Facebook, Fake News, Faust

Gegenwärtige und zukünftige Anforderungen an und Herausforderungen für die Germanistik

Von Ricarda Julia VodermairRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ricarda Julia Vodermair

Krisen

Krisen. Krisen, wohin und in welchen Bereich man auch sieht: Finanzkrise, Schuldenkrise, Midlife-Krise – mittlerweile ergänzt durch die Quarterlife Krise –, Flüchtlingskrise, Krise der CDU/CSU. Die Krise der Germanistik, wenn es sie denn gibt, reiht sich nahtlos ein in dieses ohne Weiteres ausführbare Krisen-Asyndeton. Gibt es die Krise der Germanistik überhaupt nach einem objektiven Maßstab oder handelt es sich dabei vielmehr um das subjektive, individuelle Erleben Einzelner, beispielsweise weil das Fach nicht mehr dem entspricht, womit es lange Zeit und damit ‚klassischer Weise‘ assoziiert wurde?

Dass sich Gesellschaften im Wandel befinden, ist weder ein neues Phänomen noch eine herausragend innovative Erkenntnis. Selten betrifft ein Wandel, welcher Form auch immer, einen isolierten Bereich. Dafür ist unsere gegenwärtige Gesellschaft zu stark vernetzt, zu komplex strukturiert. Wandel bedeutet Veränderung. Aber ist Veränderung nicht immer auch Beleg für Fortschritt oder zumindest für die Erkenntnis einer bestehenden Problematik, die es zu lösen gilt? Eine Krise bezeichnet der Definition nach eine problematische, mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation. Plakativ formuliert: „Alles ist eine Frage der Perspektive.“ Meines Erachtens sollte eher von einer Krise die Rede sein, wenn Wandel und Veränderungen sich bis zum Stillstand verlangsamt haben. Um es einmal bildlich auszudrücken: Man denke an ein EKG. Solange das Herz noch stolpert, ist da Leben. Erst der Null-Ton als Ausdruck des Stillstandes bedeutet das Ende. Wenn nun von einer Krise der Germanistik die Rede ist, könnte danach gefragt werden, ob die Germanistik ein Kriseninterventionsteam benötigt. Benötigt sie das?

Die Antwort lautet: Nein! Denn ganz offensichtlich ist kein Stillstand eingetreten. Wenngleich mit der Rhetorik der ‚Krise der Germanistik‘ kein allzu verheißungsvolles Bild der Disziplin gezeichnet wird, so ist sie doch nach wie vor Gegenstand einer Diskussion. Was die Germanistik benötigt, sind Resilienz und ein Bewusstsein für gegenwärtige und zukünftige Anforderungen an und Herausforderungen für sie. Facebook, Fake News, Faust. Worin bestehen die Anforderungen und Herausforderungen gegenwärtig und zukünftig?

