahlzeiten, die er gibt, verdirbt.‹) Die Bemrkung deutet darauf hin, dass Delafosse bereits im Juni 1897 Montesquious und damit auch Prousts Gunst verloren hatte, obwohl er noch im Sommer bei einem von Montesquiou veranstalteten Konzert in St. Moritz auftrat.

[52] In Bd. III der SvZ legt Proust dieses »Axiom« in abgeschwächter Form Charlus in den Mund: »Eine hinterbrachte Äußerung ist selten wahr« (S. 751). – Das Gerücht, auf das sich RMF hier bezieht, dürfte die Montesquiou-Imitationen betreffen, die Albert Flament zufolge (Le Bal du Pré-Catelan, 13. Aufl.: Fayard 1946, S. 39–42) Proust bei einem Diner am 12. Dezember 1895 bei den Daudets für Adeline und Marthe Allard und noch anschließend in der Kutsche für Albert Flament zum Besten gegeben hat, wobei er »mit Virtuosität die durchdringenden Schreie des Monsieur de Montesquiou« ausstieß. RMF war offenbar nicht amüsiert.

[53] Im Gaulois vom 25. Dezember 1895 wurden auf der ersten Seite »Zwei Weihnachtsgedichte von Graf Robert de Montesquiou« veröffentlicht, nämlich »Noël à trois voix interprété par Swinburn« (›Weihnachten zu drei Stimmen, interpretiert von Swinburn‹) und »Sérénade céleste« (›Himmlische Serenade‹).

[54] In einem Brief (Kolb Bd. XX, Nr. 152) hatte Proust gefragt, wie man Floris identifizieren kann.

[55] Anspielung auf Kap. IX von Montesquious Essaysammlung Les Délices de Capharnaüm, »L‘Enfant Gâté« (›Das verwöhnte Kind‹), S. 129f, wo Montesquiou »diese armselige äffische Simulation« anprangert, »die zur Reproduktion von Intonationen, zum Nachahmen von Körperhaltungen eingesetzt wird; eine Art von phonetischer und verbaler Karikatur, mit dieser moralischen Unterlegenheit der von unseren Komikern veröffentlichten Alben unterstrichen durch Grimassen und Gesten, die sie den schriftlichen und mündlichen Forderung der Achtung gegenüber den Modellen folgen lassen, der Versuch, sie in ihrer Abwesenheit herabzuwürdigen bis hin zu ihrer Verwendung als Après-Diner Amüsement für ein Publikum, das nach diesen Mätzchen lechzt.« Ferner resümiert Montesquiou, dass Hello, der Autor von L’Homme, »das schlichte Urteil fällt, man müsse sie ›an der Stirn mit einem rotglühenden Eisen brandmarken‹ [die Imitatoren]«.

[56] Weder der Pavillon Montesquiou noch der Pavillon des Muses scheinen noch zu existieren.

[57] Ich folge hier bei der Skizzierung von Montesquious Amerika-Tournee wie auch bei den Zitaten aus amerikanischen Zeitungen dem Essay A French Dandy in New York von Timothy Verhoeven, der den noch unveröffentlichten Nachlass Montesquious samt dessen Sammlung von Zeitungsausschnitten in der Bibliothèque nationale de France einsehen konnte (NAF 15054–15061).

[58] Eine Notiz von Ferrari im Figaro vom 10. April hatte die »gestrige« Rückkehr Montesquious gemeldet.

[59] Proust spielt hier offenbar auf Montesquious Artikel »Missionaires de Lettres« an, der am 5. Dezember 1902 im Figaro erschienen war.

[60] »J’étais là telle chose m’advint«: Vers 28 der Fabel IX, 2, Les Deux Pigeon (dt. Die beiden Tauben), von La Fontaine.

[61] In Montesquious Parcours du Rêve au Souvenir (1895) finden sich »Bretonnances«, »Néerlandises«, »Suisseries«, Venezianeries« und »Londonismes«, auf die Proust hier wohl mit den »Bostonneries« anspielt.

[62] Anspielung auf Marie-Joseph Chéniers Friedenshymne »Le Chant du départ / Le Chant du retour« (1794; vertont von Étienne-Nicolas Méhul).

