Moderne Psychiatrie und literarische Moderne

Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ und seine Vorgeschichte

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Von Beziehungen zwischen Psychiatrie und sogenannter schöner Literatur kann, wie leicht einzusehen, erst gesprochen werden, seit sich die erstere als medizinische Disziplin zu konstituieren beginnt, in Deutschland seit den Anfängen des neunzehnten Jahrhunderts. In diese Beziehungen ist die Literaturbetrachtung, als Ästhetik, Philologie oder Literaturkritik, einzuschließen. Diese Beziehungen sind bisher keiner zusammenhängenden Darstellung gewürdigt worden, obgleich sie für die Geschichte des humanen Denkens wertvolle Einsichten verschaffen könnten. Sie sind in hohem Maße und auf weite Strecken hin eine Geschichte der auseinandergehenden Wege und der gegenseitigen Gleichgültigkeit. Erst seit Beginn der Moderne sind tiefgreifenden Änderungen wahrzunehmen, sicher am nachhaltigsten in der Literatur selbst, was ihre Einstellung zu Psychiatrie und psychischen Krankheiten angeht. Es gibt zu denken, daß sich diese Beziehungen am innigsten in der Zeit um 1830 darstellen, ehe der unerhörte Aufstieg in Naturwissenschaft, wissenschaftlicher Medizin und Technik einsetzt. Die enge Verflechtung von Psychiatrie und literarischer Kultur zeigt sich an der Gründung von Irrenanstalten in Schwerin, Bayreuth, Siegburg oder Pirna bei Dresden, und die Humanitätsfortschritte, von denen in einer neueren Psychiatriegeschichte gesprochen worden ist, sind mit der Ideenwelt der Weimarer Klassik auf vielfache Weise verbunden; nicht nur die Person Maximilian Jacobis, Sohn Friedrich Heinrich Jacobis und erster Direktor der Anstalt in Siegburg, bezeugt es. Gegenüber der zeitgenössischen Literatur verhält man sich wiederholt aufgeschlossen. In dieser Zeit verfaßt Mörike seine Künstlergeschichte „Maler Nolten“, ein von Schwermut gezeichnetes Werk. Nicht ohne Genugtuung teilt der Dichter seinem Bruder mit, daß „ein gewisser Dr. Zeller, der sich viel mit Psychiatrie abgibt, … die Novelle gelesen und den psychologischen Gang … zugleich richtig und schön gefunden“ habe. Im Blick auf das neuartige Verhältnis von Kunst und psychischer Krankheit scheinen sich so unterschiedliche Autoren wie Mörike und Büchner näher zu stehen, als man im allgemeinen gelten läßt, wenn man die Erzählung „Lenz“ in die Betrachtung einbezieht – eine Schizophrenie-Studie, wie in neuerer Zeit gesagt worden ist. Psychisch kranke Menschen werden in dieser Zeit, dem französischen Vorbild folgend, von Verbrechern getrennt. Aber auch für die letzteren regt sich in Medizin, Strafrecht und Literatur Interesse, vor allem, wenn es sich um kranke Verbrecher handelt. An ihrem Verständnis, am Fall Rivière, den Foucault so eindrucksvoll dokumentiert hat, scheiden sich in Frankreich um 1835 die Geister, näherhin die Vertreter des Strafrechts wie der Medizin. Aber auch in Deutschland scheiden sie sich, wenn der in forensischer Psychiatrie kundige Arzt Johann Baptist Friedreich den Fall des historischen Woyzeck, seine Hinrichtung im Jahre 1823, einen Justizmord nennt. Das zielt auf die erstellten Gutachten des Professors für psychische Therapie an der Universität Leipzig, Johann Christian August Heinroth, der auf Zurechnungsfähigkeit erkannt hatte. Die Übereinstimmung des zuerst genannten Arztes – ich meine Friedreich – mit Büchner und seinem Dramenfragment, von dem er keine Kenntnis haben konnte, liegt auf der Hand.