Facebook

Facebook. Die Lebenswirklichkeit des Menschen im 21. Jahrhundert kann anhand verschiedener Merkmale beschrieben werden, wie dies für die Lebenswirklichkeiten sämtlicher vorangegangener Jahrhunderte ebenfalls gilt. Werden diese verschiedenen Merkmale jedoch spezifiziert, so zeichnet sich ab, dass beispielsweise das Phänomen der Virtualität im Kontext des Web 2.0 ein solches darstellt, welches es so unverkennbar in vergangenen Jahrhunderten nicht zu analysieren galt – das Web 2.0 existierte schlichtweg noch nicht. Heutzutage hingegen findet ein Großteil der Existenz und Interaktion des Menschen im immateriellen Raum statt, was Konsequenzen mit sich bringt, die sowohl gesellschaftlich, als auch ästhetisch im Sinne eines Wandels betrachtet werden können. Diesbezüglich ist es meiner Meinung nach besonders wichtig, gleich zu Anfang zu betonen, dass die virtuelle Welt keine zweite Wirklichkeit darstellt und somit nicht als Gegenpol zur Realität – was immer diese auch ist – etabliert werden darf. Die virtuelle Welt ist vielmehr eine abstrakte Welt, welche existiert, jedoch in nicht-materieller Form. Sie ist, vereinfacht ausgedrückt, eine Parallelwelt, die neben der Alltagswirklichkeit funktioniert. Die sozialen Netzwerke, wie beispielsweise Facebook, stellen eine Erweiterung der konventionellen, unvernetzten Virtualität dar, insofern sie einen virtuellen Raum schaffen, der die Nutzer nicht einfach nur verbindet, sondern in diesem virtuellen Raum auch präsent erscheinen lässt. Daraus wiederum resultiert ein teils verzerrtes Abbild der Gesellschaft.[1] Dies ist die stark komprimierte Bestandsaufnahme hinsichtlich des gesellschaftlichen Wandels im Kontext des Web 2.0, welche in keiner Weise den Anspruch auf Vollkommenheit erhebt und mehr Gegenstand einer soziologischen Analyse wäre. Gegenstand der Germanistik ist vielmehr die ästhetisch-literarische Betrachtungsweise jenes Phänomens, insofern sich beispielsweise Erzählstrategien je nach Medium unterscheiden bedingt durch die medienspezifischen Darstellungsmöglichkeiten- und/oder-begrenzungen.[2] Klaus Kastberger kritisierte in einem 2017 in der Zeit publizierten Artikel, dass die Germanistik sich in den letzten Jahrzehnten wenig bis gar nicht mit den ästhetischen Eigenschaften literarischer Werke beschäftigt hätte.[3] Dies nachzuprüfen und kritisch zu diskutieren, ist nicht Thematik meiner Erörterungen. Und dennoch: Die Entstehung und Wirkmechanismen des Web 2.0 oder der Virtualität, wie wir sie heute im Zusammenhang mit dem Internet erleben, sind weder rein technische, noch rein gesellschaftliche Phänomene. Ihnen ist eine ästhetisch-literarische Ebene inhärent, welche von der Germanistik als Sprach- und Literaturwissenschaft weder ignoriert werden darf, noch kann. Oder positiv formuliert: Es besteht hier ein enormes Potenzial für die Germanistik, insofern sich neue literarische Erscheinungsformen auftun: zum Beispiel verschiedene Formen der Netzliteratur als solche, Erzählen auf Weblogs und in den sozialen Netzwerken. Merkmale wie Intermedialität, Interaktivität und Inszenierung werden dominant. Auf sprachlicher Ebene wird der Diskurs um das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wiederum bedeutsam, ebenso wie die Frage nach der Verwendungsweise von internetspezifischen Kommunikationselementen und die Transformation des Ausdrucks von Mimik und Gestik in schriftliche Form, um nur einige Ansatzpunkte zu nennen. Das Internet in seiner gegenwärtigen Erscheinungsform mit dem Aufkommen neuer literarischer Erzählstrategien verdrängt mit Sicherheit nicht das Buch als Publikationsmedium literarischer Texte, womit der Germanistik der wesentliche Arbeitsgegenstand genommen würde – nein, vielmehr erweitert es den Gegenstandsbereich und liefert neue Aspekte, die von der Germanistik aufgegriffen werden müssen. In diesem Umstand sehe ich auch zukünftig eine Herausforderung, die an die Germanistik gestellt wird – eine Chance, keine Problematik, die eine Krise begünstigen würde.