[63] Timotheus (»Fürchtegott«), gest. ca. 97: Statthalter Paulus’ in Ephesus, wo er die dortigen Irrlehren bekämpfen soll. Die beiden Briefe Paulus’ an Timotheus bilden einen Bestandteil des Neuen Testaments.

[64] Barnabas (»Sohn des Trostes«), gest. ca. 61: Dem Kreis der Jünger Christi nahestehender Apostel zypriotischer Herkunft, der mehrfach in den paulinischen Briefen erwähnt wird.

[65] Thierry de Montesquiou.

[66] CSB: Marcel Proust: Contre Sainte-Beuve; Gallimard 1971 (La Pléiade). –Proust arbeitete den Text 1919 für die Sammlung Pastiches et mélanges in den Pastiche »L’Affaire Lemoine: Dans les Mémoires de Saint-Simon« ein, enthalten in CSB, S. 38–59 (dt. in Nachgeahmtes).

[67] Anspielung auf Prousts Artikel Une Fête chez Montesquiou à Neuilly, in dem er schrieb: »[Montesquiou] vereinte [mit der Neigung zu Scherzen] den ernsthaftesten, einzigartigsten, funkelndsten Geist, gemeinsam mit einer ihm ganz eigenen Grazie, die alle, die ihm näher kamen, oft ohne es zu wollen und manchmal sogar ohne es zu merken, nachzuahmen und sich zu eigen zu machen versuchten, doch ohne damit zu reüssieren oder es weiter zu bringen, als in ihren Gedanken, in ihren Gesprächen, bis hin zu Schriftstil und Stimmklang, die beide bei ihm ganz einzigartig und sehr schön waren, wie ein ihm eigener Firnis, den man sofort erkennt und der sich an seiner hauchdünnen und unauslöschlichen Oberfläche zeigt, zu erkennen zu geben, dass der Versuch, ihn nicht zu imitieren, ebenso schwierig war, wie, damit Erfolg zu haben.« (Textes retrouvés, S. 192). Es handelt sich zweifellos zugleich um einen Nasenstüber für Proust, der sich ja schon früher mit Montesquiou-Imitationen bei allen außer einem beliebt gemacht hatte, und Proust hat das wohl auch ganz richtig verstanden, wie der nächste Brief zeigt.

[68] »Un professeur de beauté«, in: CSB, S. 506–520; dt. »Ein Lehrer des Schönen«, in: Marcel Proust: Essays; Suhrkamp, 1992.

[69] ich habe keine einschlägige Stelle in Ruskins Works gefunden; vermutl. hat Ruskin die Blumen aufgrund ihres christologischen Stellenwerts identifiziert, s. die nächste Anm.

[70] Charles Allston Collins: Convent Thoughts (1850/51; siehe Abb. XXX). Ruskin sagte dazu 1853 in seinen Lectures on Architecture and Painting: »Ich habe zufälligerweise eine besondere Beziehung zu der Wasserpflanze Alisma Plantago … und da ich sie noch nie so präzise und so gut gezeichnet gesehen habe, muss ich mir gestatten Sie zurechtzuweisen, wenn Sie so verallgemeinernd sagen, dass diese Leute [d. h. die Präraffaeliten] ›die Wahrheit und das Gefühl zugleich der Exzentrizität opfern.‹ Schon allein als botanische Studie der Seerose und Alisma, sowie der Gemeinen Lilie und einiger anderer Gartenblumen wäre dieses Bild für mich von unschätzbarem Wert, und ich wünschte von ganzem Herzen, es wäre mein.« (Ruskin, John: Collected Works,ed. E. T. Cook and Alexander Wedderburn. London: George Allen, 1903–1912, Bd. XII S. 321; Übers. BJF).

[71] Dt. »Ruprechtskraut«; in dem Gemälde vor der Hand des Hirten. Den »glücklichen Beinamen« Robert dürfte Proust hier zugleich auf Montesquiou wie auf de La Sizeranne beziehen.

[72] Siehe Deas, Elizabeth: »The Missing Alisma: Ruskin’s Botanical Error«, in: Journal of Pre-Raphaelite Studies, Herbst 2001: S. 4–13.

[73] Der Brief wurde in Le Chancelier de fleurs aufgenommen (S. 274f) und dort datiert.

