Literatur, Medizin und Psychiatrie

Über ein Forschungsfeld von Walter Müller-Seidel

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Bei seiner Rede zur Eröffnung der „Arbeitsstelle für [die Erforschung der] Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv“ in Marbach am 14. April 1972 erklärte der damalige Vorsitzende des Deutschen Germanistenverbandes Walter Müller-Seidel abschließend, er wünsche sich eine „Institution, in der – möglicherweise – die Wissenschaftsgeschichte ein Teil der Literaturwissenschaft ist, der längst – neben dem Literaturarchiv – ein eigenes Forschungsinstitut hätte zukommen müssen.“ Wissenschaftsgeschichte als „ein Teil der Literaturwissenschaft“: Mit Wissenschaftsgeschichte war in diesem Zusammenhang die Geschichte der eigenen, der germanistischen Wissenschaft gemeint, aber schon in diesen Jahren und in Ansätzen sogar früher zeigte sich bei Müller-Seidel ein weiterreichendes Interesse an Wissenschaftsgeschichte: an Wissenschaften als Kontexten der Literatur und als Gegenstand permanenter literarischer und damit auch literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung.

Ein frühes und markantes Zeugnis dafür ist sein 1968 erschienener, auf einen 1965 in Tübingen gehaltenen Vortrag zurückgreifender Aufsatz über „Natur und Wissenschaft im Werk Georg Büchners“ (In: Festschrift für Klaus Ziegler. Hg. von Eckehard Catholy und Winfried Hellmann. Tübingen 1968, S. 205-232). Gleich zu Beginn verweist der Aufsatz auf die damaligen Diskussionen über die umstrittenen Thesen des britischen Wissenschaftlers und Schriftstellers Charles Percy Snow zu den „Zwei Kulturen“, zu der unüberbrückbaren Kluft zwischen einer literarisch-intellektuellen und einer naturwissenschaftlichen Kultur. Und bevor der Aufsatz auf Büchner und auf sein Medizinstudium zu sprechen kommt, entwirft er im Blick auf Beziehungen zwischen Literatur und Naturwissenschaften in der deutschen Aufklärung, Klassik und Romantik Thesen zu einem Forschungsfeld, auf dem sich seine Arbeiten in den folgenden Jahren und Jahrzehnten bevorzugt bewegen – und mit ihnen die seiner Schüler. 1970 wird Karl Richter mit der Arbeit „Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung“ (1972 erschienen) habilitiert, 1978 erscheint Horst Thomés Dissertation über „Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik“, der später (1993) die Habilitation mit Studien zur „Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914)“ folgt (um nur zwei Beispiele zu nennen).




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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)