Aber die Innigkeit solcher Beziehungen ändert sich rasch. Das ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen. Zum ersten auf die sich ihrer Wissenschaftlichkeit zunehmend bewußte Psychiatrie, die Kompetenz beansprucht und den Poeten nicht über den Weg traut, wenn diese sich auf Darstellung psychischer Krankheitssymptome einlassen. Wilhelm Griesinger, vormals Assistent des vorhin genannten Psychiaters Albert Zeller, bringt es in seinem 1845 veröffentlichten Handbuch „Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“ deutlich zum Ausdruck, wenn es dort heißt: „Alle nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und moralistischen Auffassungen des Irreseins sind für die Erkenntniss nur vom allergeringsten Werthe …“ Aber vor allem sind die Gegensätze zwischen psychischer Krankheit und schöner Literatur auf die Herausbildung einer Literaturbetrachtung und Literaturkritik zurückzuführen, die wir als klassische Ästhetik bezeichnen. Sie läßt Krankheit allenfalls dort gelten, wo sie in eine Ästhetik des Heilens einmündet. Aber Abweichung vom Normalen, das sich mit psychischem Kranksein verbindet, lehnt sie als etwas der Literatur nicht Zukommendes ab. Hegels „Ästhetik“ wirkt in diesen Fragen ebenso normsetzend wie folgenreich. „Aus dem Bereiche der Kunst aber“, heißt es hier, „sind die dunklen Mächte grade zu verbannen, denn in ihr ist nichts dunkel, sondern alles klar und durchsichtig, und mit jenen Übersichtigkeiten ist nichts als der Krankheit des Geistes das Wort geredet … wovon Hoffmann und Heinrich von Kleist in seinem Prinzen von Homburg Beispiele liefern.“ Ganz auf der Linie solcher Auffassungen spricht 1851 der Literaturkritiker Julian Schmidt sein verständnisloses Verdikt über Büchners Erzählung „Lenz“ aus und schreibt: „Ich halte den Versuch, den Wahnsinn darzustellen … für den Einfall einer krankhaften Natur. Die Darstellung des Wahnsinns ist eine unkünstlerische Aufgabe, denn der Wahnsinn, als die Negativität des Geistes, folgt keinem geistigen Gesetz … Der Wahnsinn als solcher gehört in das Gebiet der Pathologie, und hat ebenso wenig das Recht, poetisch behandelt zu werden, als das Lazareth und die Folter.“ Literaturbetrachtung und Psychiatrie bedienen sich in solchen Ablehnungen zumeist derselben Argumente, und das wird noch lange so bleiben. In den zwanziger Jahren äußert sich hierüber der in seinem Fach hochangesehene Psychiater Kurt Schneider in dem Vortrag „Der Dichter und die Psychopathologie“, im Ton um vieles moderater und kultivierter als der Literaturkritiker des 19. Jahrhunderts. Aber Unverträglichkeit zwischen Symptomen psychischer Krankheit und poetischer Darstellung gilt auch für ihn, wenn er im Gedankengang dieses Vortrags bemerkt: „Das Wesen der Psychose ist das Abreißen der Verständlichkeit; das Dichtwerk aber verlangt durchgehende Motivzusammenhänge, wenigstens in seinem hauptsächlichsten Geschehen.“ Aber durchgehende Motivzusammenhänge und kausale Verknüpfungen sind Stilmerkmale klassischer oder klassizistischer Ästhetik. Die Moderne denkt anders. An Rilkes „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ wäre zu zeigen, wie hier versucht wird, aus disparaten Beobachtungen und Erinnerungen Zusammenhänge herzustellen, damit später wieder erzählt werden kann. Das Zufällige, Zusammenhanglose und Kontingente in den Wahrnehmungen psychischer Krankheit findet in den Wahrnehmungen moderner Literatur seine Entsprechung, die uns nicht berechtigt, von Einfällen einer krankhaften Natur zu sprechen wie seinerzeit der genannte Julian Schmidt. Trennungen zwischen Gesund und Krank werden nebensächlich, weit mehr werden fließende Übergänge wichtig.