[74] Gemeint ist Prousts Artikel »Un professeur de Beauté«, der gerade in Les Arts de la vie vom 15. August 1905 erschienen war; enthalten in Essais et articles, Bibliothèque de la Pléiade, 1971, S. 513.

[75] Proust scheint sich auf einen Empfang zu beziehen, den Montesquiou gab, bevor er den Pavillon des Muses am 18. Juni 1909 verließ.

[76] Proust bezieht sich offenbar auf die 7. Szene des zweiten Akts, in der Esther vor Ahasveros erscheint. Die Anrede als »souverain Roi« (hier: ›höchster König‹) bezieht sich jedoch auf Gott in Esthers Gebet in der 4. Szene des ersten Aktes.

[77] »Die Zukunft der Wissenschaft«, Titel eines Buches von Ernest Renan, verfasst 1848, publ. 1890.

[78] Der erste Band von Prousts Á la recherche du temps perdu, Du côté de chez Swann, der am 14. November 1913 bei Grasset erschienen war.

[79] Dieses spezielle Beispiel findet sich aber nicht im Text.

[80] Anspielung auf die Concierge und Frau des Schneiders Cibot in Balzacs Cousin Pons.

[81] Chesnel, oder Choisnel, Notar in Alençon zur Zeit Ludwigs XVIII. in Balzacs L’Envers de l’histoire contemporaine, in La Vieille Fille und in Le Cabinet des Antiques.

[82] Nach Kolbs Einschätzung (Bd. XIII, S. 44f, Anm. 8) hat Montesquiou den Namen Cottards, einer Figur in Prousts Werk, bewusst geändert, um einen Bezug auf Arthur Coquard (1846–1910), einen Musikkomponisten und Schüler von César Franck, und dessen Frau herzustellen. Was Montesquiou nicht wissen konnte ist, dass der Name »Coquard« tatsächlich im Typoskript von 1911 von Du côté de chez Swann in Partien auftaucht, die diktiert worden zu sein scheinen.

[83] Ursprünglicher Titel des ersten Teils von Splendeurs et Misères des courtisanes; späterer Titel »Comment aiment les filles«.

[84] Erste Zeilen des Sonetts »Adieu« von Alfred de Musset, in Poésies nouvelles (1850).

[85] Die eckigen Klammern markieren hier Bemerkungen an den Rändern des Briefes.

[86] Anspielung auf die 1896 unter dem Titel Les Nuits, les ennuis et les âmes de nos plus notoires contemporains (›Die Nächte, die Sorgen und Seelen unserer berühmtesten Zeitgenossen‹) von dem Theaterkritiker des Journal,Ernest-Harry Caën-La Jeunesse (1874–1917) veröffentlichte Sammlung von Pastiches. Darin ist (S. 185–290) eine Parodie auf Montesquious Stil enthalten, die vielleicht erklärt, warum Montesquiou vorgibt, das Buch nicht gelesen zu haben.

[87] Anspielung auf die unter dem Titel À la manière de … veröffentlichte Sammlung von Pastiches von Paul Reboux (siehe Kolb Bd. VI, S. 283, Anm. 2) und Charles Müller. – Paul Reboux, d. i. André Amilet (1877–1963): Herausgeber zusammen mit Fernand Gregh der Zeitschrift Les Lettres. – Charles Müller [sic] (1877–1914): Chefredakteur der Zeitschrift Les Lettres und Autor eines Vaudeville-Stücks; gefallen an der Somme.

[88] Felswand an der Südwest-Ecke des Kapitols in Rom, an der in der Antike die Todesstrafe vollzogen wurde, insbesondere an Tätern, die Meineide geleistet hatten.

[89] Anspielung auf den neuen Pastiche von Saint-Simon in Pastiches et Mélanges, wo Proust ein neues Porträt Montesquious liefert (S. 77–80).

[90] In Pastiches et Mélanges (dt. Nachgeahmtes und Vermischtes)schreibt Proust: »Montesquiou war der erste, der über ihre Verse sprach.« (S. 77).

