Alfred Döblin, „Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord“

Psychiatrie, Strafrecht und moderne Literatur

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Der zuerst 1924 veröffentlichte Text Alfred Döblins – man kann ihn eine Erzählung nennen – ist für die Literatur der Weimarer Republik in mehrfacher Hinsicht kennzeichnend.[1] Es geht in ihm vorrangig um zwei Wissensgebiete, auf die er sich einläßt: um Fragen des Strafrechts und um solche der Psychiatrie; beide Wissensgebiete sind aus der literarischen Moderne nicht wegzudenken, wie ausführlich zu zeigen wäre. Das Interesse für den Verbrecher und für das, was in ihm vorgeht, kündigt sich noch vor der Herausbildung der klassischen Ästhetik in Schillers Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre an. In einigen Dichtungen Büchners wie im reichhaltigen Werk Dostoevskijs setzt es sich als Interesse an kranken Verbrechern, an den Erniedrigten und Beleidigten, fort. Weithin unbehindert von Zensur und staatlicher Reglementierung nimmt sich die Literatur der Weimarer Republik solcher Themen und Personen in erhöhtem Maße an. Lustmord, Vatermord, Abtreibung, Todesstrafe, Tod auf Verlangen oder Besuch im Irrenhaus sind die Stichworte. Die der modernen Literatur eigentümliche Wissenschaftskritik äußert sich als Opposition gegenüber einem dieser Wissensgebiete oder gegen ihre Allianz. Die Zusammenarbeit des Strafrechtslehrers Karl Binding mit dem Psychiater Alfred Erich Hoche, dem Doktorvater Döblins, ist hierfür bezeichnend. Sie findet ihren Ausdruck in der von ihnen gemeinsam verfaßten Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, die 1920 erschien.[2] In Musils Romanwerk Der Mann ohne Eigenschaften ist die Allianz zwischen Strafrecht und Psychiatrie ein zentrales Thema, eine Art Leitmotiv. Mit sanftem Sarkasmus wird sie charakterisiert, wenn es heißt: „Es ist eine bekannte Erscheinung, daß der Engel der Medizin, wenn er längere Zeit den Ausführungen der Juristen zugehört hat, sehr oft seine eigene Sendung vergißt. Er schlägt dann klirrend die Flügel zusammen und benimmt sich im Gerichtssaal wie ein Reserveengel der Jurisprudenz.“[3] Solche auf beide Wissensgebiete zielende Kritik gibt es innerhalb der literarischen Moderne nicht von Anfang an. Sofern es um Rechts- und Justizkritik geht, wird sie in der zweiten Phase, in der Zeit des Expressionismus, prägend und bestimmend; und ohne Frage hat man in der Dreyfus-Affäre und in Zolas Anklageschrift ein auslösendes Moment zu sehen mit der Folge, daß auch die Literatur in Deutschland verändert und beeinflußt wird. Besonders die jüdischen Schriftsteller des deutschen Expressionismus mögen die durch den Dreyfus-Prozeß bewirkte Bedrohung intensiver erlebt haben als manche andere. So wenden sich nicht wenige von ihnen dem Studium der Rechtswissenschaft zu, um bewandert zu sein, wenn Unrecht droht. Franz Kafka, Max Brod, Kurt Tucholsky, Alfred Lichtenstein, Alfred Wolfenstein, Kurt Hiller, Ernst Blass, Walter Serner oder Karl Kraus sind zu nennen. Die meisten der hier Genannten sind promovierte Juristen, und wiederholt behandeln sie in ihren Dissertationen Themen, die als brisant gelten konnten wie Arbeitsrecht (Kafka), Streikrecht (Wegner) oder das Recht, über sich selbst zu bestimmen (Hiller).

Ein an Rechtsfragen interessierter Autor des deutschen Expressionismus war auch Rudolf Leonhard. Sohn eines Juristen, wandte er sich nach kürzerem Philologiestudium der Rechtswissenschaft zu, ohne mit einer Promotion abgeschlossen zu haben. Er auch ist der Herausgeber der Schriftenreihe Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrecher der Gegenwart, die 1924 im Verlag „Die Schmiede“ zu erscheinen beginnt. Der Fall des Generalstabschef Redl (von Egon Erwin Kisch), Der Fall Vukobrankovics (von Ernst Weiß) oder Der Fall Strauß (von Karl Orten) sind bezeichnende Titel dieser Reihe. Auch der Fall des Massenmörders Haarmann, der damals die Gemüter erregte, wird behandelt. Theodor Lessing, der 1934 in Marienbad in der damaligen Tschechoslowakei den Kugeln der von den Nationalsozialisten gedungenen Mörder erlag, ist der Verfasser dieser umstrittenen Schrift. Mit den erzählten Fallgeschichten wird an diejenigen Gayot de Pitavals im 18. Jahrhundert und diejenigen des von Willibald Alexis begründeten Neuen Pitaval im 19. Jahrhundert angeknüpft. Aber der Ton ist jetzt, in den zwanziger Jahren, gegenüber den erzählten Rechtsfällen der früheren Zeit um vieles schärfer geworden. Das zeigt sich schon am Titel der Schriftenreihe, an seinem doppelten Sinn. Nicht nur über Verbrechen und Verbrecher in der Gegenwart soll berichtet werden, sondern auch über Verbrechen der Gegenwart, diese als handelndes Subjekt verstanden. Im Titel deutet sich an, daß es auch um Schuld der Gegenwart oder der Gesellschaft geht, wenn über Verbrechen berichtet wird. In zwei Schriften dieser Reihe werden Fälle von Giftmord erörtert und erzählt. Über solche Fälle hatte wenige Jahre zuvor der Jurist und Schriftsteller Erich Wulffen in seinem Buch Die Psychologie des Giftmordes gehandelt, das 1917 erschienen war, eine höchst anfechtbare Veröffentlichung. Die in Frage stehende Schrift zeugt von großer Voreingenommenheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Die These, daß der Giftmord die bevorzugte Tötungsart von Frauen sei, ist der rote Faden seiner Argumentation, und allen Ernstes erklärt er: „Heimlichkeit und List, die den Giftmord vorbereiten, sind gern Eigenschaften der weiblichen Schwäche.“[4] Das Buch liest sich stellenweise so, als wirke der Hexenwahn einer schon weit zurückliegenden Epoche untergründig noch immer fort. Eine dieser Giftmordgeschichten, die schon genannte Erzählung Der Fall Vukobrankovics, hat den zeitweilig mit Kafka befreundeten Arztschriftsteller Ernst Weiß zum Verfasser. Eröffnet wird die Reihe mit Döblins Text Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord.




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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)