Ergänzendes zu Marie Luise Gansberg, zur Situation in Marburg und zum Problem der institutionellen Beschädigung schwieriger Begabungen in der Universität

Von Hans Peter HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans Peter Herrmann

Freiburg, 18. September 2018

Sehr geehrte Frau Koloch,

über ihr Angebot, oder sollte ich schreiben: über Ihre Anregung, in Ihrem Projekt etwas über den Dringenberger Kreis zu verfassen, war ich erstaunt und habe ich mich gefreut. In der unübersehbaren Schriftenflut zu „68“ ist der Anteil derer, die etwas über die soziale Breite und Tiefe dieser Bewegung zu berichten oder gar darüber zu reflektieren wissen, unangemessen klein. Auch für die Geschichte der Germanistik ist konstitutiv, dass es damals nicht nur die bekannten Auseinandersetzungen in den Institutionen und die theoretischen Diskussionen um Methodologie und Literaturbegriff gab ‒ und nicht nur informelle Netzwerke, auf konservativer wie auf linker/linksliberaler Seite (über die mehr wissen sollte, wer wirklich Wissenschaftsgeschichte schreiben will) ‒, sondern eben auch halboffizielle, locker organisierte Gruppierungen innerhalb der Assistenten- und Dozentenschaft, wie die von Ihnen wieder in Erinnerung gebrachte Gruppe um das Münchener Assistenten-Flugblatt oder eben den „Dringenberger Kreis“. Von ersterer hatte ich, wie meine damalige Freiburger Umgebung, nur Ungefähres gehört (das Flugblatt wurde auch bei uns diskutiert), zum Dringenberger Kreis habe ich seit 1979 dazugehört und mich aktiv in ihm engagiert. Über seine Bedeutung für die interne Geschichte der linken westdeutschen Germanistik und über die Grenzen dieser Bedeutung gäbe es durchaus Einiges zu schreiben. Dazu einen Text zu verfassen, zögere ich allerdings noch sehr, weil ich nicht weiß, wie ich das in meiner altersbedingt engen Zeitplanung unterbringen soll.

Vorerst habe ich mich ein bisschen in Ihren einschlägigen Projekt-Veröffentlichungen umgesehen und mit großer Zustimmung wahrgenommen, dass und wie engagiert und gründlich Sie Marie Luise Gansberg und Paul-Gerhard Völker wieder ins Licht gerückt haben, die beide in ihrer Bedeutung für den Beginn der methodischen und hochschulpolitischen Reformbewegung innerhalb der Germanistik nicht zu überschätzen sind. Meiner Meinung nach ein notwendiger Akt der Wiedergutmachung und der aufklärenden Erinnerung, den Sie da vollzogen haben!

Beim Lesen bin ich in Ihrem langen Artikel zu Marie Luise Gansberg hängen geblieben. Ich war ihr 1970 in Marburg begegnet, als ich ein Jahr lang den von Erich Ruprecht freigegebenen Lehrstuhl vertreten hatte (bevor dann Heinz Schlaffer auf ihn berufen wurde). Sie kam in meinem zweiten dortigen Semester nach Marburg, ich erinnere mich noch an die deutliche Diskrepanz zwischen ihrem Ruf als mutige Vorkämpferin einer linken Germanistik und ihrem entschiedenen, auch scharfen intellektuellen Verhalten in wissenschaftlichen Gesprächen einerseits und ihrem eher scheuen, auch schwierigen persönlichen Auftreten andererseits ‒ eine Widersprüchlichkeit, mit der sie die Aufmerksamen unter uns Lehrenden überraschte. Und eine Widersprüchlichkeit, die auch bei Gutwilligen irritierend wirken konnte. Aber meine Erinnerungen an sie sind über allgemeine Eindrücke hinaus zu vage, als dass ich viel Brauchbares berichten könnte.

Präziser sind meine Erinnerungen an die allgemeine Situation im Institut, und da wird es Ihnen vielleicht nicht unwillkommen sein, wenn ich im Nachhinein einiges Ergänzendes zu Ihrem Text beitragen kann.