[91] Anspielung auf eine winzige und rudimentäre Figur, auf die Ruskin im »Portal der Buchhändler« der Kathedrale von Rouen hinweist (The Seven Lamps of Architecture; London, 1911, Kap. V, §§XXII, XXIV; S. 314–319, plate XIV). Als Ruskin starb, las Proust die Seite über die kleine Statue noch einmal und wollte sie sehen. Er fuhr mit Madame Léon Yeatman nach Rouen, die auch das Glück hatte, sie zu finden. Proust schrieb dazu einen langen Kommentar in seinem Vorwort zur Bible d’Amiens, S. 71–75. Montesquiou bezieht sich auf den folgenden Teil dieses Kommentars: »[….] Und die harmlose und monströse kleine Gestalt wird entgegen aller Hoffnung aus diesem Tod auferstehen, der totaler erscheint als alle anderen und der im Verschwinden im Schoß der Unendlichkeit der Zahl und in der Nivellierung durch Ähnlichkeiten besteht, aus dem aber das Genie bald auch uns erlöst.  Wenn man sie dort findet, kann man nicht anders, als berührt zu sein. Sie scheint zu leben und zu betrachten, oder vielmehr in ihrem Blick selbst vom Tod ergriffen worden zu sein, wie die Pompejaner, deren Geste für immer unterbrochen bleibt. Und es ist ein Gedanke des Bildhauers, der hier in seiner Geste durch die Unbeweglichkeit des Steins eingefangen wurde. (Pastiches et Mélanges, S. 176; La Bible d’Amiens, S. 73.)

[92] Den Winter 1921/22 wollte er jedoch in Menton verbringen, wo er drei Wochen nach Ankunft am 11. Dezember 1921 an Urämie starb. Seine Leiche wurde nach Paris überführt und in Versailles neben dem Grab von Yturri unter dem »Engel des Schweigens« bestattet, den Montesquiou einmal auf einer Auktion erworben hatte.

[93] So war bei der Verleihung des Prix Goncourt 1919 an Proust ein großer Teil des Gremiums und der größte Teil der Presse der Auffassung, dass in Zeiten, in denen das Publikum die Erfahrungen des ersten Weltkrieges zu verarbeiten suchte, der Roman Les croix de bois (1919; dt. Die hölzernen Kreuze) von Roland Dorgelès über den Krieg in Flandern eher des Preises würdig sei als die Nöte eines verwöhnten Jünglings auf Luxusurlaub.

Bibliographie

Titel, die nicht von Robert de Montesquiou-Fezensac stammen, wurden im Text nachgewiesen. Der Erscheinungsort für alle hier genannten französischen Publikationen ist Paris.

Gedichtbände

Les Chauves-Souris, Clairs obscurs; édition privée, ornée de dessins de Whistler, Antonio de La Gandara, Jean-Louis Forain et Hōsui Yamamoto. Richard, 1892.

Le Chef des odeurs suaves, Floréal extrait. Richard, 1893 (Neuauflage 1894 mit einer Zeichnung von Breughel).

Le Parcours du rêve au souvenir. Charpentier et Fasquelle, 1895.

Les Hortensias bleus. Charpentier et Fasquelle, 1896 (Umschlagillustration von Paul César Helleu).

Les Perles rouges: 93 sonnets historiques. Charpentier et Fasquelle, 1899 (2. Auflage illustriert mit vier Stichen von Albert Besnard; enthält ein Widmungsgedicht des Verfassers an »Madame Franziska Steinitz«) [Dt.: Rote Perlen: Historische Sonette. Leipzig: Xenien-Verlag, 1912; autorisierte Übersetzung von Franziska Steinitz].

Les Paons. Charpentier et Fasquelle, 1901 (Umschlagillustration von René Lalique).

Prières de tous: huit dizaines d’un chapelet rythmique. La Maison du Livre, 1902 (illustriert mit Zeichnungen von Madeleine Lemaire).

Passiflora. Éditions de L‘Abbaye, 1907 (Umschlagillustration von Montesquiou).

Die oben genannten Bände wurden 1907 in leicht veränderter Form (Widmungen wurden gestrichen, Anspielungen in Gedichten umformuliert) als »Édition definitive« bei Richard neu herausgegeben.

Les Paroles diaprées. Cent dédicaces. Richard, 1910.

Les Paroles diaprées. Nouvelle série de dédicaces. Richard, 1912.

Les Offrandes blessées: élégies guerrières. Edward Sansot, 1915 (3. Auflage mit einem Frontispiz nach Ingres).