Fake News

Fake News. Ein Ausdruck, mit dem vieles assoziiert werden kann, vielleicht ruft er in erster Linie auch den unangenehmen Gedanken an die Person Donald Trumps hervor. Fakes News gab es auch vor dem Internet. Man denke nur an die zahlreichen Verschwörungstheorien. Was das Internet als Medium jedoch mit Sicherheit begünstigt, sind zwei Dinge: eine schnelle Verbreitung von Nachrichten gleich welcher Art und eine massive Menge an Daten und Informationen. Nun wird die Germanistik sicherlich einen Donald Trump nicht in die Schranken weisen und von fragwürdigen Twitter-Posts abhalten können, wenngleich dies ein durchaus wohltuendes Szenario wäre. Was die Germanistik jedoch – vor allem als Sprachwissenschaft – leisten kann, ist ein Analyse der Nachrichten und Informationen auf sprachlicher Ebene, was gerade in Zeiten einer zunehmend populistischen Rhetorik vor allem auch in den sozialen Netzwerken von herausragender Bedeutung ist. Etwas provokant formuliert: Germanisten sind in der Regel in der Lage, Texte, die eine Länge von 140 Zeichen deutlich überschreiten, zu er-, und zu verfassen. Nur zum Vergleich: Eine Masterarbeit der Germanistischen Literaturwissenschaft hat einen Umfang von etwa 140.000 Zeichen. Germanisten sind in der Lage, zu recherchieren und Quellen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Fähigkeiten demnach, die so auch im Rahmen anderer Geisteswissenschaften erforderlich und die sowohl gegenwärtig, als auch zukünftig vielleicht mehr denn je von Bedeutung sind und als Kompetenzen auch außerhalb des wissenschaftlichen und universitären Betriebs benötigt werden. Wiederum eine Chance für die Germanistik!