Generell kann ich nach meiner Erfahrung aus dem SS 1970 und WS 1971 samt Vorlauf und Nachspielen die Situationsbeschreibung von Hartmut Rosshoff nur bestätigen. Zumindest in diesem Jahr wurde das wissenschaftliche wie das menschliche Klima am Institut weitgehend von der Gruppe der dogmatischen, im DKP-Studentenverband „Spartakus“ organisierten oder ihm verbundenen Studierenden dominiert. Wissenschaftlich wie institutionell betrieben sie eine konsequente und oft rücksichtslose Interessenpolitik, die sie marxistisch nannten. Das war möglich, da ein maßgeblicher Teil der nichthabilitierten Lehrenden der gleichen Gruppe angehörte, z. T. auch aus ihr hervorgegangen war oder sich ihr verpflichtet fühlte, weil sie ihr ihre Anstellung zu verdanken hatte. Der Effekt war, dass im drittelparitätisch abstimmenden Institutsrat keine Entscheidung gegen diese stets geschlossen auftretende Fraktion gefällt werden konnte. Die undogmatischen Linken, zu denen ich mich zählte, kamen dagegen nicht an; sie zogen sich auf ihren Bereich zurück, wie es Rosshoff von sich berichtet, oder, wenn sie das wegen ihrer Position oder ihrer Einstellung nicht konnten, versuchten sie, Schlimmeres zu verhüten, was oft nicht gelang. Ich habe den Anpassungsdruck am Marburger Institut damals als unerträglich hoch erfahren, er war auch ein Grund für mich gewesen, die angebotene Nachfolge auf dem Lehrstuhl Klein/Ruprecht abzulehnen. die Berufung auf den Lehrstuhl Klein/Ruprecht abzulehnen

Dies vorausgeschickt, kann ich Ihre vorsichtige Beschreibung der Situation von Marie Luise Gansberg im Forschungskolloquium des WS 1972/73 nur bestätigen, ja verschärfen. Ich war ja nicht dabei, aber ich weiß aus vergleichbaren Situationen, wie die Marburger Neugermanisten, Assistenten und Studierenden mit anderen umgingen, die nicht ihre Wissenschaftsauffassung vertraten und/oder nicht in ihr institutspolitisches Konzept passten: Er oder sie wurde geschnitten, nach Kräften behindert und z. B. in langen Sitzungen mit vernichtenden, teils groben, teils hochreflektierten Urteilen regelrecht fertig gemacht. Es muss grausam und unerträglich für Marie Luise Gansberg gewesen sein, nach der brüsken Ablehnung durch die offizielle konservative Germanistik in München jetzt die gleiche und im Auftreten noch viel ungehemmtere Ablehnung durch die herrschende Mehrheit einer linken Germanistik in Marburg zu erfahren. Ich stelle mir vor, dass dann, als mit der Nachricht von der geplanten Entlassung auch ihr amtlicher, materiell-beruflicher Rückhalt wegbrach, auch ein sehr viel stabilerer Mensch als sie psychisch zusammengebrochen wäre.

Gansberg war zweifellos ein Mensch mit einer schwierigen psychischen Disposition, unter der auch ihre Kontaktmöglichkeiten zu ihrer Umwelt leiden konnten. Das von Ihnen zitierte scharfe Urteil von Frauenforscherinnen, Gansbergs lange Publikationspause habe ihren Ursprung in ihr selbst, in ihrer Krankheit, ist wohl nicht einfach falsch. Aber es ist mit Sicherheit einseitig und es übersieht die externen Ursachen dieser Krankheit. Und es übersieht Gansbergs überragende geistige Kraft, Sachorientiertheit und Produktivität, die sie zu einer wichtigen Gesprächspartnerin machen konnten und die ihre Beträge zur Wissenschaft trugen, von denen Sie ja berichten. Und die die Universität hätte integrieren und nutzen sollen, statt sie auszustoßen. Nur eben, dass diese geistige Kraft, die unter normalen Umständen vielleicht imstande gewesen wäre, ihr Leben zusammen zu halten, diesen Formen rücksichtslosen Umgangs mit ihr nicht gewachsen war.