Nouvelles Offrandes blessées. La Maison du livre, 1915 (Frontispiz von Henri Gervex)

Offrande coloniale; composée pour le Foyer colonial. 1915 (ohne Verlagsangabe).

Sabliers et lacrymatoires: élégies guerrières et humaines. Sansot, 1917 (Frontispiz nach Auguste Rodin).

Un moment du pleur éternel: offrandes innommées. Sansot, 1919 (Frontispiz von Aubrey Beardsley)

Les Quarante Bergères: portraits satiriques. La Librairie de France, 1925 (posthum, mit einem Frontispiz von Aubrey Beardsley und Holzschnitt-Initialen von Carrera Llano-Florez).

Almanache

Calendrier Robert de Montesquiou pour 1903 (illustriert auf dem Umschlag mit einem Porträt von Montesquiou und goldenen Fledermäusen und auf jeder Seite mit einem Flug Fledermäuse in gold oder blau).

Calendrier Robert de Montesquiou 1904 (mit Zeichnungen versehen).

Essays

»Alfred Stevens«, in: Gazette des beaux-arts, Februar 1900, S. 101–118.

Alle übrigen Essays Montesquious sind in den nachfolgend genannten Essaysammlungen enthalten.

Félicité: étude sur la poésie de Marceline Desbordes-Valmore, suivie d’un essai de classification de ses motifs d’inspiration. Alphonse Lemerre, 1894 (illustriert mit einem Porträt von Marceline Valmore nach Devéria).

Roseaux pensants. Charpentier et Fasquelle, 1897.

Apollon aux lanternes. Albert Lanier, 1898.

Autels privilégiés. Charpentier et Fasquelle, 1898.

Alice et Aline, une peinture de Théodore Chassériau. Charpentier et Fasquelle, 1898.

Musée rétrospectif de la classe 90 (parfumerie, matières premières, matériel, procédés et produits) à l’Exposition universelle internationale de 1900. Belin Frères, 1900.

Pays de aromate. Henri Floury, 1900.

L’Inextricable Graveur: Rodolphe Bresdin. Richard, 1904.

Professionnelles Beautés. Félix Juven, 1905.

Altesses sérénissimes. Félix Juven, 1907.

Assemblée de notables. Félix Juven, 1908.

Saints d‘Israël. La Maison du livre, 1910.

Brelan de dames, essai d‘après trois femmes auteurs. Fontemoing et Cie, 1912.

Têtes d‘expression. Émile-Paul Frères, 1912.

Paul Helleu, peintre et graveur. Floury, 1913.

Têtes couronnées. Edward Sansot, 1916.

Majeurs et mineurs. Sansot, 1917.

Diptyque de Flandre, triptyque de France. Sansot, 1921.

Les Délices de Capharnaüm. Émile-Paul Frères, 1921.

Élus et Appelés. Émile-Paul Frères, 1921.

Le Mort remontant. Émile-Paul Frères, 1922.

Romane

La Petite Mademoiselle. Albin Michel, 1911.

La Trépidation. Émile-Paul Frères, 1922.

Biographien

Le Chancelier des fleurs: douze stations d‘amitié. La Maison du livre, 1907 (Gabriel d’Yturri).

La Divine Comtesse: étude d’après Madame de La Castiglione. Maison Goupil, 1913.

L’Agonie de Paul Verlaine (1890-1896). M. Escoffier, 1923.

Bühnenstücke

Mikhaïl. Mystère en quatre scènes, en vers, d‘après Tolstoï. 1901.

Memoiren

Les Pas effacés, en trois volumes. Émile-Paul Frères, 1923. Neuausgabe Éditions du Sandre, 2007 (diese anders paginierte Ausgabe wurde hier verwendet).

Korrespondenz

Correspondance générale de Marcel Proust, publiée par Robert Proust et Paul Brach, Vol. I: Lettres à Robert de Montesquiou. Plon, 1930.

Marcel Proust. Correspondance. Texte établi, présenté et annoté par Philip Kolb. Paris: Plon, 1970–1993 (21 Bände; darin 298 Briefe von Proust an Montesquiou, 96 von Montesquiou an Proust sowie 10 von Proust an Yturri).

Robert de Montesquiou, 1855–1921: d’un siècle à l’autre, correspondance éditée par Ralph Brauner. Vitrines d’archives, l’Association des amis des archives, 2014.