Faust

Faust. Ein Werk Goethes, welches nicht nur Germanisten bekannt sein dürfte. Es ist bereits in Schulen Pflichtlektüre, anhand dessen die Fähigkeiten zur Textanalyse und Textinterpretation erworben und vertieft werden sollen; Karten für die Inszenierungen am Münchener Residenztheater sind bereits monatelang im Voraus vergriffen. Literatur und Sprache sind Arbeitsgegenstand der Germanistik. Literatur und Sprache sind essentielle, wenn nicht sogar existentielle Aspekte von Kultur, Gesellschaft und Welt. Wird der Mensch als rein physisches Wesen begriffen, so liegen die Auseinandersetzung und Erforschung jenes Wesens im Aufgabenbereich der Naturwissenschaften. Geisteswissenschaften wären diesbezüglich – und damit auch in gesellschaftlich-kultureller Hinsicht– irrelevant und überflüssig. Nun ist der Mensch jedoch nicht ausschließlich als physisches Wesen zu beschreiben. Er ist genauso sehr von psychischer, kultureller, kreativer, gesellschaftlich-sozialer und intellektueller Natur. Der Mensch ist sowohl Leib, als auch Seele und/oder Geist. Er konstituiert sich in beiden und durch beide Dimensionen in gleicher Weise. Somit sind die Geisteswissenschaften weder irrelevant, noch überflüssig, beschäftigen sie sich doch gerade mit jenen Eigenschaften, die dem Menschen neben seiner Physis zukommen. Die Germanistik befasst sich insofern mit einem wesentlichen Konstitutionsfaktor des Menschen als dass Literatur mehr ist, als das textuelle Pendant zum Unterhaltungsmedium Fernsehen oder – im 21. Jahrhundert – Netflix, YouTube und Co. Literatur erfüllt Funktionen und ihr sind Leistungen für den Menschen, die Kultur und die Gesellschaft inhärent, welche als fundamental angesehen werden können und welche auch durch Netflix, YouTube & Co. nicht  wegrationalisiert werden. Literatur ist das Medium der kulturellen Selbstreflexion und Selbstbeobachtung, sowie das Medium der menschlichen Selbstinszenierung.[4] Literatur ist Medium von Subjektivität. Aus dieser medial-reflexiven Perspektive heraus, lässt sich ihre adaptive Funktion ableiten: Menschen machen in der Literatur affektive und moralische Erfahrungen von Alternativen, was bedeutet, dass sie auf diese Art und Weise ihren subjektiven Sinn für Wert und Bedeutung entwickeln und anpassen können.[5] Es zeichnet sich hierbei somit ab, dass Literatur im Kontext von Selbstbeobachtung, Selbstinszenierung und der Generierung von Wert und Bedeutung in einem grundlegenden Verhältnis zur Erkenntnis ganz allgemein steht. Literatur geht einher mit Interpretation. Sie formuliert spezifische Interpretationen von Mensch und Welt, die durch andere Arten der Erkenntnis nicht ersetzt werden können.[6] Gerade wenn sich literarische Werke mit dem Diffusen und Allgemeinen befassen, so formulieren sie Fragen danach, was der Mensch ist und wieso er so ist, wie er ist.[7] Fragen, die so sicherlich gerade auch in der Philosophie eine herausragende Stellung einnehmen, verhandelt jedoch aus einer wiederum anderweitig speziellen Perspektive heraus. So beispielsweise wenn Fragen im Kontext der Philosophie des Geistes danach gestellt werden, ob der Mensch ein Selbst besitzt, ob der Mensch frei oder determiniert ist, wie Leib, Seele und Geist zusammenspielen, um nur kurz einige Aspekte zu nennen. Philosophie und Literatur sollen hier nicht separiert werden – und dennoch können sie auf je unterschiedliche, sich widersprechende oder ergänzend-übereinstimmende Arten und Weisen fragen und den Versuch der Formulierung einer aussagekräftigen Antwort leisten. Es zeigt sich in dieser kurzen Erörterung abermals, dass der Mensch sich in einem und durch ein Kontinuum konstituiert und konstruiert, welches sich durch verschiedene und zahlreiche Aspekte manifestiert, was wiederum bedeutet, dass aus unterschiedlichen Perspektiven nach jenen Aspekten gesucht und gefragt werden kann. Literatur spielt überdies nicht nur im Zusammenhang des Menschen als Subjekt eine wesentliche Rolle. Sondern Literatur ist ferner auch ein ästhetisch-künstlerisches und gesellschaftlich-kulturelles Phänomen. Sie dient als Medium der Kreativität und stellt Irritationen und Innovationen im Bereich der Kultur bereit.[8] Gleichzeitig repräsentiert sie einen Spielraum der Phantasie in Bezug auf die nicht-alltägliche, literarische Wahrnehmung.[9] Sie ist Medium der Aneignung und Verhandlung von kulturellem Kapital und gleichzeitig sind literarische Werke nicht lediglich Abbilder ihrer Zeit, sondern formende und beeinflussende Faktoren[10], die die historische Wirklichkeit stets mitbestimmten, die Gegenwart mitbestimmen sowie potenzielle, utopische und dystopische Zukunftsszenarien formulieren. Überdies kann Literatur als gesellschaftliches Handeln und gesellschaftliche Erfahrung charakterisiert werden, welche zugleich Handlungen veranlasst. Sie ist somit Verständigungshandlung. Eine weitere Möglichkeit, Literatur zu begreifen, besteht darin, sie als Diskurs zu verstehen. Nach Foucault besteht die spezifische Leistung der Literatur diesbezüglich darin, einen emanzipatorischen Gegendiskurs zu den dominanten Alltagsdiskursen etablieren zu können.[11] Im Sinne eines reintegrierenden Interdiskurses obliegt es der Literatur, verschiedene Diskurse, Medien sowie die von ihnen produzierten Weltbilder, Werte und Normen im Medium der Kunst in einen Dialog zu bringen.[12] Auch im Kontext der bereits erörterten Thematik um die Virtualität bzw. das Web 2.0 und die Rolle der Literatur darin eröffnen gerade Erzählgenres im Internet insofern einen kulturell-kritischen Metadiskurs, als sich narrative Genres im Internet oftmals selbstreflexiv mit gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und Problemlagen auseinandersetzen, die durch die Digitalisierung und umfassende Medialisierung sämtlicher Lebensbereiche entstanden sind.[13] Ob Gegendiskurs, reintegrierender Interdiskurs oder kulturell-kritischer Metadiskurs: Literatur diskutiert, kritisiert, reflektiert, konstruiert und konstituiert.

