Medizin im literarischen Text

Krisen der Humanitätsidee auf dem Weg in die Moderne

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Unmittelbar nach Beginn der Diktatur im damaligen Deutschen Reich und bereits im Exil ist Bertolt Brecht mit der Gestalt des Naturforschers Galilei befaßt, den er auf die Bühne seines epischen Theaters zu bringen gedenkt. Der Galilei dieser ersten Fassung wird als eine Gelehrtengestalt konzipiert, die mit List gegenüber der Obrigkeit die eigene Wissenschaft über die finsteren Zeiten zu retten sucht. Aber unter dem Eindruck der auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben ändert Brecht seine Konzeption. Die neue Fassung findet ihren deutlichsten Ausdruck in der vierzehnten Szene. Der alt gewordene Galilei wirft sich vor, Möglichkeiten der neuzeitlichen Naturwissenschaft vertan zu haben, als er seinerzeit vor der Kurie widerrief. Im Text dieser Szene heißt es: „Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden!“ Natürlich ist die Bezugnahme auf diesen Eid nicht so zu verstehen, als käme es in moderner Medizin nur darauf an, Wort für Wort zu befolgen, was uns in diesem Textcorpus überliefert ist. Die Anmahnung des hippokratischen Eides ist in einem übertragenen Sinn gemeint. Sie zielt auf die Einheit rationaler Wissenschaft mit Formen humanen Denkens. Den Zerfall dieser Einheit reflektiert Brechts Galilei, wenn er sagt: „Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen aufzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit wegsein.“ Wissenschaft – und natürlich müssen wir heute sagen: Die Medizin nicht ausgenommen – ist spaltbar geworden, wie der Fortschritt sich gespalten hat: in einen solchen in wissenschaftlich-technischer Hinsicht und in einen anderen in Hinsicht auf die Idee des Menschen. Die Rede von den zwei Kulturen hat sehr viel mit dieser Spaltung zu tun.

Die bei Brecht dargestellte Dramatik der neuzeitlichen Naturwissenschaft, die in eine Katastrophe einmündet, kehrt in verwandter Weise in einem Text wieder, der gleichfalls gegen Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden ist. Die Rede ist von Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“. Zwar steht die neuzeitliche Naturwissenschaft nicht gleichermaßen im Vordergrund wie bei Brecht. Aber die Musik, um die es in erster Linie geht, steht hier für die Krise der modernen Kultur und des wissenschaftlichen Denkens im ganzen. Von dem, was sich spaltet und abgespalten hat, ist im Roman Thomas Manns wiederholt die Rede; und die Figur des Altphilologen Serenus Zeitblom zeigt an, daß der Humanismus alten Stils nicht mehr überzeugt. In einem Brief nach Abschluß des Romans hat Thomas Mann ausgeführt, daß es im „Doktor Faustus“ nicht nur um Deutschland gehe; in seinen Worten: „Zuletzt ist es der Roman der Epoche, die ich erlebt habe, und was sich in ihr ausdrückt, ist die Trauer über den Abfall dieser Epoche vom Humanen“.[1]




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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)