Erlauben Sie mir dazu noch eine Bemerkung über Ihre wichtigen Reflexionen zur Vernichtung von Begabungen gerade an Universitäten. Ich denke, dass Sie da eine zenrale Frage aufwerfen und an ein im öffentlichen Diskurs der Universität ‒ zu ihrem eigenen großen Schaden ‒ weitgehend unterdrücktes Problem rühren, von dem es nötig wäre, dass es offen diskutiert würde.

Mir scheint allerdings, dass das nicht nur ein Problem mangelnder individueller Sensibilitäten ist, wie Sie schreiben, sondern ein strukturelles Problem der autoritär organisierten und auf Konkurrenz basierten Universität insgesamt, auch und vielleicht gerade der deutschen. In „der“ Universität kann nur reüssieren, wer zu seinen wissenschaftlichen Qualitäten auch noch eine robuste Natur und erhebliche Konkurrenzfähigkeiten besitzt. Wegbeißen zu können und gebissen werden auszuhalten, ist Voraussetzung einer normalen Professorenkarriere. Da in den Literaturwissenschaften zur wissenschaftlichen Produktivität oft auch ein erhebliches Maß an intellektueller Sensibiltät gehört, fällt die Diskrepanz hier besonders ins Auge. Und in einem „Fall“ wie dem von Marie Luise Gansberg hatte sie schlimme Folgen.

Mein kritisches Bild der Marburger Institutssituation ist übrigens wohl auch von den Schlaffers geteilt worden, wie ich anläßlich eines weit zurückliegenden persönlichen Gesprächs mit ihnen erfuhr. Heinz Schlaffer hat Marburg wohl auch deshalb bald wieder verlassen, weil er sich dort unwohl fühlte. Und mit diesem Bild hängt zusammen, dass ich auch die Person und Rolle von Dieter Bänsch kritischer sehe als es in Ihrem Artikel zum Ausdruck kommt. Ich habe ihn als eine durchaus zwielichtige Figur zwischen den verschiedenen Kräften im Institut erfahren. Sollte jemand Interesse haben, eine genauere Geschichte des Marburger Instituts in diesen Jahren zu schreiben, müsste sie/er auch Bänschs Rolle genauer zu beleuchten suchen. Ich nehme an, dass das noch nicht geschehen ist, zumindest habe ich in Ihrem Text keinen Hinweis darauf gefunden. Eine solche Arbeit wäre schwierig, vielleicht inzwischen kaum mehr möglich; sie müsste auch damalige Studierende befragen und müsste Einblick in die Auseinandersetzungen haben, die damals in der üblichen Flut von Flugblättern unterhalb der Oberfläche amtlicher Dokumente geführt wurden. Dann könnte sie Wichtiges über die wirklichen Konflike am Institut und auch über Fragwürdigkeiten innerhalb der linken Bewegung erfahren und beschreiben.

Für Freiburg haben einige Kollegen und ich versucht, einem solchen Tiefenblick in die 68er-Geschichte eines Instituts zumindest aus der Innensicht vorzuarbeiten (Dokumentation einsehbar in Freiburg, s. http://www.archivsozialebewegungen.de/systematik/syst5.html, s. dort Nr. 5.2.23). Aber da ich inzwischen mit anderen Themen als der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik beschäftigt bin, weiß ich nicht, was es da schon für Marburg gibt. Nur dass das Interesse an dieser Epoche bei WissenschaftlerInnen Ihrer Generation rege ist, habe ich wahrgenommen und finde das sehr gut.

Es ist ein langer Text geworden, entschuldigen Sie bitte. Vielleicht enthält er etwas Nützliches für Sie.

Mit besten Grüßen
Ihr

Hans Peter Herrmann