Literatur und Sprache sind facettenreich, sie sind hinsichtlich ihrer Leistungen und Funktionen von enormer Bedeutung auf vielerlei Ebenen. Folgt daraus kausal, dass dies ebenso für die Wissenschaft dieses Arbeitsgegenstandes, die Germanistik also, gilt? Eine Frage, die es ausführlich zu erörtern gilt und die nicht mit einem definitiven „Ja“ oder „Nein“ abgetan werden kann. Festzuhalten ist primär, dass es die Germanistik mit einem Arbeitsgegenstand zu tun hat, dem an sich eine enorme Bedeutung zukommt und dem gleichzeitig ein großes Potenzial hinsichtlich einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung inhärent ist. Es ist demnach Aufgabe der Germanistik, dieses Potenzial zu nutzen, sich damit von Klischees, wie ‚Entspannungswissenschaft‘ und Konsorten, zu befreien, und sich stattdessen zu einer spannenden Wissenschaft zu machen. Denn eine Wissenschaft, die sich mittels ihres Arbeitsgegenstandes mit existentiellen Aspekten von Mensch, Kultur, Gesellschaft und damit Welt befasst, kann nicht weggedacht werden. Sie fällt bezüglich ihrer Relevanz nicht hinter die Naturwissenschaften zurück, sondern ist jenen ebenbürtig. Die Auseinandersetzung, die kritische Reflexion und Analyse von Literatur und Sprache bietet ebenso viel Potenzial wie der Arbeitsgegenstand selbst. Anders formuliert: Die Relevanz der Analyse fällt nicht hinter der Relevanz des Gegenstandes zurück. Die Anforderung an die Germanistik besteht darin, die Diskurse, Funktionen und Leistungen von Literatur aufzugreifen, sie einzuordnen und gesellschaftlich zu vermitteln. Gerade wenn Literatur Gegendiskurse etabliert und Alternativen formuliert, sollte die Germanistik dieses Vermögen nutzen, um sich kritisch mit gesellschaftlichen Strukturen und Phänomenen auseinanderzusetzen. Sicherlich, die Germanistik ist keine Sozialwissenschaft wie die Politikwissenschaft oder die Soziologie, sie arbeitet wenig empirisch. Und doch ist sie durch das, womit sie arbeitet, aufs Engste mit der Gesellschaft, den darin bestehenden Normen- und Wertesystemen, Problematiken und Strukturen verbunden. Sowohl gegenwärtig, als auch zukünftig sollte die Germanistik dies als Herausforderung betrachten.

Die Diagnose einer Krise beinhaltet stets die Frage nach der Zukunft des Problemkindes. Und auch wenn man nun die Krise der Germanistik bestreitet, so gilt es dennoch, diese Frage zu stellen. Denn wie bereits einleitend erörtert: Der Stillstand ist die eigentliche Krise. Wie kann sich nun die Germanistik davor bewahren? An Forschungsgrundlagen herrscht offensichtlich kein Mangel. Und sind Wissenschaftler nicht durchaus Problem-Junkies? Eine bestehende Problematik wirft Fragen auf, Fragen, die von der Wissenschaft aufgegriffen und erforscht werden können. Eine der Anforderungen an die Germanistik besteht darin, die Fachgrenzen für Dialoge zu öffnen, ihre eigenen Perspektiven zu erweitern, ohne dabei einem Zwang zur Interdisziplinarität zu verfallen. Vielmehr besteht die Herausforderung darin, die eigenen Stärken zu erkennen und diese konstruktiv in Diskurse einfließen zu lassen. Dazu gehört beispielsweise auch, nicht nur literarische Werke in textueller Form hinsichtlich ihrer Motive, Ideen, Strukturen und Eigenschaften zu untersuchen. Gegenwärtig hat sich bereits die Tendenz vollzogen, auch Serien und Filme als textuelle Strukturen zu lesen und zu analysieren. Wieso also nicht die Welt als Abstraktum bzw. ihre konstitutiven Aspekte im Sinne eines Konkretums als textuelle Struktur denken? Dies stellt meines Erachtens keinen Verlust dessen dar, was die Germanistik ausmacht. Es betont vielmehr ihre Stärken! Die Germanistik muss nicht zugleich Sprach- und Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie und Kulturwissenschaft sein. Aber als Sprach- und Literaturwissenschaft tangiert sie Bereiche des Medialen, Politischen, Sozialen und Kulturellen. Diskursiver Austausch mit den genannten Disziplinen also anstatt Übernahme und Angleichung an jene wäre demnach zu wünschen!

Jüngste Skandale, wie beispielsweise jener um die Wahlbeeinflussung in den USA durch Cambridge Analytica, zeigen, welchen enormen Einfluss der Lobbyismus auf die Politik ausübt. Sicherlich, Cambridge Analytica ist in erster Linie ein Unternehmen, welches Daten sammelt und auswertet. Daten bedeuten jedoch Macht, ebenso wie Geld im Kapitalismus Macht bedeutet. Die negativen Folgen jener Dynamiken sind verheerend. Denn Macht sollte niemals mit Wahrheit oder Gerechtigkeit gleichgesetzt werden! Gefragt sind die Rolle und Person des Intellektuellen, gefragt sind kritische Auseinandersetzungen, rationale Analysen und Lösungsvorschläge ohne eigene Profitgier. Es wäre wünschenswert, dass es sich die Germanistik als Geisteswissenschaft zu ihrer Aufgabe machen würde, diese Leistungen zu erbringen; es wäre wünschenswert, dass Germanisten und andere Geisteswissenschaftler die Rolle der Intellektuellen wieder stärken würden, ohne dabei dem Elitären zu verfallen und bevormundend-herablassend zu agieren. Es ist nicht nur wünschenswert, es ist außerordentlich wichtig! Es sollte Teil des Selbstverständnisses werden, einen kritisch-objektiven Gegenpart zu manifestieren! Wissenschaft sollte Rebellion sein, fundierte, rationale, analytische Rebellion mit dem Anspruch zu verbessern, Facts statt Fakes zu liefern.

Die Frage nach der Zukunft der Germanistik ist keine, die auf die Disziplin beschränkt bleiben kann. Es ist zugleich eine Frage nach der Zukunft gesellschaftlicher Strukturen und Dynamiken. Gelingt es der Germanistik demnach, jene Fragen zu integrieren und aus ihrer spezifischen Perspektive heraus Lösungsvorschläge zu formulieren oder sich mit den Inhalten jener Fragen und Problematiken kraft der eigenen Stärken auseinanderzusetzen und dies in den gesellschaftlichen Kontext einfließen zu lassen, so werden zukünftig hoffentlich Fragen an die Germanistik formuliert, anstatt ihr eine Krise zu diagnostizieren!

Anmerkungen

[1] Vgl. Tobias Holischka: CyberPlaces – Philosophische Annäherungen an den virtuellen Ort, Bielefeld: transcript Verlag 2016, S. 138 f.

[2] Vgl. Elisabeth Augustin: BlogLife: zur Bewältigung von Lebensereignissen in Weblogs, Bielefeld: transcript Verlag 2015, S. 87.

[3] Vgl. Klaus Kastberger: Schluss mit dem Totentanz-Geraune [https://www.zeit.de/kultur/literatur/2017-02/germanistik-literatur-deutsche-sprache-krise].

[4] Vgl. Christoph Reinfandt: Literatur als Medium, in: Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur, Berlin: de Gruyter Verlag 2009, S. 161-187, hier S. 162.

[5] Vgl. Fotis Jannidis: Einleitung, in: Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur, Berlin: de Gruyter Verlag 2009, S. 139-141, hier S. 139.

[6] Vgl. Karl Heinz Göller: Zur gesellschaftlichen Funktion der Literaturwissenschaft [https://epub.uni-regensburg.de/26659/1/ubr13242_ocr.pdf].

[7] Vgl. Andreas Meier: Was die Literatur mit dem Leben und das Leben mit der Literatur macht [https://www.zeit.de/2011/50/Essay-Literatur].

[8] Vgl. Reinfandt (Anm. 4), S. 162.

[9] Vgl. Viehoff: Das gesellschaftliche Handlungssystem LITERATUR [http://www.litde.com/literaturwissenschaft-und-systemtheorie/selbstbezgliches-handeln-reinhold-viehoff/das-gesellschaftliche-handlungssystem-literatur.php].

[10] Vgl. Göller (Anm. 6).

[11] Vgl. Ulrich Schmid: Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts, Ditzingen: Reclam Verlag 2010, S. 255.

[12] Vgl. Ansgar Nünning, Jan Rupp: The Internet’s New Storytellers‘: Merkmale, Typologien und Funktionen narrativer Genres im Internet aus gattungstheoretischer, narratologischer und medienkulturwissenschaftlicher Sicht, in: Ansgar Nünning, Jan Rupp, Rebecca Hagelmoser, Jonas Ivo Meyer (Hg.), Narrative Genres im Internet. Theoretische Bezugsrahmen, Mediengattungstypologien und Funktionen, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2012, S. 3-50, hier S. 32.

[13] Vgl. Ansgar Nünning (Anm. 12), S. 33 f.

Literaturhinweise

Augustin, Elisabeth: BlogLife: zur Bewältigung von Lebensereignissen in Weblogs, Bielefeld: transcript Verlag 2015.

Göller, Karl Heinz: Zur gesellschaftlichen Funktion der Literaturwissenschaft [https://epub.uni-regensburg.de/26659/1/ubr13242_ocr.pdf].

Holischka, Tobias: CyberPlaces – Philosophische Annäherungen an den virtuellen Ort, Bielefeld: transcript Verlag 2016.

Jannidis, Fotis: Einleitung, in: Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer (Hgg.), Grenzen der Literatur, Berlin: de Gruyter Verlag 2009, S. 139-141.

Kastberger, Klaus: Schluss mit dem Totentanz-Geraune [https://www.zeit.de/kultur/literatur/2017-02/germanistik-literatur-deutsche-sprache-krise].

Meier, Andreas: Was die Literatur mit dem Leben und das Leben mit der Literatur macht [https://www.zeit.de/2011/50/Essay-Literatur].

Nünning, Ansgar, Jan Rupp: The Internet’s New Storytellers‘: Merkmale, Typologien und Funktionen narrativer Genres im Internet aus gattungstheoretischer, narratologischer und medienkulturwissenschaftlicher Sicht, in: Ansgar Nünning, Jan Rupp, Rebecca Hagelmoser, Jonas Ivo Meyer (Hgg.), Narrative Genres im Internet. Theoretische Bezugsrahmen, Mediengattungstypologien und Funktionen, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2012, S. 3-50.

Reinfandt, Christoph: Literatur als Medium, in: Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer (Hgg.), Grenzen der Literatur, Berlin: de Gruyter Verlag 2009, S. 161-187.

Schmid, Ulrich: Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts, Ditzingen: Reclam Verlag 2010.

Viehoff, Reinhold: Das gesellschaftliche Handlungssystem LITERATUR [http://www.litde.com/literaturwissenschaft-und-systemtheorie/selbstbezgliches-handeln-reinhold-viehoff/das-gesellschaftliche-handlungssystem-literatur.php].